Gränzbote

Kernkraft spaltet Garching

In der Nähe von München steht der leistungss­tärkste Forschungs­reaktor Deutschlan­ds – Doch das Misstrauen gegenüber FRM II wächst, vor allem nachdem bei einem Zwischenfa­ll Radioaktiv­ität ausgetrete­n ist

- Von Patrik Stäbler

- Zur Feier des Tages kam eine „Atom-Mahlzeit“auf den Tisch: Auf „Vorfluterb­rühe mit Kerneinlag­e“(Leberknöde­lsuppe) folgten „Uranstäbe“(Weißwürste), die mit „radioaktiv­em Kühlwasser“(Bier) herunterge­spült wurden. Und zum Dessert gab’s für die 200 Ehrengäste um Ministerpr­äsident Wilhelm Hoegner „Garchinger Gammadunst“– vulgo: Käse.

Anlass für dieses strahlende Festmenü im Januar 1957 war die Hebfeier des Forschungs­reaktors München (FRM), der alsbald unter dem Namen Atom-Ei firmierte – wegen seiner mit Aluminium verkleidet­en Kuppel. Das markante Gebäude beheimatet­e den ersten Forschungs­reaktor Deutschlan­ds, der nördlich der bayerische­n Landeshaup­tstadt im Vorort Garching auf der grünen Wiese gebaut wurde. Die eigenartig­e Namensgebu­ng beim Festessen zeugt davon, dass die Einstellun­g zur Kernenergi­e damals noch eine andere war. In Zeiten nach Tschernoby­l, Fukushima und dem Atomaussti­eg würde man heute wohl auch in Garching nicht mehr mit „radioaktiv­em Kühlwasser“anstoßen. Wobei: Nach Feiern ist beim Forschungs­reaktor München II (FRM II) zurzeit ohnehin niemanden zumute. Denn der 2004 in Betrieb gegangene Nachfolger des Atom-Eis sieht sich aktuell heftiger Kritik ausgesetzt.

Jüngster Anlass ist ein Mitte Mai publik gewordener Zwischenfa­ll, bei dem radioaktiv­es C-14 ausgetrete­n ist. Wegen eines „Bedienfehl­ers“, so eine Sprecherin des FRM II, gelangte bei Wartungsar­beiten mehr Radioaktiv­ität in die Luft als erlaubt. Der in der Genehmigun­g des Reaktors festgelegt­e Jahresgren­zwert von C-14 sei um 15 Prozent überschrit­ten worden. Das bayerische Umweltmini­sterium teilt dazu mit: „Die Sicherheit der Bevölkerun­g und der Umwelt waren bei dem Ereignis zu keinem Zeitpunkt gefährdet.“

Die Kritiker des Reaktors kann dies nicht besänftige­n. „Es drängt sich der Verdacht auf, dass wir es mit einem wiederholt­en systembedi­ngten Fehler beim Betrieb und der Wartung des Atommeiler­s zu tun haben“, klagt Ludwig Hartmann, Grünen-Fraktionsc­hef im bayerische­n Landtag. „Wir fordern deshalb erstens Aufklärung und zweitens bis auf Weiteres ein Betriebsve­rbot für den Forschungs­reaktor.“Dieser steht seit Mitte März jedoch ohnehin still – wegen der Corona-Pandemie. Für ein Wiederhoch­fahren des Reaktors muss nun infolge des Zwischenfa­lls das Umweltmini­sterium grünes Licht geben.

Dass der FRM II aktuell ruht, passt zu dem Bild, das sich seinen Besuchern dieser Tage zeigt. So ist auf dem Weg zum Reaktorgel­ände kaum eine Menschense­ele zu sehen – dabei wuselte es hier in Vor-Corona-Zeiten noch wie im Ameisenhau­fen. Denn der FRM II und sein Nachbar, das Atom-Ei, stehen längst nicht mehr auf der grünen Wiese. Vielmehr hat sich nördlich von Garching auf circa 190 Hektar Fläche in den vergangene­n Jahrzehnte­n eines der größten Wissenscha­ftszentren in Deutschlan­d entwickelt. Unter anderem ist die Technische Universitä­t München (TUM) mit mehreren Fakultäten vertreten, ein Fraunhofer­und vier Max-Planck-Institute haben auf dem Gelände ihren Sitz, dazu das Leibniz-Rechenzent­rum mit seinem Supercompu­ter SuperMUC, die Europäisch­e Südsternwa­rte sowie zig weitere Einrichtun­gen. Auch General Electric unterhält hier ein Forschungs­zentrum, SAP und Siemens sollen demnächst folgen. Insgesamt verkehren an pandemiefr­eien Tagen mehr als 17 000 Studenten und 7500 Beschäftig­te auf dem Garchinger Forschungs­campus, dessen Keimzelle dereinst das 2000 abgeschalt­ete Atom-Ei war.

Sein Nachfolger befindet sich direkt neben der denkmalges­chützten Aluminiumk­uppel. Rund um das Gelände steht ein massiver Zaun; das Reaktorgeb­äude selbst ist mit einer 1,80 Meter dicken Betonhülle ummantelt, die laut Angaben des Betreibers sogar dem Aufprall eines Passagierf­lugzeugs standhalte­n würde. Östlich des Geländes plätschert die Isar dahin, in die der Reaktor sein potenziell schwach radioaktiv­es Abwasser einleiten darf. Die entspreche­nde Genehmigun­g wurde kürzlich um 20 Jahre verlängert, obwohl Umweltschü­tzer und Anwohner dagegen protestier­t hatten und mehr als 1400 Einwendung­en beim zuständige­n Landratsam­t eingegange­n waren.

Betrieben wird der FRM II von der TUM, genutzt wird er jedoch auch von Forschern aus aller Welt sowie der Industrie. Etwa 1200 Wissenscha­ftler – vom Physiker bis zum Mediziner – führen hier jedes Jahr Experiment­e mit Neutronens­trahlen durch. Diese können Materialie­n zerstörung­sfrei durchdring­en und somit Aufschluss über deren Aufbau und Eigenschaf­ten geben. Beispielsw­eise durchleuch­ten Forscher mithilfe der Neutronen die Batterien von Elektroaut­os, ohne sie aufzubrech­en. Oder sie untersuche­n die Struktur von Proteinen, um Medikament­e zu entwickeln. Oder sie blicken in die Fossilien von Dinosaurie­r-Eiern, wie es kürzlich Paläontolo­gen der Universitä­t Bonn getan haben. Das „wohl bedeutends­te Forschungs­großgerät im Freistaat“– so nannte

2018 die damalige Wissenscha­ftsministe­rin Marion Kiechle den FRM II.

Dessen Neutronens­trahlen werden durch die Kernspaltu­ng von Uran erzeugt. Das Metall besteht in den Brenneleme­nten des Reaktors zu 93 Prozent aus dem leicht spaltbaren Isotop Uran-235, weshalb man von hochangere­ichertem Uran (HEU) spricht. Das wiederum gilt als potenziell waffentaug­lich, und genau hier setzt die Kritik vieler Reaktorgeg­ner an. Es sei ein „Skandal“, findet die Grünen-Atomexpert­in Sylvia Kotting-Uhl, dass der FRM II „weiterhin mit atomwaffen­fähigem Material betrieben wird“. Und der Verein Umweltinst­itut München, der sich gegen Kernkraft einsetzt, schreibt in einem offenen Brief an Ministerpr­äsident Markus Söder: „Am Forschungs­reaktor FRM II in Garching lagern über 300 Kilogramm hoch angereiche­rtes Uran in Form von frischen und abgebrannt­en Brenneleme­nten. Sollte dieses in die falschen Hände geraten, könnte es für den Bau von mehr als 50 Atombomben missbrauch­t werden.“

Dieses von Reaktorgeg­nern oft gezeichnet­e Schreckens­szenario weist der FRM II indes als „wissenscha­ftlich nicht haltbar“zurück. Um aus den Brenneleme­nten kernwaffen­fähiges Material zu gewinnen, brauche es „komplexe physikalis­che und chemische Verfahren“. Dessen ungeachtet sollte der Forschungs­reaktor eigentlich längst auf niedriger angereiche­rtes

Uran umgestellt sein – allein es fehlt immer noch ein geeigneter Brennstoff. Dabei hieß es 2003 in der Betriebsge­nehmigung, dass eine Umrüstung bis 2010 erfolgen soll. Später wurde daraus 2018, noch später vereinbart­en Bund und Freistaat eine abermalige Verlängeru­ng ohne konkretes Zieldatum.

Laut FRM II soll der Prototyp eines neuen Brennstoff­s mit einer Anreicheru­ng von 19,75 Prozent Anfang 2021 hergestell­t werden und 2022 in Produktion gehen. Derweil läuft der Reaktor bis heute mit HEU, wogegen der Bund Naturschut­z in Bayern nun juristisch vorgeht. Er hat Anfang Juni eine Klage gegen den „illegalen Weiterbetr­ieb“des FRM II eingereich­t und beruft sich dabei auf ein Gutachten, wonach dessen Genehmigun­g ausgelaufe­n sei. Selbige nennt ein Sprecher des Umweltmini­steriums dagegen „bestandskr­äftig und rechtsgült­ig“. Und er betont: „Der Forschungs­reaktor erfüllt die hohen atom- und umweltrech­tlichen Sicherheit­sanforderu­ngen.“

Unabhängig von der Klage und auch bei grünem Licht aus dem Umweltmini­sterium könnte dem FRM II alsbald eine erneute Zwangspaus­e drohen. Grund hierfür ist ein Engpass im Abklingbec­ken, wo die ausgebrann­ten Brenneleme­nte nach ihrem 60tägigen Einsatz im Reaktor unter Wasser gelagert werden. Dort sind aktuell 47 von 50 Plätzen belegt, also nur noch drei frei. Um neuen Platz zu schaffen, sollen ausgebrann­te Brenneleme­nte ins Zwischenla­ger Ahaus gebracht werden. Aktuell laufe das Genehmigun­gsverfahre­n, berichtet die FRM-IISprecher­in. Wann die ersten Castortran­sporte durch Garching rollen werden, lasse sich noch nicht sagen. Doch schon jetzt haben Atomgegner im westfälisc­hen Ahaus und in Garching Proteste angekündig­t.

„Wir fordern Aufklärung und bis auf Weiteres ein Betriebsve­rbot für den Forschungs­reaktor.“

Ludwig Hartmann, Grünen-Fraktionsc­hef im Bayerische­n Landtag

 ?? FOTO: IMAGO IMAGES ?? Der Forschungs­reaktor FRM II und sein betagter Nachbar, das Atom-Ei, stehen längst nicht mehr auf der grünen Wiese. Auf dem Gelände an der Technische­n Universitä­t Garching nahe München wird auf vielen Feldern geforscht. Wegen der Corona-Pandemie steht der Reaktor derzeit allerdings still.
FOTO: IMAGO IMAGES Der Forschungs­reaktor FRM II und sein betagter Nachbar, das Atom-Ei, stehen längst nicht mehr auf der grünen Wiese. Auf dem Gelände an der Technische­n Universitä­t Garching nahe München wird auf vielen Feldern geforscht. Wegen der Corona-Pandemie steht der Reaktor derzeit allerdings still.
 ?? FOTO: KLAUS-DIETER HEIRLER/DPA ?? Damals war die Euphorie noch groß: 1957 entstand der Forschungs­reaktor in Garching. Er erhielt damals gerade seinen atomaren Kern, der aus den USA geliefert wurde, was hier an einem Modell erläutert wird. Der Kuppelbau wird wegen seiner Form auch Atom-Ei genannt.
FOTO: KLAUS-DIETER HEIRLER/DPA Damals war die Euphorie noch groß: 1957 entstand der Forschungs­reaktor in Garching. Er erhielt damals gerade seinen atomaren Kern, der aus den USA geliefert wurde, was hier an einem Modell erläutert wird. Der Kuppelbau wird wegen seiner Form auch Atom-Ei genannt.

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