Keine Rudelbildung, bitte!
Eindrücke aus dem ICE – und von der ersten Premiere nach Wiedereröffnung der Kammerspiele München
MÜNCHEN - Jetzt dürfen sie doch noch! Nachdem Rheinland-Pfalz als erstes Bundesland die Theater wieder aus dem Lockdown entlassen hat, folgte nun auch Bayern. An den Kammerspielen München gab es nun den neuen Theatertext einer 26jährigen Autorin, die sehr schnell zur Nachwuchsautorin des Jahres gekürt wurde und letzte Spielzeit Hausautorin des Mannheimer Nationaltheaters war: Enis Macis „Wunde R“, das eigentlich schon zu Beginn der pandemischen Quarantäne auf dem Spielplan stand.
Bevor die Kammerspiele allerdings zeigen konnten, wie Theater in Zeiten von Corona funktioniert, gab es auf der Fahrt nach München eine Covid-19-Irritation der dümmlichen Art. Eine Vierergruppe, die die derzeit grassierende Pandemie ganz offensichtlich nicht zur Kenntnis nehmen wollte, feierte an einem der Tische im ICE-Abteil eine ganz eigene Ballermann-Party. Die Ingredienzien: Wein- und Bierflaschen, lautstarkes Prahlen mit Geschäftserfolgen, mit der Yacht im Mittelmeer, dem Porsche und dem Bentley, dann ein wieherndes Lachen, dessen viraler Sprayeffekt mindestens so hoch anzusetzen sein dürfte wie chorisches Singen – und das alles ohne Schutzmaske.
Die Reise im DB-Abteil dauerte drei Stunden, die Münchner Uraufführung später am Abend nur sechzig Minuten. Mehr ist in bayerischen Theatern derzeit nicht erlaubt. Und auch ansonsten betrat man einen öffentlichen Raum der perfekten Corona-Prävention. Die Ingredienzien hier: Eine Desinfektion der Hände, mindestens zwei Meter Sicherheitsabstand, eine Zuschauerzahl von maximal 18 Personen und eine krisenfeste Inszenierung. Sitzgelegenheiten gab es nicht, man suchte sich einen Platz auf dem Boden. Und selbst diejenigen, die umhergingen, konnten größtmögliche Distanzrouten wählen. Tendenzen einer Rudelbildung, wie man sie derzeit auf dem Rasen von Bundesligastadien sieht, sind nicht zu vermelden.
Das gilt auch für die drei Schauspielerinnen und den Schauspieler, die in gebührenden Abstand zueinander um einen großen Glastisch in der Mitte des Raumes saßen. Ein Kreidekreis markierte die Distanz, bis zu der man sich als Zuschauer nähern durfte. Man war Teil einer Ganzraum-Inszenierung mit vereinzelten Theaterwesen: im äußeren Kreis versprengte Zuschauer und in der Mitte Zeynep Bozbay, Eva Löbau, Vincent Redetzki und Julia Windischbauer, die mit ihrer Stimme und ihrem Körper Macis „Wunde R“umspielten, als seien sie virtuell gezeugte Spielfiguren. Die steril wirkenden Aliens fixierten sich gegenseitig oder blickten ins Leere, bevor sie dann doch von plötzlichen Emotionswallungen geschüttelt wurden. Oder emotionslos zur Kenntnis nahmen, wie all die Eistörtchen zusammenschmolzen, die die Bühnenbildnerin Katharina Pia Schütz als Zugabe auf den großen Glastisch gestellt hatte.
All das passte gut zu einem Text, der vom Mittelalter bis in die Gegenwart und von Fitness-Bloggerinnen und YouTube-Influencerinnen bis hin zur Königswitwe Elisabeth von Thüringen oder zu Rahaf Mohammed al-Kunun einen Bogen schlug. Deren Flucht aus Saudi-Arabien sorgte für Schlagzeilen. Die 18-Jährige saß in Thailand fest, bevor Kanada ihr Asyl gewährte. Für besonderes Aufsehen sorgten ihre Tweets, mit denen sie der Welt einen Eindruck davon vermittelte, wie sie in der repressiven Sharia-Monarchie von männlichen Verwandten schikaniert und mit dem Tod bedroht wurde.
Maci, die seit „Eiscafé Europa“(Suhrkamp Verlag) auch als exzellente Essayistin bekannt ist, verwandelt Internetrecherchen in literarische Texte. In „Wunde R“umspielt sie weibliche Rollenzuschreibungen und den Versuch, sich diesen Zuschreibungen zu entledigen. Der Titel ist Programm. Im Zentrum stehen Frauenschicksale, die von Posen einer demütigen Selbstaufgabe bis hin zu Akten einer kraftvollen Selbstermächtigung reichen. Immer wieder ist da diese Wunde „Frau“, dann wieder dieses Wunder „Frau“.
Dass Regisseur Felix Rothenhäusler dem Ganzen eine ComputerspielÄsthetik mit abgehackten Bewegungen und verzerrten Stimmen verordnet hat, stört auf keinen Fall. Im Gegenteil: Die inszenierte Rauminstallation mit Zuschauern, die als Forscher unterwegs sind, funktioniert als coronasicheres Theater und als Metapher für ein Gefängnis, in dem Frauen festsitzen und so Pikantes formulieren können wie: „nennt mich: / die vereinigten staaten von amerika denn auch ich / befinde mich seit jahren schon / im ausnahmezustand.“