Heiße Tage nicht nur am Strand
Bei mehr als 30 Grad eilen Millionen von Briten an die See, als gäbe es kein Virus mehr
LONDON - Drohen den Briten in den nächsten Tagen Krawalle wie im heißen Sommer 2011? Nach einer Reihe von Massenschlägereien in größeren Städten und angesichts Millionen von Sonnenanbetern an den Stränden des Landes bereitete sich die Polizei auf der Insel am Freitag auf schwierige Einsätze vor. Auch weiterhin gelte erhöhte Vorsicht vor Covid-19, mahnte Gesundheitsminister Matthew Hancock: „Notfalls müssen wir Strände schließen.“
Erst am Dienstag hatte Premierminister Boris Johnson die weitgehende Aufhebung des Corona-Lockdown für Anfang Juli angekündigt. Dazu gehört auch die Reduzierung der bisher geltenden Abstandsregel von zwei Metern auf „ein Meter plus“, wie der Regierungschef im Unterhaus ausführte. Die Briten nahmen dies zum Anlass, die eigentlich noch geltenden Ausgangsbestimmungen weitgehend zu ignorieren.
Bei strahlendem Sonnenschein und Temperaturen von über 30 Grad machten sich aus Metropolen wie Birmingham, Manchester und London Hunderttausende erstmals auf den Weg zu Ausflügen und Picknicks an der See. In der südöstlichen Grafschaft
Kent kam es am Rande eines illegalen Beach-Raves zu Messerstechereien, bei Bridgend in Wales prügelten sich mehr als 100 stark alkoholisierte Badegäste. Weil vielerorts die öffentlichen Toiletten wegen der Corona-Pandemie geschlossen bleiben, erledigten die Tagestouristen ihr Geschäft in Büschen oder im Schutz von Strandhütten.
An den Sandstränden von Bournemouth und Christchurch in der südlichen Grafschaft Dorset tummelten sich mehrere Tage hintereinander bis zu einer halben Million Menschen. Die örtliche Kommunalverwaltung rief eine Art Notstand aus, um des Andrangs der Massen Herr zu werden. Parkwächter und Polizei hätten gänzlich unverantwortliches Benehmen beobachtet, zählte die örtliche Landrätin Vikke Slade auf: wildes Parken und Camping, Müllberge, Kampfsaufen mit dazugehörigen Schlägereien. Vergeblich appellierte der lokale Unterhaus-Abgeordnete Tobias Ellwood an die Vernunft seiner Landsleute. „Wir haben bei der Bekämpfung der Pandemie so tolle Fortschritte gemacht“, sagte der frühere Offizier, „es wäre doch furchtbar, wenn nun Bournemouth zum Ausgangspunkt einer zweiten Corona-Welle würde.“Von seiner konservativen Regierung erwarte er bessere Unterstützung für die Kommunen vor Ort.
Wie schon im März zeigte sich das Kabinett in London auch diesmal wieder zögerlich. Er wolle „nur ungern“harte Maßnahmen wie die Schließung örtlicher Strände verfügen, teilte Minister Hancock mit. Die Regierung leidet an einem Glaubwürdigkeitsdefizit, seit Premier Johnson eine flagrante Verletzung der CoronaBestimmungen durch seinen engsten Berater Dominic Cummings ungeahndet ließ. Zudem sind die jüngsten Statistiken der Epidemiologen eigentlich ermutigend. So geht die Zahl der Neuinfektionen stetig zurück, am Donnerstag lag sie bei knapp über 1000. Großbritannien verzeichnet bezogen auf die Bevölkerungsgröße hinter Belgien die zweithöchste Zahl von Corona-Toten in Europa; dem Gesundheitsministerium zufolge sind 43 230 Menschen an den Folgen von Sars-CoV-2 gestorben, im Durchschnitt der vergangenen Woche waren es täglich 119.
Unterdessen haben die Polizeibehörden zunehmend mit Folgeerscheinungen der Pandemie wie Arbeitslosigkeit, Lagerkoller und Langeweile zu kämpfen. Scotland Yard musste mehrfach zu Großeinsätzen ausrücken, um illegale Konzerte zu unterbinden. Unter dem Einfluss von Drogen und Alkohol lieferten sich Musikbegeisterte Straßenschlachten mit den Ordnungshütern, in Brixton und Notting Hill hagelte es Wurfgeschosse auf die herbeigerufenen Hundertschaften. In den vergangenen Tagen seien 140 ihrer Beamten verletzt worden, teilte Polizeipräsidentin Cressida Dick am Freitag mit: „Das ist völlig unakzeptabel.“Ihre Beamten würden auch am Wochenende durchgreifen, wo dies nötig erscheine.
Kontaktbereichsbeamte warnen vor einer Wiederbelebung des illegalen Drogenhandels und der damit verbundenen Bandenkriminalität. In Manchester nahm die Kripo eine 32-Jährige unter dem Verdacht fest, am vergangenen Wochenende bei einer Open-Air-Party zwei Feiernde erschossen zu haben. Wenig zu tun hatten hingegen die Ordnungshüter von Liverpool, wo in der Nacht zum Freitag mehrere Tausend Fußballfans die Meisterschaft ihres FC Liverpool unter dem deutschen Trainer Jürgen Klopp feierten. Freilich kam es in bierseliger Stimmung zu Verbrüderungsszenen. Bürgermeister Joe Anderson, wiewohl Fan des Rivalen FC Everton, nahm die Anhänger des neuen Meisters in Schutz, beschwor sie aber, „an die Sicherheit“zu denken.