Die atomare Versuchung ist größer denn je
Die USA und Russland haben aus dem Massensterben von Hiroshima und Nagasaki vor 75 Jahren nichts gelernt – Die Weltmächte rüsten auf und gefährden damit die ganze Welt
GENF - Am 6. August 1945 setzte das US-Militär erstmals eine Atombombe in einem Konflikt ein – und veränderte mit dem Abwurf über dem japanischen Hiroshima die Welt. Mindestens 70 000 Kinder, Frauen und Männer starben sofort. Drei Tage später äscherten die USA eine zweite japanische Stadt, Nagasaki, ein. Wieder fanden Zehntausende den sofortigen Tod. Nie zuvor hatten Menschen auf einen Schlag so viele andere Menschen getötet. Insgesamt verloren Hunderttausende Menschen ihr Leben direkt – oder an den Folgen.
Hiroshima und Nagasaki symbolisieren seither die Grausamkeit moderner Kriegsführung. Und sie demonstrieren die Hybris von Politikern, die Atomwaffenangriffe als strategische Option begreifen. Die Massaker ereigneten sich in einer fern anmutenden Vergangenheit. Doch es muss weiter uneingeschränkt gelten: Hiroshima und Nagasaki dürfen sich nie wiederholen.
Zum Ende des Zweiten Weltkrieges geboten nur die USA über die neuartige Massenvernichtungswaffe. Sie brauchten keinen Gegenschlag zu fürchten. Heute aber verfügen neun Staaten über 13 400 teilweise hochmoderne Sprengköpfe, von denen mehr als 3700 gefechtsbereit sind. Die USA und Russland kontrollieren über mehr als 90 Prozent der monströsen Kriegsinstrumente, China verfügt über eine vergleichsweise geringe Zahl von 320 Sprengköpfen. Bei dieser Hochrüstung kann schon ein technischer Defekt, ein menschlicher Fehler eine Kettenreaktion auslösen und zu einem atomaren Armageddon führen. Im Vergleich zu einem Atomkrieg des 21. Jahrhunderts wäre Hiroshima nur eine mittelschwere Attacke.
Zudem schlittert die Welt immer tiefer in eine Ära der Unsicherheit und der Konflikte, in die Nuklearmächte verwickelt sind. Zwei Nuklearmächte, Indien und Pakistan, stehen sich in unversöhnlicher Feindschaft direkt gegenüber. Die geopolitische und wirtschaftliche Rivalität zwischen den USA und China beschwört einen neuen Kalten Krieg herauf. Und die Corona-Pandemie verschärft die globalen Spannungen weiter. Für das neutrale Internationale Komitee vom Roten Kreuz steht fest: Das Risiko eines Atomwaffeneinsatzes ist derzeit so hoch wie nie seit Ende des Ost-West-Konflikts.
Dass die Welt jemals frei von Atomwaffen sein wird, ist eine Illusion. Zu viele Wissenschaftler wissen, wie man die Atombombe baut. Zu groß ist die Versuchung für viele Regierungen, sich in den Kreis der Atomwaffenmächte zu drängen. Wenn ein Staat erst einmal ein Atomwaffenarsenal errichtet hat, gibt er es freiwillig nicht mehr auf. Deshalb lautet 75 Jahre nach Hiroshima das Gebot: Die Atommächte müssen zumindest ernsthaft und überprüfbar abrüsten. Eine verifizierte Verschrottung der Waffen verringert den Anreiz für andere Staaten aufzurüsten. Sie vermindert die Gefahr des Einsatzes. Sie schafft Vertrauen und kann eine Partnerschaft auf anderen
Gebieten einleiten. Eine besonders große Verantwortung für die Abrüstung und damit für den atomaren Frieden tragen die USA: Sie leiteten das Zeitalter des atomaren Schreckens ein. Sie haben bis heute die stärkste Nuklearstreitkraft. In Washington regiert aber ein Präsident, dem die Konfrontation näher liegt als die Kooperation. Die zweitstärkste Atommacht, Russland, vertraut ebenso dem nuklearen Muskelspiel. Vor allem sein Militärarsenal verschafft Präsident Wladimir Putin die Gewissheit, dass er eine Großmacht regiert. Von der wirtschaftlichen Weltmacht China kommen ebenso keine ernsthaften Abrüstungsinitiativen.
Wenig überraschend kündigten die USA und Russland im vorigen Jahr den INF-Vertrag: Das bilaterale Abkommen von 1987 ächtete bodengestützte Raketen und Marschflugkörper mittlerer Reichweite, die Atomsprengköpfe tragen. Es handelte sich immerhin um jene Übereinkunft, die ein jahrzehntelanges nukleares Wettrüsten beendet hatte. Gefährdet scheint nun auch „New Start“, der Vertrag zwischen Washington und Moskau über die Begrenzung strategischer Nuklearwaffen. Die letzte gültige bilaterale Vereinbarung über atomare Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland läuft im Februar 2021 aus. Verhandlungen über eine Verlängerung verliefen wenig erfolgversprechend. China weigert sich, den Gesprächen beizutreten.
Die Folgen eines Scheiterns: Das schon begonnene neue Wettrüsten der alten Rivalen USA und Russland könnte sich intensivieren – und Europa wäre ein potenzielles Einsatzgebiet. Mit ihrer Politik brechen die
USA und Russland, aber auch China nicht nur den Atomwaffensperrvertrag von 1970. In dem Abkommen verpflichten sich die Atomwaffenmächte „zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle“. Die Drei zielen auch darauf, atomar immer schlagkräftiger zu werden. Nach Schätzungen des „Congressional Budget Office“werden die Vereinigten Staaten in den nächsten drei Jahrzehnten 1200 Milliarden US-Dollar in die Erneuerung und Erhaltung ihres Atomwaffenarsenals stecken. Russland kann zwar nicht mithalten, was die Finanzkraft angeht, entwickelt aber furchteinflößende Waffen. So stoßen die Russen mit ihrer Hyperschallrakete Avangard in neue militärtechnische Dimensionen vor. Präsident Putin hält seine Wunderwaffe, die mit Atomsprengköpfen bestückt werden kann, für „unbesiegbar“. Und er hofft, im Wettlauf um die tödlichsten Raketen die Nase vorn zu haben – vor Washington und Peking.
Die US-amerikanische wie die russische Führung haben aus Hiroshima nichts gelernt. Durch ihr stures Festhalten an einer überdimensionierten und sündhaft teuren atomaren Rüstung bedrohen US-Amerikaner und Russen sich nicht nur gegenseitig. Sie gefährden die ganze Welt.