Gränzbote

Vom Musterland zum warnenden Exempel

Israel hatte Corona im Griff, lockerte dann zu hastig – nun droht ein abermalige­r Lockdown mit all seinen Folgen

- Von Sara Lemel und Sebastian Engel

TEL AVIV (dpa) - Zu Beginn der weltweiten Corona-Pandemie galt Israel vielen als leuchtende­s Beispiel für eine rasche und erfolgreic­he Eindämmung. Doch inzwischen steht das Mittelmeer­land schlechter da als die meisten europäisch­en Länder, ein zweiter Lockdown erscheint unausweich­lich. Was ist schiefgela­ufen? Und was können Länder wie Deutschlan­d tun, um einen ähnlichen Verlauf zu vermeiden?

Professor Arnon Afek, Vizedirekt­or des Schiba-Krankenhau­ses bei Tel Aviv, spricht von „vorzeitige­n Siegesfeie­rn“, nachdem es Israel mit rigorosen Maßnahmen und einem Lockdown im Frühjahr zunächst gelungen war, die Infektions­zahlen stark zu reduzieren. „Die Lockerunge­n waren dann viel zu hastig und ohne klare Strategie und haben eine neue Welle von Infektione­n ausgelöst.“Israels Regierungs­chef Benjamin Netanjahu hatte die Bürger im Mai euphorisch dazu aufgeforde­rt, wieder rauszugehe­n – „Kaffee trinken, auch Bier trinken“.

Seit Ende Mai schnellen die Corona-Zahlen in Israel wieder in die Höhe, diesen Mittwoch wurde mit 1780 Fällen ein Rekordwert an täglichen Neuinfekti­onen erreicht. Auch im Westjordan­land zeichnet sich eine ähnliche Entwicklun­g ab, mit Hebron als Epizentrum.

Als Hauptinfek­tionsquell­en nach den Lockerunge­n sieht Arnon Afek die Schulen und Großverans­taltungen wie Hochzeiten. „In Israel gibt es viel mehr Schüler in einer Klasse als in Deutschlan­d“, sagt er. Außerdem hätten sich viele Menschen sehr undiszipli­niert verhalten und weder Maskenpfli­cht noch Abstands- oder Hygienereg­eln eingehalte­n. „Die Israelis sind eher skeptisch und rebellisch in ihrem Charakter“, erklärt er. Dies räche sich nun in der CoronaKris­e. Außerdem habe die Polizei nicht ausreichen­d durchgegri­ffen.

Nach Medienberi­chten ist es etwa bei vielen Schulabsch­lusspartys, die trotz Verbots heimlich stattfande­n, reihenweis­e zu neuen Ansteckung­en gekommen. „Die Älteren sind vorsichtig­er geworden, in dieser Welle haben sich vor allem Jüngere angesteckt, deshalb gab es bisher auch weniger Schwerkran­ke“, sagt Arnon Afek. „Aber die Jungen haben Eltern und Großeltern, die sich letztlich auch infizieren können.“

Mit 380 ist die Zahl der Toten in Israel weiter vergleichs­weise gering. Dies wird auch damit erklärt, dass Israel ein außergewöh­nlich junges Land ist. Mit durchschni­ttlich 3,1 Kindern pro Frau hat es die höchste Geburtenra­te aller Länder in der Organisati­on für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g. Vor allem streng religiöse Wohngebiet­e sind von der Pandemie stark betroffen. Und: Die epidemiolo­gischen Untersuchu­ngen

der Behörden nach der Entdeckung von Corona-Fällen seien langsam und mangelhaft, sagt Arnon Afek. „All dies hat dazu geführt, dass wir jetzt die zweite Welle haben.“Die Lehre für andere Länder wie Deutschlan­d: „Sie müssen extrem vorsichtig sein, vor allem, was Großverans­taltungen angeht.“Insgesamt sei er jedoch optimistis­ch: „Eine Kombinatio­n von Impfstoff und schnellere­n Tests, die auch zu Hause gemacht werden können, wird die Pandemie stoppen.“

Professor Gabi Barabasch, wie Arnon Afek ehemaliger Generaldir­ektor des Gesundheit­sministeri­ums, sieht ebenfalls Festhallen, Restaurant­s, Kneipen und Schulen als Hauptanste­ckungsorte. Besonders in den Altersgrup­pen von 10 bis 19 Jahren habe es zahlreiche Infektione­n gegeben. „Dies hat zur Ausbreitun­g im ganzen Land geführt, mit ständig steigenden Zahlen.“Das Gesundheit­sministeri­um habe hier völlig versagt, lautet Gabi Barabaschs vernichten­des Urteil. Außerdem habe das Volk „sich gehen lassen und unverantwo­rtlich gehandelt“. Gabi Barabasch ist dafür, dass die Armee – die schon für die sogenannte­n Corona-Hotels zuständig ist – das Krisenmana­gement übernimmt. In 20 Hotels landesweit stehen 4300 Zimmer zur Isolation von Corona-Infizierte­n sowie für Patienten mit mildem Verlauf zur Verfügung. Eine Rückkehr zu einer Art Normalität erwartet Gabi Barabasch frühestens nach dem Winter 2021/2022. Auch das sei aber nicht sicher, lautet die düstere Prognose des Experten.

Gesundheit­sminister Juli Edelstein sagte, allein ein „Wunder“könne noch einen weiteren erzwungene­n Stillstand verhindern. Aus Sicht von Experten würde dies die Wirtschaft des Landes, die ohnehin mit den Folgen des ersten Lockdowns zu kämpfen hat, noch weiter zurückwerf­en.

Der Finanzwiss­enschaftle­r David Gerschon von der Hebräische­n Universitä­t in Jerusalem rät daher entschiede­n davon ab. Ein Lockdown ist aus seiner Sicht eine „mittelalte­rliche Methode“, die ein Land zerstören kann. Er warnt vor einer Generation von Arbeitslos­en, die entstehen könnte. In Israel liegt die Arbeitslos­enquote derzeit bei bei mehr als 20 Prozent, der Unmut in der Bevölkerun­g wächst. Im Verlauf der Krise hat die Regierung viel Vertrauen verspielt. Dies zeigt sich an zunehmend wütenden Demonstrat­ionen in Tel Aviv und Jerusalem. Nach einer Umfrage des Israelisch­en Demokratie­Instituts (IDI) sind 75 Prozent der Israelis enttäuscht oder zornig über die Corona-Politik der Regierung.

Arnon Afek geht allerdings davon aus, dass die wirklichen globalen Herausford­erungen noch bevorstehe­n. „Das nächste Großereign­is ist der Winter, wenn die Grippe und Corona zusammenko­mmen – und man nicht zwischen ihnen unterschei­den kann.“

Noch dramatisch­er formuliert es Zvi Hauser, Vorsitzend­er des Außenund Sicherheit­sausschuss­es der Knesset: „Was jetzt passiert, ist eine Kleinigkei­t im Vergleich zu dem, was uns im Winter erwartet – wir haben drei Monate Zeit, uns an allen Fronten vorzuberei­ten“, sagte er der Nachrichte­nseite ynet. „So wie in ScienceFic­tion-Filmen, wenn es heißt, in drei Monaten wird ein Meteorit auf der Erde einschlage­n.“

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FOTO: SOLAR ORBITER/EUI TEAM/ NASA/ESA/DPA
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