Wenn Kritik als Terrorpropaganda gilt
Der Deutsch-Türke Turgut Öker rechnet beim Prozess in der Türkei an diesem Donnerstag mit einer Verurteilung
ISTANBUL - Zwischen der Türkei und Deutschland könnte es bald neuen Ärger geben. Turgut Öker, ein führender Funktionär der Glaubensgemeinschaft der Aleviten mit deutschem und türkischem Pass, steht an diesem Donnerstag in Istanbul wegen angeblicher Verbreitung von Terrorpropaganda und Beleidigung von Präsident Recep Tayyip Erdogan vor Gericht. Schon seit dem vergangenen Jahr gilt für Öker eine Ausgangssperre. Der Fortsetzung seines Prozesses am Donnerstag sieht er pessimistisch entgegen, wie Öker der „Schwäbischen Zeitung“sagte: „Sie werden mich ins Gefängnis stecken, ich weiß nur nicht für wie lange.“
Ein Staatsanwalt in Istanbul legt dem Kölner mehrere Äußerungen aus den vergangenen Jahren zur Last: Öker hatte das Vorgehen der Behörden bei den Gezi-Protesten von 2013 kritisiert und gesagt, es sei kein Zufall, dass die damaligen Opfer von Polizeigewalt aus der alevitischen Minderheit stammten; die Aleviten beklagen eine Diskriminierung durch den türkischen Staat. Außerdem hielt Öker, der im Jahr 2015 für die pro-kurdische Partei HDP im türkischen Parlament saß, dem türkischen Staatschef Erdogan einen diktatorischen Regierungsstil vor.
In Deutschland, Frankreich und der Schweiz hatten Aleviten in den vergangenen Tagen mit Kundgebungen ihre Unterstützung für Öker bekundet, der Ehrenvorsitzender der Alevitischen Union Europa ist. Die Einschränkungen im Reiseverkehr wegen der CoronaPandemie verhindern jedoch, dass alevitische Delegationen aus Europa am Donnerstag an dem Prozesstermin in Istanbul teilnehmen können.
Das Vorgehen der türkischen Justiz gegen Deutsche und DeutschTürken belastet die Beziehungen zwischen Ankara und Berlin seit Jahren. Der frühere Türkei-Korrespondent der „Welt“, Deniz Yücel, der Berliner Menschenrechtler Peter Steudtner, die Journalistin Mesale Tolu und der Kölner Sozialarbeiter Adil Demirci verbrachten Monate in türkischer Haft. Seit 2018 sitzt der Hesse Patrick Kraicker eine sechsjährige Haftstrafe wegen versuchter Unterstützung der Kurdenmiliz YPG ab.
Auch die Kölner Sängerin Hozan Cane sitzt im Gefängnis; ihr Verfahren soll im August neu aufgerollt werden. Canes Tochter Gönül Örs steht in Istanbul ebenfalls vor Gericht. Sie reiste im vergangenen Jahr aus Deutschland in die Türkei, um ihre Mutter in der Haft zu besuchen – und wurde dabei ebenfalls vorübergehend festgenommen. Bei einer Verhandlung am Dienstag hoben die Richter den seit dem vergangenen Jahr geltenden Hausarrest für die Angeklagte auf.
Auch die elektronische Fußfessel kann sie ablegen, doch sie darf die Türkei weiterhin nicht verlassen. Erst im Oktober soll das Verfahren fortgesetzt werden.
Der Deutsch-Türkin Örs wird wegen der Teilnahme an einer Kundgebung in Köln vor acht Jahren jetzt „Terrorpropaganda“vorgeworfen. Die türkische Justiz stützt sich dabei auf Informationen des deutschen Bundeskriminalamtes. Zwar hatten die deutschen Behörden eigene Ermittlungen gegen Örs nach der Veranstaltung von 2012 eingestellt, doch der türkischen Justiz reichten die Hinweise für einen Prozess. „Die deutschen Behörden müssen lernen, dass sensible Daten an autoritär regierte Staaten so nicht mehr weitergegeben werden dürfen“, kritisierte der SPD-Menschenrechtspolitiker Frank Schwabe im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“.
Schwabe sagte, die Aufhebung des Hausarrests gegen Örs sei zwar eine Erleichterung, „aber nicht das gewünschte Ergebnis“. Örs sei unschuldig. „Sie darf nicht weiter ihrer Freiheit beraubt werden.“Die Kölner Grünen-Bundestagsabgeordnete Katharina Dröge kritisierte auf Twitter ebenfalls, es sei eine „Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien“, dass Örs nicht nach Deutschland heimkehren dürfe.