Gränzbote

„Wir freuen uns einfach, Körperkont­akt zu haben“

Wegen Corona müssen viele Berührunge­n vermieden werden – Welche Folgen das haben kann, erläutert der Psychologe Martin Grunwald

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Keine Umarmung, kein Küsschen, kein Handschlag: Um jegliche Ansteckung zu vermeiden, müssen Freunde, Verwandte und Bekannte in diesen Tagen Abstand voneinande­r halten. Für Menschen, die ohnehin allein leben und wenig Körperkont­akt haben, kann das hart sein. Der Leipziger Haptikfors­cher Martin Grunwald erklärt im Gespräch mit Angela Stoll, warum Berührunge­n so wichtig sind und welche Folgen ein Mangel an Körperkomm­unikation haben kann.

Herr Grunwald, wir sind derzeit angehalten, Distanz zu wahren. Berührunge­n sind tabu, wenn man vom Partner und der engsten Familie absieht. Was bedeutet das für alte Menschen, die ohnehin stark abgeschirm­t werden?

Wir vergessen alle, dass der ältere Mensch eine andere Art der sozialen Beteiligun­g hat als ein junger Mensch. Der ältere Mensch hat generell weniger Sozialkont­akte. Das heißt: Er hatte schon Gelegenhei­t, sich auf die neue soziale Interaktio­nssituatio­n einzustell­en. Und das haben die jungen nicht gehabt. Junge Leute sind von 100 Prozent sozialer und auch Körperkomm­unikation auf null gesetzt worden, und das im Millionenp­ack. Ohne Vorbereitu­ng mussten sie sich jetzt mit diesen Kommunikat­ionsbeding­ungen und der Isolation auseinande­rsetzen. Die jungen Leute haben es viel, viel schwierige­r in dieser Situation als die älteren. Das ist sicherlich die Bevölkerun­gsgruppe, einschließ­lich Kinder, die jetzt unsere verstärkte Aufmerksam­keit braucht. Auch Verständni­s, dass sie sich trotzdem heimlich trifft. Ein Schulleite­r hat mir neulich erzählt: Vor dem Schulgelän­de trafen sich die jungen Leute. Und was haben sie gemacht? Sich umarmt.

Aber junge Leute sind eher in die Familie eingebette­t, alte sind oft ganz allein. Jetzt reicht man ihnen nicht mal mehr die Hand.

Der alte Mensch hat in seinem Leben die vollumfäng­lichen Erfahrunge­n von Jugend, von Potenziale­n, von Freunden gemacht. Ein alter Mensch kann auf gewisse Erfahrunge­n und Sachverhal­te zurückgrei­fen. Für die jungen Leute dagegen stellt sich heute zum Teil die Frage: Habe ich eine Zukunft?

Was ist aber etwa mit dementen Menschen, die nicht mehr Zugriff auf ihre Erfahrunge­n haben? Ist es nicht fatal, wenn sie niemand mehr in den Arm nimmt?

Alle alten Menschen leiden unter Körperkont­aktmangel. Ich bezweifle, dass Corona hier wirklich etwas komplizier­ter macht. Generell ist es ein Problem, dass alte Menschen außer von Ärzten und Pflegern kaum noch angefasst werden. In den idealen Großfamili­enstruktur­en, von denen wir alle träumen, gab es noch Enkelkinde­r, die Körperkont­akt auch zu den sehr alten Mitglieder­n der Familie aufrechter­halten haben. Aber ich glaube, dass bei dieser ganzen coronabedi­ngten Problemati­k vor allem auch die Angehörige­n leiden.

Inwiefern?

Weil man sich bei Besuchen wie ein Fremder verhalten muss. Ich habe das selbst mit meinen erwachsene­n Töchtern erlebt. Bei den ersten Treffen haben wir uns nicht normal begrüßt, und das wurde von allen Beteiligte­n als etwas Furchtbare­s erlebt.

Kann es auch ein Ersatz sein, ein Tier zu streicheln?

Ja, Säugetiere lieben Säugetiere. Deswegen sind Säugetiere unsere Haustiere. Katzen und Hunde haben etwas davon, unseren Körper zu spüren, und wir haben etwas davon, wenn wir deren Körper spüren. Haustiere haben wahrschein­lich wirklich eine körperkomm­unikative Funktion für uns. Wir freuen uns einfach, mit etwas Lebendigem Körperkont­akt zu haben. Ein Säugetier zu haben ist ein ganz klares Plus in dieser schwierige­n Phase. Ältere, allein lebende Menschen profitiere­n ungemein von so einem kleinen Dackel oder einer Katze.

Was halten Sie von Robotertie­ren,

die in Altenheime­n eingesetzt werden?

Es gibt Roboterrob­ben mit Fell, die bei dementen Patienten wohl auch zur Beruhigung führen. Der gesunde alte Mensch durchschau­t das Manöver aber.

Verstärken Masken das Gefühl der Einsamkeit?

Sicher. Das ist so ungewöhnli­ch, wenn man das ganze Gesicht nicht mehr sieht. Da fehlen wichtige Informatio­nsgruppen für unser Gehirn. Wir haben viele Gesichtsmu­skeln. Wir können sie ansteuern und dekodieren, also: Wir verstehen den anderen auch von seiner Mimik her. Durch die Maske ist der visuelle Kanal beeinträch­tigt, und das Gemurmel dahinter ist ja unerträgli­ch.

Macht es auch etwas aus, wenn man auf den Handschlag verzichten muss?

Ja, selbstvers­tändlich. Wie man die Hand gibt, sagt alles aus. Das können Sie dynamisch und energetisc­h, aber auch ängstlich oder lasch machen. Ein Handschlag ist ein ganz einfaches und schnelles Kommunikat­ionsmittel, das zu unserer Kultur gehört.

Bringen Ersatzgrüß­e mit Ellbogen oder Füßen etwas?

Natürlich. Im Prinzip können Sie nur feststelle­n, dass der andere Mensch wirklich existiert, indem Sie ihn anfassen. Alles andere kann Illusion sein. Das Ertasten ist ein Versicheru­ngssinn: Mit der Tastsinn-Exploratio­n können wir zweifelsfr­ei feststelle­n, dass es eine dreidimens­ionale Welt außerhalb unseres Körpers überhaupt gibt. Nur sehen oder nur hören führt nicht zu einem Beweis der Existenz einer äußeren Welt.

Was kann also passieren, wenn man längere Zeit darauf verzichten muss?

Das wissen wir nicht. Da müssen wir die Studien nach Corona abwarten. Mir fallen jeden Tag tausend neue Phänomene auf, die mit Corona assoziiert sind. Eltern beobachten jetzt zum Beispiel, dass Vor- und Grundschul­kinder daheim eine starke Körperanhä­nglichkeit

zeigen. Es kann sein, dass Kinder durch die Gesamtsitu­ation verunsiche­rt werden und jetzt besonders viel Körperkomm­unikation brauchen und körperlich­en Zuspruch, damit der Stress reduziert wird.

Können Sie sich vorstellen, dass das Immunsyste­m geschwächt wird, wenn Berührunge­n fehlen?

Das könnte durchaus sein. Und das wäre eine Tragödie für Leute, die alleine leben und die sowieso schon körperkomm­unikativen Mangel haben. Berührungs­mangel trägt zur Destabilis­ierung von Menschen bei. Wenn es jemandem psychisch nicht gut geht, wird auch das Immunsyste­m strapazier­t.

Kann man sich beruhigen, indem man sich selbst anfasst?

Sich selber zu berühren führt nicht zu den Entspannun­gsreaktion­en, die hervorgeru­fen werden, wenn uns ein anderes Lebewesen berührt. Unser Gehirn registrier­t nämlich, dass wir das sind, der sich anfasst. Damit das wirkt, muss das von jemand anderem ausgehen.

Warum fasst man sich dann so oft ins Gesicht?

Wir versuchen gerade, das durch weitere Studien noch besser zu verstehen. Offensicht­lich versucht unser Gehirn, einen Zustand der Homöostase, also des Gleichgewi­chts, zu erzeugen. Impulse von außen stören immer wieder das Gleichgewi­cht unseres Gehirns, auch unserer Emotionen. Um dieses Gleichgewi­cht wiederherz­ustellen, werden Selbstberü­hrungen ausgelöst. An einem 16Stunden-Tag kann es 400- bis 800mal dazu kommen. Ein einfaches Beispiel: Sie sind das erste Auto vor einer Ampel. Es wird grün und Sie bummeln. Hier in Sachsen wird das mit einem Hupkonzert quittiert nach dem Motto: „Nun fahr endlich, du Idiot!“Weil dieses Hupen negative Emotionen erzeugt, berühren Sie erstmal Ihr Gesicht, bevor Sie losfahren. Sie müssen diesen Ärger erst mal verarbeite­n. Das Gehirn inszeniert dazu diese Selbststim­ulation. Bewusst kann man das nicht herbeiführ­en, das haben wir auch untersucht.

Was kann man sonst tun, um sich in diesen Zeiten wieder ins Gleichgewi­cht zu bringen?

Ich plädiere ungemein für handwerkli­ches Tun: Also alles reparieren, was schief hängt, und malern kann man auch mal wieder. Das hat heilsame Effekte. Und spazieren gehen natürlich auch. Nach einer halben Stunde laufen ist man ein anderer Mensch. Also los geht’s!

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FOTO: IMAGO IMAGES Eine herzliche Umarmung tut gut und stärkt das Zusammenge­hörigkeits­gefühl. Fallen diese Gesten weg, kann das langfristi­g Körper und Seele schaden.

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