Vom Leugner zum Patienten
Brasiliens Präsident Bolsonaro, der größte Corona-Skeptiker in Lateinamerika, gibt sich nach Infektion kleinlaut
MEXIKO-STADT - Der erste Verdacht kam schon am Montagabend auf. Jair Bolsonaro begab sich mit Fieber und Gliederschmerzen in ein Militärhospital, ließ seine Lunge röntgen, einen Corona-Test machen und nahm anschließend das umstrittene Medikament Hydroxychloroquin. Danach sagte er vorerst alle Termine ab und wartete.
Am Dienstagmorgen dann lag das Ergebnis vor. Der rechtsradikale Präsident und größte Corona-Leugner in Lateinamerika hat sich mit Sars-CoV-2 infiziert, wie er selbst bekannt gab. Nun erlebt er am eigenen Leib, wie sich die 1,623 Millionen seiner Landsleute fühlen, die sich bis heute infiziert haben. Fast 65 500 Brasilianer sind an der heimtückischen Erkrankung verstorben, die der Präsident hartnäckig als „Gripezinha“, als kleine Grippe bezeichnet. „Ich begann, mich am Sonntag ein wenig schlecht zu fühlen“, sagte Bolsonaro am Dienstag. „Aber ich muss zugeben, ich hätte nicht gedacht, dass es mich treffen könnte.”
Brasilien jedenfalls, das größte und wichtigste Land Lateinamerikas, ist auch dank Bolsonaros nachlässiger Politik das nach den USA am härtesten getroffene Land der Welt. Er selbst ist nach Honduras’ Staatschef Juan Orlando Hernández der zweite Staatschef Lateinamerikas, der an Covid-19 erkrankt ist.
Seit Ausbruch der Corona-Pandemie in seinem Land Ende Februar hat sich der Präsident hartnäckig gegen die Schutzmaßnahmen im Alltag gestellt. Er verzichtet bewusst auf einen Mund-Nase-Schutz in der Öffentlichkeit und hat sich trotz steigender Infektionszahlen mit seinen Anhängern gezeigt und dabei nie auf soziale Distanz geachtet. Er löste immer wieder Massenaufläufe aus und machte Selfies mit Anhängern.
Auch am Wochenende war Bolsonaro wieder viel unter Menschen. Am Samstag nahm er gemeinsam mit mehreren Ministern und einem seiner Söhne an einem Essen anlässlich des US-Unabhängigkeitstages in der US-Botschaft teil. Zudem flog er in den Bundesstaat Santa Catarina, um sich nach den schweren Unwettern ein Bild der Lage zu machen.
Die von den Gouverneuren vor allem in den großen Staaten São Paulo und Rio de Janeiro verhängten Ausgangssperren und Geschäftsschließungen bezeichnete er wiederholt als „Verbrechen“. Er hat einen Gesundheitsminister entlassen und einen zum Rücktritt bewegt. Beide Politiker vertraten im Kampf gegen Corona eine andere Linie als der 65-Jährige. Erst am Montag hatte Bolsonaro gegen ein Gesetz sein Veto eingelegt, das die Brasilianer zum
Tragen eines Mund-Nase-Schutzes auch in geschlossenen Räumen wie Kirchen, Geschäften und Schulen verpflichten sollte.
Bolsonaro fürchtet den wirtschaftlichen Schaden eines Lockdowns mehr als die eigentliche Krankheit. Es sei notwendig, „das Virus ernst zu nehmen“, sagte er nun am Dienstag kleinlaut. Aber es sei ebenso wichtig, „die Wirtschaft zu schützen“und die Aktivitäten wieder aufzunehmen. „Denn auch die Arbeitslosigkeit tötet.“
Wiederholt hat er sich angesichts der hohen Opferzahlen zynisch und menschenverachtend geäußert.
Bolsonaro hat das größte Land Lateinamerikas gespalten. Längst teilt sich Brasilien in verbissene Verteidiger des rechtsradikalen Präsidenten, die jeden Sonntag für ihn und manchmal mit ihm in der Hauptstadt Brasilia demonstrieren und ebenso glühende Gegner. Bolsonaros Umfragewerte sinken kontinuierlich in dem Maße, wie die Zahlen der Toten und Infizierten steigen und seine politischen Skandale publik werden. Nach wie vor steht ein Drittel der Bevölkerung unverbrüchlich hinter dem Staatschef.
Und er hat die Unterstützung der Militärs, die inzwischen zehn der 22
Minister des Kabinetts stellen. 3000 weitere ehemalige Offiziere bekleiden Jobs in der Regierung.
Unterdessen werden die liberalen und bürgerlichen Kräfte nach und nach aus der Regierung gedrängt, und es bleiben neben den Militärs noch evangelikale Hetzer und Verschwörungstheoretiker übrig, die im Schatten der Pandemie die Bewaffnung der Bevölkerung durchsetzen, die Amazonas-Abholzung vorantreiben, die Rechte der Ureinwohner weiter beschneiden und das Land in eine Autokratie verwandeln, die sogar Venezuela in den Schatten zu stellen droht.