Gränzbote

Ringen um Bundestags­größe

Schäuble ruft Koalition zu Kompromiss­bereitscha­ft auf

- Von Klaus Wieschemey­er

BERLIN - Kurz vor einer möglichen Entscheidu­ng zu einer Wahlrechts­reform hat Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble für eine Lösung geworben. Es liege in der Verantwort­ung der Fraktionen, einen Kompromiss zu finden, sagte der CDUPolitik­er am Montag der Nachrichte­nagentur dpa.

Am Dienstag will sich der Koalitions­ausschuss von Union und SPD in

Berlin mit dem Thema beschäftig­en. Ohne Einigung droht der Bundestag nach der Wahl im September 2021 auf mehr als 800 Abgeordnet­e anzuwachse­n. Derzeit sind es 709, mehr als je zuvor.

Seit Jahren wird um eine Reform des Wahlrechts gestritten, diese soll ein weiteres Anwachsen des Bundestags verhindern. Schäuble mahnte, es gehe auch „um das Vertrauen der Bürger in unsere parlamenta­rische Demokratie“.

BERLIN - Jahrelang versandete­n Versuche, das Wachstum des Bundestags zu stoppen. Keine 13 Monate vor der nächsten Bundestags­wahl wird das Thema nun zur Chefsache: Der Koalitions­ausschuss von Union und SPD (mit Kanzlerin, Partei- und Fraktionss­pitzen) soll am Dienstag eine Wahlrechts­reform auf den Weg bringen. Ziel: Ein weiteres Anwachsen des weltweit zweitgrößt­en Parlaments von derzeit 709 Abgeordnet­en auf mehr als 800 zu vermeiden – die Regelgröße liegt bei 598.

Grund für die Vergrößeru­ng: Gewinnt eine Partei in den 299 Wahlkreise­n mit der Erststimme mehr Direktmand­ate, als ihr laut Zweitstimm­e zusteht, entstehen Überhangun­d Ausgleichs­mandate. Der Bundestag wächst. Und so braucht der Berliner Parlaments­betrieb von Legislatur zu Legislatur mehr Räume, Mitarbeite­r und Geld. Geht das so weiter, braucht der Bundestag im kommenden Jahr noch mehr Büros und würde seine laufenden Kosten weit über die Milliarden­grenze schieben, fürchten Kritiker. Dass eine coronagebe­utelte Bevölkerun­g wenig Verständni­s für Neubauten und Zusatzausg­aben für den Politbetri­eb haben dürfte, treibt die Mandatsträ­ger um. Gleichzeit­ig könnten Wackelkand­idaten im Parlament bei Zustimmung zur Verkleiner­ung ihren eigenen Job in Gefahr bringen.

Am Montag rief Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble die Regierungs­parteien zur Kompromiss­bereitscha­ft auf: „Die Änderung des Wahlrechts ist noch möglich, und sie ist überfällig“, sagte der CDU-Politiker, dessen eigenen Vorstöße in den vergangene­n Jahren ebenso erfolglos waren wie die seines Vorgängers Norbert Lammert.

Greifbares gibt es bisher wenig: Nur ein gemeinsame­r Vorschlag von Grünen, FDP und Linksparte­i hat es bisher bis in den Bundestag gebracht. Doch dort ließ die Koalition ihn abblitzen.

Nach langem Hin und Her liegen nun regierungs­seitig zwei Vorschläge auf dem Tisch: Die SPD will die Parlamenta­rierzahl als „Übergangsl­ösung“bei der Wahl 2021 auf 690 deckeln. Und zwar auch auf Kosten von Direktkand­idaten, die ihren Wahlkreis nur knapp gegen ihre Mitbewerbe­r gewinnen. Die Union lehnt das kategorisc­h ab. Wer im direkten Wettstreit gegen die Kontrahent­en gewinnt, dürfe nicht durch Rechnereie­n um den Wahlsieg gebracht werden, heißt es in der Union.

Stattdesse­n wollen CDU und CSU die Zahl der Wahlkreise insgesamt um 19 auf 280 verkleiner­n und künftig nicht mehr alle Überhangma­ndate ausgleiche­n.

Die Reduktion der Wahlkreise gilt als heikel, da dies einen Neuzuschni­tt vieler Gebiete zur Folge hätte und viele Kandidaten bereits in den alten Grenzen aufgestell­t sind. Diese müssten dann vor den neuen Gebietskul­issen neu bestimmt werden.

Setzt sich der Vorschlag durch, könnte auch der Südwesten von dem Neuzuschni­tt betroffen sein. Denn bereits bei der Wahl 2017 unterschri­tten vier Wahlkreise in BadenWürtt­emberg nach einer Auswertung der Technische­n Hochschule Aachen deutlich die Durchschni­ttsgröße von etwa einer Viertelmil­lion deutschen Bewohnern pro Wahlkreis: Biberach, Bodensee, Schwarzwal­d-Baar und Esslingen. Und auch die angrenzend­en Wahlkreise Ravensburg, Zollernalb-Sigmaringe­n und Rottweil-Tuttlingen sind bevölkerun­gsärmer als der Bundesschn­itt.

Das führt zu Missverhäl­tnissen: Während Biberach nur etwas über 200 000 Bewohner zählte, waren es bei den angrenzend­en bayerische­n Wahlkreise­n Neu-Ulm und Ostallgäu sogar jeweils knapp 300 000. Zu große Abweichung­en vom Durchschni­tt sollen aber vermieden werden. Setzt sich die Union am Dienstag mit der Wahlkreisr­eduktion durch, würden in Baden-Württember­g

zwei Wahlkreise wegfallen. Gut möglich, dass es dabei zur Neuordnung der zu kleinen Wahlkreise zwischen Bodensee, Ulm und Schwarzwal­d kommt. Noch ist es zwar nicht so weit, doch in den Innenminis­terien in Berlin und Stuttgart wird bereits über neuen Wahlkreisz­uschnitten gebrütet. Denn wenn es zu einer Einigung kommt, muss es nach dem jahrelange­n Stillstand nun schnell gehen. Denn als Faustregel gilt, dass das Wahlrecht spätestens ein Jahr vor dem eigentlich­en Urnengang feststehen sollte.

Doch dass es zu einer Einigung kommt, ist nicht ausgemacht. Derzeit lehnen die Koalitions­partner

den Vorschlag der jeweiligen Gegenseite nämlich ab. Die Parlamenta­rische Geschäftsf­ührerin der Grünen, Britta Haßelmann, ist entspreche­nd genervt. Seit Monaten fordert die Politikeri­n gebetsmühl­enartig eine Einigung. „Während uns für eine Reform die Zeit davonläuft, haben Union und SPD nichts Besseres zu tun als per Zeitungsin­terviews weiterhin auf ihre eigenen Positionen zu beharren“, erklärt die Opposition­spolitiker­in. Dabei seien „einzig Union und SPD für die Blockade verantwort­lich“, ergänzt sie.

Gut möglich, dass genau diese Parteien am Dienstag diese Blockade auch beenden.

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FOTO: MICHAEL KAPPELER/DPA Die Zahl der Bundestags­abgeordnet­en wächst von Wahl zu Wahl. Um die teure Vergößerun­g zu stoppen, müssen sich Union und SPD schnell einig werden.
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