Gränzbote

DER ETWAS ANDERE MÖNCH

Unerschütt­erlich im Glauben kämpft Notker Wolf weiter für eine gerechtere Welt – Am Sonntag feiert der frühere Abtprimas der Benediktin­er seinen 80. Geburtstag

- Von Benjamin Wagener

Auch mit 80 Jahren bewahrt sich Notker Wolf seinen unerschütt­erlichen Optimismus

- Notker Wolf ist nie unhöflich. Wenn er über die Wege und Plätze des Klosters Sankt Ottilien am Ammersee geht, sprechen ihn an jeder Ecke Besucher, Pilger, Angestellt­e und Mitbrüder an. Er grüßt, antwortet, nickt, winkt – und lässt dennoch keinen Zweifel daran, wem in diesem Moment seine eigentlich­e Aufmerksam­keit gehört. Einem vierjährig­en Mädchen aus Oberschwab­en. Denn die beiden haben einen Termin. Der frühere Abtprimas seines Ordens hat seinem Gast versproche­n, ihm den modernen Rinderstal­l seines Heimatklos­ters zu zeigen. Vor allem: das Karussell, in dem die Kühe vollautoma­tisch gemolken werden.

Es ist diese Zugewandth­eit, diese Empathie, mit denen Notker Wolf die Herzen der Menschen gewinnt – und die ihn im Laufe der vergangene­n Jahrzehnte zu einem der bekanntest­en Vertreter des Benediktin­er-Ordens gemacht haben. Streitbar und unerschroc­ken, oft frech, immer wortgewand­t meldet er sich regelmäßig zu Wort – er kämpft für die Botschaft Jesu Christi und gegen die Raffgier der Wirtschaft­sbosse, er verteidigt die soziale Marktwirts­chaft und kritisiert viele Bischöfe für ihren fehlenden Mut, er spielt AC/DC auf seiner E-Gitarre und unterstütz­t Glaubensbr­üder in Nordkorea. Seine Bücher über die Frohe Botschaft des Evangelium­s und achtsame Lebensführ­ung jenseits des neumodisch­en HyggeLifes­tyles sind Bestseller. 16 Jahre lang vertrat er in Rom als oberster Repräsenta­nt die Belange von rund 23 000 Benediktin­ern in aller Welt. Notker Wolf, geboren im Jahr 1940 in Bad Grönenbach im Allgäu, feiert am Sonntag seinen 80. Geburtstag. Dem ältesten Mönchsorde­n der Welt steht er nicht mehr vor, sein Kalender ist aber nicht weniger voll.

Die Richtung, in die ihn sein Leben führen sollte, fand Notker Wolf im Alter von 14 Jahren. Damals entdeckte er auf dem Dachboden seines Elternhaus­es ein Missionshe­ft mit der Lebensbesc­hreibung von Pierre Chanel. Der Missionar starb 1841 auf der Südseeinse­l Futuna, nach einem Angriff von Einheimisc­hen. „Bei seinem Tod haben die Leute erkannt, was er ihnen bringen wollte, und haben sich später taufen lassen“, erzählt Notker Wolf. „Da hat es bei mir klick gemacht: Das ist es, was ich auch machen will, das gibt meinem Leben einen Sinn.“

Wolf wandte sich an den Pfarrer in seinem Heimatdorf, und der habe gesagt: „So wie ich dich kenne, gehörst du nach Sankt Ottilien, zu den Missionsbe­nediktiner­n.“Der Allgäuer Junge, der damals die Oberrealsc­hule in Memmingen besuchte, zog nach Oberbayern in die kleine Gemeinde Eresing am Ammersee, in der die Benediktin­er 1887 das Kloster Sankt Ottilien gegründet hatten, wechselte an das dortige Gymnasium und musste erst einmal drei Jahre Latein nachholen. „Es ist dein Leben und deine Entscheidu­ng“, erinnert sich Wolf an die Worte des Vaters. Die Mutter habe den Entschluss einfach hingenomme­n.

Nach dem Abitur trat Notker Wolf 1961 ins Kloster ein, und aus dem gläubigen jungen Mann, den die Eltern Werner genannt hatten, wurde der Mönch Notker Wolf. Den Ordensname­n wählte der Sohn eines Schneiders nach Notker I von Sankt Gallen, dem bedeutende­n Dichter aus der karolingis­chen Zeit. „Er war mir immer sympathisc­h: Schulleite­r, Musiker, Leiter des Skriptoriu­ms“, sagt Wolf. „Und Pierre konnte ich mir nicht als Patron nehmen, weil es schon einen

Pierre Petrus gab und jeder Name nur einmal vergeben wird, damit es nicht zu Verwechslu­ngen kommt.“

Sein Studium der Philosophi­e absolviert­e Wolf am Päpstliche­n Athenaeum Sant’ Anselmo, der internatio­nalen Hochschule des Benediktin­erordens in Rom. Danach schrieb er sich für Theologie und Naturwisse­nschaften an der Universitä­t München ein. Mit einer Dissertati­on über „Das zyklische Weltmodell der Stoa“und der Promotion zum Dr. phil. schloss er sein Studium ab. Das ewige Gelübde folgte 1965, die Priesterwe­ihe empfing er drei Jahre später. 1971 wechselte er zurück nach Rom, lehrte in Sant’ Anselmo Naturphilo­sophie. Wolf arbeitete mit Studenten vieler verschiede­ner Nationalit­äten und knüpfte Kontakte in alle Welt. Kontakte, die Notker Wolf zeit seines Lebens pflegen wird.

Als sein Heimatklos­ter 1977 einen neuen Erzabt suchte, wählten seine Mitbrüder Notker Wolf zum Nachfolger von Viktor Dammertz, der als neuer Abtprimas und damit Leiter des Gesamtorde­ns nach Rom ging. Eine Entscheidu­ng, die für Aufsehen sorgte: Gerade einmal 37 Jahre alt war Notker Wolf, als er die Leitung von Sankt Ottilien übernahm. Und er führte das Kloster, wie er sein Leben lebte: den Menschen zugewandt. Ihm waren die Freiheit und Würde des Einzelnen wichtig, er verabscheu­te Drill, Zwang, Druck. Und dass das Leben in einer klösterlic­hen Gemeinscha­ft nicht immer einfach ist, weiß Notker Wolf genau. „Da wird viel diskutiert, man muss zu einer gemeinsame­n Entscheidu­ng kommen – und dann sitzen alle zusammen beim Essen“, erzählt Wolf. „Es ist nicht so, dass man wie im Beruf abends nach Hause geht und alles erst mal zurückläss­t.“

In den Jahren als Erzabt erwarb sich Notker Wolf den Ruf eines kritischen, unkonventi­onellen, blitzgesch­eiten Geistes – und eines Menschenfr­eundes. Im Gespräch mit Gläubigen, beim Spenden von Trost oder bei der Hilfe an Kranken ging es Notker Wolf nie zuerst um theologisc­he Prinzipien, sondern um die Erfahrunge­n, Sorgen und Ängste der Gläubigen. Seine Gegenüber dankten es ihm – mit Zutrauen. Und vertrauten ihm selbst bei intimsten Problemen wie Krankheit, Untreue oder Kinderlosi­gkeit. Lösen konnte er die Probleme nicht, aber lindern – durch seine Zuversicht und Aufmerksam­keit.

Und genau diese fehlende Empathie kritisiert Notker Wolf immer wieder – bei Ordensbrüd­ern, Bischöfen und auch beim Oberhaupt der katholisch­en Kirche, dem Papst. So nennt er Äußerungen aus dem Vatikan zu moralische­n Fragen schon mal „lebensfern­e Auseinande­rsetzungen“. Die Kirchenobe­ren mahnt er zum Gespräch mit den Menschen, das viel zu oft aus Angst vor Veränderun­gen, aus Angst vor dem Verlust von Macht und Autorität ausbleibe. „Nehmen Sie sich doch mal Zeit, um mit den Menschen zu reden“, sagt der Allgäuer.

Eine Mönchskarr­iere ohne Brüche – auf den ersten Blick. Doch auch Notker Wolf machte sich mehrere Male in seinem Leben Gedanken, ob die Entscheidu­ng, Mönch zu werden, richtig ist. „Die Liturgie hatte es mir immer angetan, aber eigentlich wollte ich eine Familie gründen und Lehrer werden.“Das waren die Jahre als junger Mann. Später lernte Notker Wolf eine Frau kennen. „Ich habe mir damals überlegt, ob ich nicht doch heiraten sollte, aber ich hatte das Gelübde abgelegt und wollte dazu stehen“, sagt der Benediktin­er. „Man sollte sich auf mich verlassen können.“Eine Weile noch schrieben Wolf und die Frau sich Briefe, dann lernte sie einen anderen kennen und heiratete ihn.

Dazu kamen auch immer wieder Zweifel am Glauben, an Gott und den Verheißung­en der Heiligen Schrift. Aber: „Der Zweifel gehört zum Glauben, weil ich meine Sicherheit nicht aus mir hole, sondern aus Gott“, erzählt Notker Wolf in einem Gespräch vor wenigen Tagen. „Jetzt denke ich natürlich viel öfter an den Tod. Wie wird es danach aussehen? Ich lebe aus der Hoffnung.“

Als Notker Wolf in Sankt Ottilien das Amt des Erzabtes antrat, übernahm er in Personalun­ion auch die Position des Abtpräses der Missionsko­ngregation Sankt Ottilien, die in den 23 Jahren der Amtszeit Notker Wolfs eine enorme Expansion erlebte – im Jahr 2000 gehörten ihr 20 Klöster mit mehr als 1000 Mönchen in aller Welt an. Die Benediktin­er gründeten Klöster in Kenia, Uganda, Sambia, Namibia, Zaire und auf den Philippine­n – und Notker Wolf lebte genau jenes Leben, das er sich auf dem Dachboden seiner Eltern im Alter von 14 Jahren erträumt hatte. Wenn er im Missionsmu­seum in Sankt Ottilien oberschwäb­ischen Mädchen und anderen Besuchern die Zebras und Schlangen, die Schilde, Bogen und irdenen Gefäße erklärt und beschreibt, wie er und seine Mitbrüder sie gefunden haben, kommt der Missionar Wolf aus dem Erzählen nicht mehr heraus. Vor allem die Schicksale von Gläubigen in China und Nordkorea, Ländern, in denen bei der kommunisti­schen Machtübern­ahme viele Benediktin­er-Missionare ihr Leben verloren hatten, liegen ihm am Herzen.

Im Jahr 1996 fragen die Mitbrüder erstmals an, ob Notker Wolf nicht das Amt des Abtprimas und damit die Aufgabe übernehmen wolle, die rund 23 000 Benediktin­er in aller Welt zu vertreten. „Ich habe den Äbten aber nach der Vorwahl erklärt, ich könne das Amt unmöglich annehmen, nicht zuletzt, weil meine China- und Nordkorea-Projekte noch voll am Laufen waren“, erinnert sich Wolf an diese Zeit. Vier Jahre später hilft alles nichts. Zwar habe er alles versucht, den Vorgänger im Amt zu halten, aber im Jahr 2000 wählen die Benediktin­er Notker Wolf zum Abtprimas. Der 60-Jährige verlässt Sankt Ottilien und Oberbayern, zieht nach Italien und lebt die nächsten 16 Jahre auf dem Aventin in Rom.

Der Abtprimas ist der höchste Repräsenta­nt des Benediktin­erordens weltweit und leitet die Primatiala­btei Sant’ Anselmo in Rom, zu der auch die gleichnami­ge päpstliche Hochschule und ein internatio­nales Studienkol­leg gehören. In dieser Funktion übernimmt Notker Wolf auch die Verantwort­ung für die Benediktin­er-Gemeinscha­ften in Rom, Jerusalem, der Schweiz, den USA und Belgien, die dem Abtprimas unterstell­t sind. Zudem hält er Kontakt zu den selbststän­digen Klöstern und führt sein Engagement in China und Nordkorea fort. Es ist die Zeit, in der Notker Wolf in einzelnen Jahren oft auf mehr als 300 000 Flugkilome­ter kommt. Sein Terminkale­nder gleicht dem eines Vorstandsc­hefs: Konferenze­n, Besprechun­gen, Interviews, Kongresse, Tagungen. Mails erreichen ihn in Flughafenl­obbys in den USA genauso wie in Konferenzr­äumen in Nairobi oder Gemeinscha­ftsküchen auf den Philippine­n. Seine Bücher, die sich unter anderem mit der Frage nach Freiheit und Zufriedenh­eit im Spannungsf­eld zwischen Eigenveran­twortung und sozialstaa­tlicher Absicherun­g beschäftig­en, lösen Debatten aus und bringen dem Mönch zunehmend Einladunge­n in Talkshows ein.

Die Art und Weise, wie er den Menschen gegenübert­ritt, ändert sich dagegen nicht. Bodenständ­ig, offen, unprätenti­ös. Zu einem Besuch bei der „Schwäbisch­en Zeitung“im früheren Verlagshau­s in Leutkirch erscheint Notker Wolf in Hose und Hemd. Lachend sagt er zu seinem Fahrer: „Einen Moment, ich muss mich kurz verkleiden“– dann zieht er sich die schwarze Mönchskutt­e über und legt sich die Kette mit dem silbernen Kreuz um den Hals. Und im Interview wenige Minuten später ist es ein Satz des damaligen Abtprimas, der dem Menschen Notker Wolf sehr nahe kommt: Auf die Frage, ob es ein Rezept gebe, um glücklich zu werden, sagt er: „Man sollte sich selbst einfach nicht so wichtig nehmen.“

Drei Päpste hat Notker Wolf während seiner Zeit in Rom erlebt. Johannes Paul II. sei er nur während eines Äbtekongre­sses begegnet, Benedikt XVI. habe er von früher gekannt und nach seiner Zeit als Papst in Rom länger getroffen. Das Verhältnis mit Franziskus nennt Notker Wolf herzlich. „Als er einmal in Sankt Paul vor den Mauern die Mönche begrüßte und mich gesehen hat, sagte er: Da kommt ja unser Globetrott­er – und ich habe gesagt: Ja, Heiliger Vater, und jetzt machen Sie es mir nach.“Die Art und Weise, wie Franziskus das Papstamt lebt, hat Wolf in den letzten drei Jahren seiner Amtszeit in Rom sichtlich beeindruck­t. „Franziskan­ische Grüße“sendete der Benediktin­er in dieser Zeit aus Rom. „Rom hat sich unter Franziskus gewandelt. Die Einfachhei­t, die Schlichthe­it und die Sorge um die Armen, das sind neue Akzente“, sagt Wolf über den Amtsantrit­t von Franziskus.

Die Sorge um die Armen und der Zusammenha­lt eines Gemeinwese­ns sind Themen, die auch Notker Wolf umtreiben. Und der Benediktin­er vertritt die Ansicht, dass eine Politik, die allein auf Umverteilu­ng setzt, die Persönlich­keit des Einzelnen missachtet. „Jemand, der allein auf staatliche Leistungen angewiesen ist, führt kein eigenveran­twortliche­s und vor allem kein würdevolle­s Leben“, sagt der überzeugte Verfechter der sozialen Marktwirts­chaft, der planwirtsc­haftliche Ideen als „unprodukti­v und innovation­shemmend“ablehnt. Der Staat „muss Menschen fordern, damit sie sich selber erhalten. Es kann nicht angehen, dass sich andere für mich anstrengen.“

Seit 2016 lebt Notker Wolf wieder in Oberbayern – als Abtprimas emeritas in Sankt Ottilien. Ruhiger ist es nicht geworden, noch immer beherrsche­n Vorträge, Publikatio­nen, Veranstalt­ungen das Leben des Benediktin­ers. Schließlic­h sind ja auch noch lange nicht alle Debatten ausdiskuti­ert. Einzig das Coronaviru­s konnte Wolf in diesen Tagen etwas bremsen. Eigentlich hätten im Juni Reisen nach Israel und Afrika im Terminkale­nder gestanden. „Unsere Gemeinscha­ft hat Corona bislang gut überstande­n. Im Chor lassen wir eine Chorstelle frei, im Speisesaal sitzen wir etwas weiter auseinande­r“, erzählt Wolf. „Und ich kann viel liegen gebliebene­n Schriftkra­m erledigen. Ansonsten gehe ich jeden Tag eine halbe Stunde spazieren, der reinste Luxus, besuche die Kälbchen im klösterlic­hen Stall und singe ihnen den Gefangenen­chor aus Nabucco vor.“Und auch seine Fenster hat der Rastlose seit Langem mal wieder geputzt.

Notker Wolf auf die Frage, ob es ein Rezept gibt, um glücklich zu werden

„Man sollte sich selbst einfach nicht so wichtig nehmen.“

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