DER ETWAS ANDERE MÖNCH
Unerschütterlich im Glauben kämpft Notker Wolf weiter für eine gerechtere Welt – Am Sonntag feiert der frühere Abtprimas der Benediktiner seinen 80. Geburtstag
Auch mit 80 Jahren bewahrt sich Notker Wolf seinen unerschütterlichen Optimismus
- Notker Wolf ist nie unhöflich. Wenn er über die Wege und Plätze des Klosters Sankt Ottilien am Ammersee geht, sprechen ihn an jeder Ecke Besucher, Pilger, Angestellte und Mitbrüder an. Er grüßt, antwortet, nickt, winkt – und lässt dennoch keinen Zweifel daran, wem in diesem Moment seine eigentliche Aufmerksamkeit gehört. Einem vierjährigen Mädchen aus Oberschwaben. Denn die beiden haben einen Termin. Der frühere Abtprimas seines Ordens hat seinem Gast versprochen, ihm den modernen Rinderstall seines Heimatklosters zu zeigen. Vor allem: das Karussell, in dem die Kühe vollautomatisch gemolken werden.
Es ist diese Zugewandtheit, diese Empathie, mit denen Notker Wolf die Herzen der Menschen gewinnt – und die ihn im Laufe der vergangenen Jahrzehnte zu einem der bekanntesten Vertreter des Benediktiner-Ordens gemacht haben. Streitbar und unerschrocken, oft frech, immer wortgewandt meldet er sich regelmäßig zu Wort – er kämpft für die Botschaft Jesu Christi und gegen die Raffgier der Wirtschaftsbosse, er verteidigt die soziale Marktwirtschaft und kritisiert viele Bischöfe für ihren fehlenden Mut, er spielt AC/DC auf seiner E-Gitarre und unterstützt Glaubensbrüder in Nordkorea. Seine Bücher über die Frohe Botschaft des Evangeliums und achtsame Lebensführung jenseits des neumodischen HyggeLifestyles sind Bestseller. 16 Jahre lang vertrat er in Rom als oberster Repräsentant die Belange von rund 23 000 Benediktinern in aller Welt. Notker Wolf, geboren im Jahr 1940 in Bad Grönenbach im Allgäu, feiert am Sonntag seinen 80. Geburtstag. Dem ältesten Mönchsorden der Welt steht er nicht mehr vor, sein Kalender ist aber nicht weniger voll.
Die Richtung, in die ihn sein Leben führen sollte, fand Notker Wolf im Alter von 14 Jahren. Damals entdeckte er auf dem Dachboden seines Elternhauses ein Missionsheft mit der Lebensbeschreibung von Pierre Chanel. Der Missionar starb 1841 auf der Südseeinsel Futuna, nach einem Angriff von Einheimischen. „Bei seinem Tod haben die Leute erkannt, was er ihnen bringen wollte, und haben sich später taufen lassen“, erzählt Notker Wolf. „Da hat es bei mir klick gemacht: Das ist es, was ich auch machen will, das gibt meinem Leben einen Sinn.“
Wolf wandte sich an den Pfarrer in seinem Heimatdorf, und der habe gesagt: „So wie ich dich kenne, gehörst du nach Sankt Ottilien, zu den Missionsbenediktinern.“Der Allgäuer Junge, der damals die Oberrealschule in Memmingen besuchte, zog nach Oberbayern in die kleine Gemeinde Eresing am Ammersee, in der die Benediktiner 1887 das Kloster Sankt Ottilien gegründet hatten, wechselte an das dortige Gymnasium und musste erst einmal drei Jahre Latein nachholen. „Es ist dein Leben und deine Entscheidung“, erinnert sich Wolf an die Worte des Vaters. Die Mutter habe den Entschluss einfach hingenommen.
Nach dem Abitur trat Notker Wolf 1961 ins Kloster ein, und aus dem gläubigen jungen Mann, den die Eltern Werner genannt hatten, wurde der Mönch Notker Wolf. Den Ordensnamen wählte der Sohn eines Schneiders nach Notker I von Sankt Gallen, dem bedeutenden Dichter aus der karolingischen Zeit. „Er war mir immer sympathisch: Schulleiter, Musiker, Leiter des Skriptoriums“, sagt Wolf. „Und Pierre konnte ich mir nicht als Patron nehmen, weil es schon einen
Pierre Petrus gab und jeder Name nur einmal vergeben wird, damit es nicht zu Verwechslungen kommt.“
Sein Studium der Philosophie absolvierte Wolf am Päpstlichen Athenaeum Sant’ Anselmo, der internationalen Hochschule des Benediktinerordens in Rom. Danach schrieb er sich für Theologie und Naturwissenschaften an der Universität München ein. Mit einer Dissertation über „Das zyklische Weltmodell der Stoa“und der Promotion zum Dr. phil. schloss er sein Studium ab. Das ewige Gelübde folgte 1965, die Priesterweihe empfing er drei Jahre später. 1971 wechselte er zurück nach Rom, lehrte in Sant’ Anselmo Naturphilosophie. Wolf arbeitete mit Studenten vieler verschiedener Nationalitäten und knüpfte Kontakte in alle Welt. Kontakte, die Notker Wolf zeit seines Lebens pflegen wird.
Als sein Heimatkloster 1977 einen neuen Erzabt suchte, wählten seine Mitbrüder Notker Wolf zum Nachfolger von Viktor Dammertz, der als neuer Abtprimas und damit Leiter des Gesamtordens nach Rom ging. Eine Entscheidung, die für Aufsehen sorgte: Gerade einmal 37 Jahre alt war Notker Wolf, als er die Leitung von Sankt Ottilien übernahm. Und er führte das Kloster, wie er sein Leben lebte: den Menschen zugewandt. Ihm waren die Freiheit und Würde des Einzelnen wichtig, er verabscheute Drill, Zwang, Druck. Und dass das Leben in einer klösterlichen Gemeinschaft nicht immer einfach ist, weiß Notker Wolf genau. „Da wird viel diskutiert, man muss zu einer gemeinsamen Entscheidung kommen – und dann sitzen alle zusammen beim Essen“, erzählt Wolf. „Es ist nicht so, dass man wie im Beruf abends nach Hause geht und alles erst mal zurücklässt.“
In den Jahren als Erzabt erwarb sich Notker Wolf den Ruf eines kritischen, unkonventionellen, blitzgescheiten Geistes – und eines Menschenfreundes. Im Gespräch mit Gläubigen, beim Spenden von Trost oder bei der Hilfe an Kranken ging es Notker Wolf nie zuerst um theologische Prinzipien, sondern um die Erfahrungen, Sorgen und Ängste der Gläubigen. Seine Gegenüber dankten es ihm – mit Zutrauen. Und vertrauten ihm selbst bei intimsten Problemen wie Krankheit, Untreue oder Kinderlosigkeit. Lösen konnte er die Probleme nicht, aber lindern – durch seine Zuversicht und Aufmerksamkeit.
Und genau diese fehlende Empathie kritisiert Notker Wolf immer wieder – bei Ordensbrüdern, Bischöfen und auch beim Oberhaupt der katholischen Kirche, dem Papst. So nennt er Äußerungen aus dem Vatikan zu moralischen Fragen schon mal „lebensferne Auseinandersetzungen“. Die Kirchenoberen mahnt er zum Gespräch mit den Menschen, das viel zu oft aus Angst vor Veränderungen, aus Angst vor dem Verlust von Macht und Autorität ausbleibe. „Nehmen Sie sich doch mal Zeit, um mit den Menschen zu reden“, sagt der Allgäuer.
Eine Mönchskarriere ohne Brüche – auf den ersten Blick. Doch auch Notker Wolf machte sich mehrere Male in seinem Leben Gedanken, ob die Entscheidung, Mönch zu werden, richtig ist. „Die Liturgie hatte es mir immer angetan, aber eigentlich wollte ich eine Familie gründen und Lehrer werden.“Das waren die Jahre als junger Mann. Später lernte Notker Wolf eine Frau kennen. „Ich habe mir damals überlegt, ob ich nicht doch heiraten sollte, aber ich hatte das Gelübde abgelegt und wollte dazu stehen“, sagt der Benediktiner. „Man sollte sich auf mich verlassen können.“Eine Weile noch schrieben Wolf und die Frau sich Briefe, dann lernte sie einen anderen kennen und heiratete ihn.
Dazu kamen auch immer wieder Zweifel am Glauben, an Gott und den Verheißungen der Heiligen Schrift. Aber: „Der Zweifel gehört zum Glauben, weil ich meine Sicherheit nicht aus mir hole, sondern aus Gott“, erzählt Notker Wolf in einem Gespräch vor wenigen Tagen. „Jetzt denke ich natürlich viel öfter an den Tod. Wie wird es danach aussehen? Ich lebe aus der Hoffnung.“
Als Notker Wolf in Sankt Ottilien das Amt des Erzabtes antrat, übernahm er in Personalunion auch die Position des Abtpräses der Missionskongregation Sankt Ottilien, die in den 23 Jahren der Amtszeit Notker Wolfs eine enorme Expansion erlebte – im Jahr 2000 gehörten ihr 20 Klöster mit mehr als 1000 Mönchen in aller Welt an. Die Benediktiner gründeten Klöster in Kenia, Uganda, Sambia, Namibia, Zaire und auf den Philippinen – und Notker Wolf lebte genau jenes Leben, das er sich auf dem Dachboden seiner Eltern im Alter von 14 Jahren erträumt hatte. Wenn er im Missionsmuseum in Sankt Ottilien oberschwäbischen Mädchen und anderen Besuchern die Zebras und Schlangen, die Schilde, Bogen und irdenen Gefäße erklärt und beschreibt, wie er und seine Mitbrüder sie gefunden haben, kommt der Missionar Wolf aus dem Erzählen nicht mehr heraus. Vor allem die Schicksale von Gläubigen in China und Nordkorea, Ländern, in denen bei der kommunistischen Machtübernahme viele Benediktiner-Missionare ihr Leben verloren hatten, liegen ihm am Herzen.
Im Jahr 1996 fragen die Mitbrüder erstmals an, ob Notker Wolf nicht das Amt des Abtprimas und damit die Aufgabe übernehmen wolle, die rund 23 000 Benediktiner in aller Welt zu vertreten. „Ich habe den Äbten aber nach der Vorwahl erklärt, ich könne das Amt unmöglich annehmen, nicht zuletzt, weil meine China- und Nordkorea-Projekte noch voll am Laufen waren“, erinnert sich Wolf an diese Zeit. Vier Jahre später hilft alles nichts. Zwar habe er alles versucht, den Vorgänger im Amt zu halten, aber im Jahr 2000 wählen die Benediktiner Notker Wolf zum Abtprimas. Der 60-Jährige verlässt Sankt Ottilien und Oberbayern, zieht nach Italien und lebt die nächsten 16 Jahre auf dem Aventin in Rom.
Der Abtprimas ist der höchste Repräsentant des Benediktinerordens weltweit und leitet die Primatialabtei Sant’ Anselmo in Rom, zu der auch die gleichnamige päpstliche Hochschule und ein internationales Studienkolleg gehören. In dieser Funktion übernimmt Notker Wolf auch die Verantwortung für die Benediktiner-Gemeinschaften in Rom, Jerusalem, der Schweiz, den USA und Belgien, die dem Abtprimas unterstellt sind. Zudem hält er Kontakt zu den selbstständigen Klöstern und führt sein Engagement in China und Nordkorea fort. Es ist die Zeit, in der Notker Wolf in einzelnen Jahren oft auf mehr als 300 000 Flugkilometer kommt. Sein Terminkalender gleicht dem eines Vorstandschefs: Konferenzen, Besprechungen, Interviews, Kongresse, Tagungen. Mails erreichen ihn in Flughafenlobbys in den USA genauso wie in Konferenzräumen in Nairobi oder Gemeinschaftsküchen auf den Philippinen. Seine Bücher, die sich unter anderem mit der Frage nach Freiheit und Zufriedenheit im Spannungsfeld zwischen Eigenverantwortung und sozialstaatlicher Absicherung beschäftigen, lösen Debatten aus und bringen dem Mönch zunehmend Einladungen in Talkshows ein.
Die Art und Weise, wie er den Menschen gegenübertritt, ändert sich dagegen nicht. Bodenständig, offen, unprätentiös. Zu einem Besuch bei der „Schwäbischen Zeitung“im früheren Verlagshaus in Leutkirch erscheint Notker Wolf in Hose und Hemd. Lachend sagt er zu seinem Fahrer: „Einen Moment, ich muss mich kurz verkleiden“– dann zieht er sich die schwarze Mönchskutte über und legt sich die Kette mit dem silbernen Kreuz um den Hals. Und im Interview wenige Minuten später ist es ein Satz des damaligen Abtprimas, der dem Menschen Notker Wolf sehr nahe kommt: Auf die Frage, ob es ein Rezept gebe, um glücklich zu werden, sagt er: „Man sollte sich selbst einfach nicht so wichtig nehmen.“
Drei Päpste hat Notker Wolf während seiner Zeit in Rom erlebt. Johannes Paul II. sei er nur während eines Äbtekongresses begegnet, Benedikt XVI. habe er von früher gekannt und nach seiner Zeit als Papst in Rom länger getroffen. Das Verhältnis mit Franziskus nennt Notker Wolf herzlich. „Als er einmal in Sankt Paul vor den Mauern die Mönche begrüßte und mich gesehen hat, sagte er: Da kommt ja unser Globetrotter – und ich habe gesagt: Ja, Heiliger Vater, und jetzt machen Sie es mir nach.“Die Art und Weise, wie Franziskus das Papstamt lebt, hat Wolf in den letzten drei Jahren seiner Amtszeit in Rom sichtlich beeindruckt. „Franziskanische Grüße“sendete der Benediktiner in dieser Zeit aus Rom. „Rom hat sich unter Franziskus gewandelt. Die Einfachheit, die Schlichtheit und die Sorge um die Armen, das sind neue Akzente“, sagt Wolf über den Amtsantritt von Franziskus.
Die Sorge um die Armen und der Zusammenhalt eines Gemeinwesens sind Themen, die auch Notker Wolf umtreiben. Und der Benediktiner vertritt die Ansicht, dass eine Politik, die allein auf Umverteilung setzt, die Persönlichkeit des Einzelnen missachtet. „Jemand, der allein auf staatliche Leistungen angewiesen ist, führt kein eigenverantwortliches und vor allem kein würdevolles Leben“, sagt der überzeugte Verfechter der sozialen Marktwirtschaft, der planwirtschaftliche Ideen als „unproduktiv und innovationshemmend“ablehnt. Der Staat „muss Menschen fordern, damit sie sich selber erhalten. Es kann nicht angehen, dass sich andere für mich anstrengen.“
Seit 2016 lebt Notker Wolf wieder in Oberbayern – als Abtprimas emeritas in Sankt Ottilien. Ruhiger ist es nicht geworden, noch immer beherrschen Vorträge, Publikationen, Veranstaltungen das Leben des Benediktiners. Schließlich sind ja auch noch lange nicht alle Debatten ausdiskutiert. Einzig das Coronavirus konnte Wolf in diesen Tagen etwas bremsen. Eigentlich hätten im Juni Reisen nach Israel und Afrika im Terminkalender gestanden. „Unsere Gemeinschaft hat Corona bislang gut überstanden. Im Chor lassen wir eine Chorstelle frei, im Speisesaal sitzen wir etwas weiter auseinander“, erzählt Wolf. „Und ich kann viel liegen gebliebenen Schriftkram erledigen. Ansonsten gehe ich jeden Tag eine halbe Stunde spazieren, der reinste Luxus, besuche die Kälbchen im klösterlichen Stall und singe ihnen den Gefangenenchor aus Nabucco vor.“Und auch seine Fenster hat der Rastlose seit Langem mal wieder geputzt.
Notker Wolf auf die Frage, ob es ein Rezept gibt, um glücklich zu werden
„Man sollte sich selbst einfach nicht so wichtig nehmen.“