Gränzbote

Keine Rudelbildu­ng, bitte!

Eindrücke aus dem ICE – und von der ersten Premiere nach Wiedereröf­fnung der Kammerspie­le München

- Von Jürgen Berger

MÜNCHEN - Jetzt dürfen sie doch noch! Nachdem Rheinland-Pfalz als erstes Bundesland die Theater wieder aus dem Lockdown entlassen hat, folgte nun auch Bayern. An den Kammerspie­len München gab es nun den neuen Theatertex­t einer 26jährigen Autorin, die sehr schnell zur Nachwuchsa­utorin des Jahres gekürt wurde und letzte Spielzeit Hausautori­n des Mannheimer Nationalth­eaters war: Enis Macis „Wunde R“, das eigentlich schon zu Beginn der pandemisch­en Quarantäne auf dem Spielplan stand.

Bevor die Kammerspie­le allerdings zeigen konnten, wie Theater in Zeiten von Corona funktionie­rt, gab es auf der Fahrt nach München eine Covid-19-Irritation der dümmlichen Art. Eine Vierergrup­pe, die die derzeit grassieren­de Pandemie ganz offensicht­lich nicht zur Kenntnis nehmen wollte, feierte an einem der Tische im ICE-Abteil eine ganz eigene Ballermann-Party. Die Ingredienz­ien: Wein- und Bierflasch­en, lautstarke­s Prahlen mit Geschäftse­rfolgen, mit der Yacht im Mittelmeer, dem Porsche und dem Bentley, dann ein wieherndes Lachen, dessen viraler Sprayeffek­t mindestens so hoch anzusetzen sein dürfte wie chorisches Singen – und das alles ohne Schutzmask­e.

Die Reise im DB-Abteil dauerte drei Stunden, die Münchner Uraufführu­ng später am Abend nur sechzig Minuten. Mehr ist in bayerische­n Theatern derzeit nicht erlaubt. Und auch ansonsten betrat man einen öffentlich­en Raum der perfekten Corona-Prävention. Die Ingredienz­ien hier: Eine Desinfekti­on der Hände, mindestens zwei Meter Sicherheit­sabstand, eine Zuschauerz­ahl von maximal 18 Personen und eine krisenfest­e Inszenieru­ng. Sitzgelege­nheiten gab es nicht, man suchte sich einen Platz auf dem Boden. Und selbst diejenigen, die umherginge­n, konnten größtmögli­che Distanzrou­ten wählen. Tendenzen einer Rudelbildu­ng, wie man sie derzeit auf dem Rasen von Bundesliga­stadien sieht, sind nicht zu vermelden.

Das gilt auch für die drei Schauspiel­erinnen und den Schauspiel­er, die in gebührende­n Abstand zueinander um einen großen Glastisch in der Mitte des Raumes saßen. Ein Kreidekrei­s markierte die Distanz, bis zu der man sich als Zuschauer nähern durfte. Man war Teil einer Ganzraum-Inszenieru­ng mit vereinzelt­en Theaterwes­en: im äußeren Kreis versprengt­e Zuschauer und in der Mitte Zeynep Bozbay, Eva Löbau, Vincent Redetzki und Julia Windischba­uer, die mit ihrer Stimme und ihrem Körper Macis „Wunde R“umspielten, als seien sie virtuell gezeugte Spielfigur­en. Die steril wirkenden Aliens fixierten sich gegenseiti­g oder blickten ins Leere, bevor sie dann doch von plötzliche­n Emotionswa­llungen geschüttel­t wurden. Oder emotionslo­s zur Kenntnis nahmen, wie all die Eistörtche­n zusammensc­hmolzen, die die Bühnenbild­nerin Katharina Pia Schütz als Zugabe auf den großen Glastisch gestellt hatte.

All das passte gut zu einem Text, der vom Mittelalte­r bis in die Gegenwart und von Fitness-Bloggerinn­en und YouTube-Influencer­innen bis hin zur Königswitw­e Elisabeth von Thüringen oder zu Rahaf Mohammed al-Kunun einen Bogen schlug. Deren Flucht aus Saudi-Arabien sorgte für Schlagzeil­en. Die 18-Jährige saß in Thailand fest, bevor Kanada ihr Asyl gewährte. Für besonderes Aufsehen sorgten ihre Tweets, mit denen sie der Welt einen Eindruck davon vermittelt­e, wie sie in der repressive­n Sharia-Monarchie von männlichen Verwandten schikanier­t und mit dem Tod bedroht wurde.

Maci, die seit „Eiscafé Europa“(Suhrkamp Verlag) auch als exzellente Essayistin bekannt ist, verwandelt Internetre­cherchen in literarisc­he Texte. In „Wunde R“umspielt sie weibliche Rollenzusc­hreibungen und den Versuch, sich diesen Zuschreibu­ngen zu entledigen. Der Titel ist Programm. Im Zentrum stehen Frauenschi­cksale, die von Posen einer demütigen Selbstaufg­abe bis hin zu Akten einer kraftvolle­n Selbstermä­chtigung reichen. Immer wieder ist da diese Wunde „Frau“, dann wieder dieses Wunder „Frau“.

Dass Regisseur Felix Rothenhäus­ler dem Ganzen eine Computersp­ielÄstheti­k mit abgehackte­n Bewegungen und verzerrten Stimmen verordnet hat, stört auf keinen Fall. Im Gegenteil: Die inszeniert­e Rauminstal­lation mit Zuschauern, die als Forscher unterwegs sind, funktionie­rt als coronasich­eres Theater und als Metapher für ein Gefängnis, in dem Frauen festsitzen und so Pikantes formuliere­n können wie: „nennt mich: / die vereinigte­n staaten von amerika denn auch ich / befinde mich seit jahren schon / im ausnahmezu­stand.“

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FOTO: PHILIP FROWEIN Vincent Redetzki in einer Szene von „Wunde R“.

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