Siegesparade in Zeiten der Seuche
Vor dem Verfassungsreferendum, das ihn im Kreml halten könnte, lässt Putin die Armee aufmarschieren
MOSKAU - Wladimir Putin hat sich auf dem Roten Platz einmal mehr als Hüter der historischen Wahrheit über den Zweiten Weltkrieg präsentiert. Aber viele Russen verlieren zusehends das Interesse an seinen Auftritten.
Die Paradetruppen drängen sich an diesem Mittwoch in Reih und Glied, ein Tusch wird gespielt, dann gratuliert Wladimir Putin Russland, der Armee und den ausländischen Gästen zum Sieg im Großen Vaterländischen Krieg. „Unmöglich, sich vorzustellen, was aus der Welt geworden wäre, wenn sich die Rote Armee nicht zu ihrer Verteidigung erhoben hätte.“
Der russische Staatschef hatte die Parade zum Sieg über Hitlerdeutschland vom 9. Mai auf den 24. Juni verlegt – wegen der Corona-Pandemie. Die ist zwar in Russland noch immer nicht ausgestanden, täglich werden über 7000 neu Infizierte gemeldet. Putin aber redet – wie schon oft – über die Heldentaten des Sowjetvolkes und über die Schaffung eines Sicherheitssystems für die ganze Welt. „Nur gemeinsam können wir sie gegen neue gefährliche Bedrohungen beschützen.“
Covid-19 scheint nicht dazuzugehören. Russlands Elitetruppen marschieren schneidig, oft lächelnd, ohne Masken oder Sicherheitsabstand an der Tribüne vorbei. Dort stehen nur sieben GUS-Staatschefs sowie der serbische Präsident Aleksandar Vucic. Westliche Toppolitiker fehlen. Und der angereiste kirgisische Staatschef Sooronbaj Dscheenbekow hat im letzten Moment verzichtet, weil zwei Mitglieder seiner Delegation positiv getestet wurden. Siegesparade in Zeiten der Seuche.
Aber Putin hat seinen eigenen Zeitplan. Zu Jahresbeginn startete er eine Verfassungsreform, die ihm den Weg zu zwei weiteren Amtszeiten ebnen soll. Die im April geplante Volksabstimmung musste ebenfalls coronabedingt verschoben werden. Jetzt wird am 1. Juli abgestimmt, wer will, kann schon ab diesem Donnerstag zu Hause votieren. Kritiker verdächtigen den Kreml, die Siegesparade als Wahlpropaganda ausschlachten zu wollen.
Das Thema eignet sich. Nach Meinungsumfragen teilen 84 Prozent der
Russen die von Putin als „heilige Wahrheit“bezeichnete Ansicht: Die Sowjetunion hat maßgeblich zum Sieg über die Nazis beigetragen.
Und – zeitlich passend – veröffentlichte Putin am vergangenen Donnerstag in der amerikanischen Zeitschrift „National Interest“einen großen Artikel über die entscheidende Rolle der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Außerdem darüber, dass Moskau trotz des Hitler-Stalin-Pakts und des deutsch-sowjetischen Überfalls auf Polen keine Verantwortung für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges trage.
Der Aufsatz ist sehr lang, die russische Fassung hat über 50 000 Computerzeichen. Ein Großteil des Inhalts ist seit vergangenem Dezember bekannt, damals hielt Putin bei einem GUS-Gipfel seinen postsowjetischen Kollegen eine ganze Vorlesung dazu. Einige wirkten nach seinem 54Minuten-Monolog ermüdet.
Die Parade heute dauert 76 Minuten, in den Jahren zuvor hat der Kreml sich mit rund einer Stunde zufriedengegeben. Über 13 000 Soldaten nehmen teil und 234 Kampffahrzeuge, davon 24 neuartige Typen, auch das sind Rekorde. Und immer wieder erinnert eine tief dröhnende Männerstimme aus den Lautsprechern daran, dass die vorbeirollenden Schützenpanzer oder Raketenwerfer allen vergleichbaren Waffensystemen des Auslands überlegen sind. Aber solche Superlative wiederholen sich seit Jahren, sind längst zum kriegerischen Drohritual geworden. Viele Menschen mag das nicht mehr wirklich interessieren.
Am Vorabend der Parade trat Putin im Fernsehen auf, 51 Minuten lang redete er über das Coronavirus, über Wirtschaft und Soziales. Die Epidemie sei noch nicht völlig ausgemerzt, aber das Leben nähme wieder seinen normalen Gang. Er versprach den russischen Familien, noch einmal eine Soforthilfe von umgerechnet 130 Euro für jedes Kind unter 16 Jahren. Und eine Aufstockung der Einkommensteuer von 13 auf 15 Prozent für reiche Russen, die umgerechnet mehr als 65 000 Euro im Jahr verdienen. Die 770 Millionen Euro, die dadurch zusätzlich in den Haushalt kämen, werde man für die Heilung von Kindern mit schweren und seltenen Krankheiten reservieren. „Pseudosoziale Gerechtigkeit“, kommentiert die Wirtschaftsexpertin Alexandra Suslina in der Oppositionszeitung „Nowaja Gaseta“, auch andere Liberale unterstellen Putin Populismus vor seiner Verfassungsabstimmung.
Aber diesem Populismus scheint inzwischen die Durchschlagskraft zu fehlen. So betrifft Putins zweiprozentige Steuererhöhung nur die Einnahmen oberhalb der 65 000-EuroGrenze. Und die Erhöhung tritt erst Anfang 2021 in Kraft. Bis dahin wird es auch kein zusätzliches Geld für die Heilung der schwer kranken Kinder geben. In Russland hat man sich daran gewöhnt, dass der Staatschef viele Worte macht, die Wirklichkeit sich aber oft anders weiterentwickelt.
Auch der moskautreue KrimBlogger Alexander Gorny klagt, er habe sich Putins TV-Auftritt nicht mehr länger als 25 Minuten ansehen können. „Er sagt viele ehrliche und richtige Sachen, aber seinen Worten fehlt die Energie.“Geblieben seien Müdigkeit, Gewohnheit und Ritual.
Wladimir Putin ist jetzt 67 Jahre alt. Missgünstige Russen behaupten, die Haut seiner Hände sei inzwischen faltiger als sein Botox-geglättetes Gesicht. Und der Politologe Juri Korgonjuk glaubt, viele Russen betrachteten Putin und sein Regiment inzwischen mit ähnlich ausgeprägter aber passiver Abneigung wie einst die Sowjetbürger das damalige System.
Auch Putins Redenschreiber scheinen nicht mehr immer voll bei der Sache zu sein. In seinem Artikel für „National Interest“erklärt Putin, er verteidige eine menschliche, bittere und grausame Wahrheit. Als Beleg beziffert er die Gesamtverluste der Roten Armee in der Schlacht von Rschew auf exakt 1 154 698 Soldaten. In der russischen Version, die einen Tag später in der Regierungszeitung „Rossijskaja Gaseta“erschien, ist von Gesamtverlusten von 1 342 888 die Rede. Ein Unterschied von über 188 000 Menschenleben, die die Sorgfalt des Autors beim Umgang mit den Wahrheiten dieses Krieges infrage stellt. Auf jeden Fall die seiner Mitarbeiter.
Putins Reden werden länger und langweiliger – wie die Ansprachen alternder Sowjetapparatschiks. Offenbar fehlen in seinem Team Leute, die ihn darauf aufmerksam machen.
Die Parade endet. Als das Dröhnen der letzten Su-25-Jagdbomber über dem Roten Platz verstummt und ein Militärorchester den sowjetischen Gassenhauer „Tag des Sieges“anstimmt, erheben sich auch die Veteranen. Der Staatschef steht zwischen den alten Männern, sichtlich zufrieden, er scheint sogar zu lächeln. Militärparaden gehören offenbar zu jenen Momenten, die Putin wirklich noch Freude machen.