„Plädiere für ein freiwilliges Bildungsjahr“
Forscherin wünscht sich Hilfe von Abiturienten zur Förderung von Schülern
STUTTGART - Die Corona-Pandemie ist längst nicht überstanden. Wie geht es also an den Schulen weiter? Dazu will Südwest-Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) am Mittwoch ihre Planungen vorstellen. Im Gespräch mit Kara Ballarin erklärt die Heidelberger Bildungswissenschaftlerin Anne Sliwka, welche Lehren der Bildungssektor aus den vergangenen Monaten ziehen sollte. Sliwka ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat, der Eisenmann in Bildungsfragen berät.
Frau Sliwka, Ministerin Eisenmann hat sich auf die Fahnen geschrieben, die Qualität an den Schulen zu verbessern. Konnte dieser Anspruch in Corona-Zeiten gehalten werden?
Die Situation an den Schulen scheint sehr zu variieren. Das Tempo ist unterschiedlich, manche Schulen haben bis zu den Osterferien alles etwas driften lassen.
Braucht es klarere, einheitliche Vorgaben, wie die Schulen landesweit den digitalen Unterricht gestalten sollen?
Bei jüngeren Schülern braucht es vor allem Video-Unterricht. Gibt es den nicht, müssen die Eltern das Lernen ihrer Kinder strukturieren. Davon waren viele überfordert, das ist auch nicht ihre Aufgabe. Insgesamt sind bestimmte Qualitätsstandards beim digitalen Lernen erforderlich. Das heißt nicht, dass man alles kleinteilig vorgeben muss, es geht um bestimmte Standards.
In den beiden letzten Wochen der Sommerferien sollen Schüler mit Defiziten in sogenannten Lernbrücken Stoff nachholen. Warum ist das wichtig?
Je länger Sommerferien dauern, desto weiter geht die Bildungsschere auseinander. Der Zusammenhang ist wissenschaftlich belegt. Deshalb finde ich diese Lernbrücken eine gute Idee. Wir wissen seit der Pisa-Studie aus dem Jahr 2000, wie stark bei uns die Bildungschancen mit dem Elternhaus zusammenhängen. Jetzt wurde das noch mal sichtbarer. Es ist ein massiver Unterschied, ob sich alle Kinder in einer Familie beim Lernen zwei Handys teilen, oder ob jedes Kind einen Laptop hat.
In einem früheren Gespräch hatten Sie kritisiert, dass Deutschland gegenüber anderen Ländern bei der Digitalisierung um 15 Jahre hinterherhinkt. Rächt sich das nun?
Es ist gut, dass die Digitalisierung unserer Schulen jetzt endlich beven schleunigt vorangeht. Viele Lernprozesse hätte man aber besser vor Corona organisiert. Laut der im Bildungsbereich bedeutenden HattieStudie ist einer der effektivsten Faktoren für gute Schule die enge Zusammenarbeit unter Lehrern. Schule muss zum Beispiel Strategien entwickeln, wie sie mit einzelnen Schülern umgeht, die mehr Unterstützung brauchen. Damit unter Corona-Bedingungen erst zu beginnen, ist schwierig. Die Gefahr dabei ist nämlich, dass solche Lernprozesse in den Kollegien nun oberflächlich implementiert werden, weil nicht genügend Zeit dafür da war. Und es kann dazu führen, dass Lehrkräfte, die mit dem digitalen Lernen fremdeln, die neuen Lernprozesse nur halbherzig umsetzen und es schnell wieder aufgeben, falls die Krise irgendwann überstanden ist. Kollektive Lernprozesse lassen sich nicht abkürzen.
Was kann die Digitalisierung konkret leisten?
Ein wichtiger Faktor ist die digitale Diagnostik. Lehrer können den Lernstand ihrer Schüler relativ einfach mithilfe eines Tablets erheben. Die Auswertung wird direkt vom Tablet geliefert, die Lehrkraft bekommt eine klare Rückmeldung, was die Kinder schon können und welches Kind wofür Förderstunden bekommen sollte. Diese gezielte Förderung auf Basis von Lernstandserhebungen hat laut Hattie einen sehr starken positiEffekt. Dieses sogenannte RTIModell wenden alle Länder an, die bei Pisa vor uns liegen.
Ist das nicht zusätzliche Arbeit? Wer soll diese erledigen, wenn wegen Corona noch weniger Lehrer an den Schulen sind als bisher?
Ich plädiere für ein freiwilliges Bildungsjahr. Es gibt gerade sehr viele Abiturienten, die aufgrund der Pandemie nun nicht wie geplant die Welt bereisen können. Einige könnte man vielleicht für das freiwillige Bildungsjahr gewinnen, ihnen einen Crashkurs anbieten mit einem flankierenden Vernetzungsangebot. Sie könnten die Lehrkräfte bei der Förderung von Schülern unterstützen – und nebenbei vielleicht Lust an einem Lehramtsstudium entwickeln. Klar ist: Regelmäßige Diagnostik und fortlaufende Förderung muss systemimmanent werden. Kinder müssen immer sofort aufgefangen werden, wenn sie etwa eine bestimmte Rechenart nicht beherrschen. So sinkt vielleicht langfristig auch wieder die Zahl derer, die ohne Abschluss die Schule verlassen. Wie der aktuelle deutsche Bildungsbericht zeigt, sind das zuletzt mehr geworden.
Welche Lehren lassen sich aus der Corona-Pandemie ziehen?
Die Grammatik der Schule ist jetzt durchgeschüttelt. Das hätte auch ohne Corona dringend passieren müssen, deshalb ist die Weiterentwicklung nun wichtig, und zwar in vier Bereichen. Erstens: Es braucht eine bessere Kommunikation zwischen Schule und Eltern. Das Format Elternsprechtag ist völlig überholt. Wenn das Kind gerade ein akutes Problem hat, sollte man doch direkt darüber sprechen – etwa kurz am Abend per Video-Telefonie. So könnten auch Zielvereinbarungen mit den Eltern getroffen werden, damit die Kinder etwa nicht übermüdet und ohne Frühstück im Bauch zur Schule kommen. Zweitens: Schüler brauchen formatives Feedback, also ein direktes Feedback beim Lernen. Wir wissen, dass das für das Lernen wichtiger ist als die Note am Schluss. Auch das ist durch Corona viel deutlicher geworden. Wenn ein Schüler zuletzt eine Hausaufgabe reingeschickt hat, konnte der Lehrer ja nicht einfache eine 5 drunterschreiben. Drittens: Wir brauchen eine Hybridisierung der Lernumgebung. Das heißt, dass Lernprozesse durch digitale Möglichkeiten unterstützt werden sollten. Gerade für ältere Schüler ist es sinnvoll, damit sie selbstständiges Lernen lernen. Sie können auf Textbücher, Videos und mehr zurückgreifen und über eine Lernplattform miteinander und dem Lehrer kommunizieren. So kann der Lehrer auch direktes Feedback geben. Und viertens: Lehrer müssen, wie schon gesagt, stärker in Teams arbeiten.