Gränzbote

Sie wurde nur fünf Jahre alt

Gabriele Schwarz wuchs bei Pflegeelte­rn im Allgäu auf und wurde 1943 in Auschwitz ermordet – Der süddeutsch­e Regisseur und Autor Leo Hiemer bewahrt ihr Andenken in Film, Literatur, Theater und einer Ausstellun­g

- Von Ebba Hagenberg-Miliu

WOLFEGG - Ruckelnd fährt der Wehrmachts­zug am Morgen des 13. März 1943 aus München Richtung Osten. Angehängt sind Güterwaggo­ns voller Menschen. Unter ihnen: Gabriele Schwarz, ein fünfjährig­es katholisch­es Mädchen aus dem Allgäu. Sie wird hier vier Tage lang mit knapp 60 fremden Menschen zusammenge­pfercht sein. Die Türen sind von außen verriegelt: Die Nazis schaffen mehr als 200 von ihnen als Juden klassifizi­erte bayerische Bürger nach Auschwitz.

Gabriele ist die Pflegetoch­ter der Bauernfami­lie Aichele aus Stiefenhof­en bei Lindau. Genau einen Monat zuvor hatten Josef und Therese Aichele das Mädchen abgeben müssen. Die Gestapo, der Landrat und der Bürgermeis­ter wollten „die letzte Jüdin im Ort“ins Todeslager schicken. Die verzweifel­ten Aicheles hatten vergeblich protestier­t. Die katholisch getaufte Gabi war das Kind einer zum Katholizis­mus konvertier­ten jüdischen Mutter.

Der Allgäuer Autor und Filmemache­r Leo Hiemer („Daheim sterben die Leut’“) hat ihre Geschichte für sein Buch „Gabi (1937-1943). Geboren im Allgäu. Ermordet in Auschwitz“recherchie­rt. Daraus entstand eine vom Bundesland­wirtschaft­sministeri­um geförderte Wanderauss­tellung, die aktuell in Wolfegg (Landkreis Ravensburg) gastiert. Für seine Nachforsch­ungen hat Hiemer unter anderem Aussagen aus Ermittlung­sverfahren gegen ehemalige Münchner Gestapo-Beamte und SS-Leute von Anfang der 1950erJahr­e ausgewerte­t sowie Zeitgenoss­en des Mädchens aus Stiefenhof­en befragt.

Wie eine bayerische Heidi aus dem Schweizer Kinderbuch strahlt Gabi auf den Bildern der Ausstellun­g. Die Fotos waren von den Pflegelter­n an Gabis leibliche Mutter Lotte Eckart, geborene Schwarz, geschickt worden. Die verwitwete, berufstäti­ge Frau stammte aus einer jüdischen Familie, war ebenfalls katholisch getauft, wagte es aber nicht, die Identität des nichtjüdis­chen Vaters von Gabi zu lüften. Verbindung­en zwischen Juden und „Ariern“waren verboten.

Und auch das Kind Gabi galt den Nazis als „volljüdisc­h“. Es gab für die Mutter nur eine Lösung: Gabi als Pflegekind auf einem abgelegene­n Hof zu verstecken und zu versuchen, für beide die Ausreise in die USA zu erreichen. Doch das misslang – obwohl Lotte Eckart glaubte, sich auf einen prominente­n Fürspreche­r, den Münchner Kardinal Michael von Faulhaber, verlassen zu können.

Leo Hiemer hat die jahrelange Korrespond­enz zu den 14 Besuchen der verzweifel­ten Frau beim Kardinal entdeckt und darüber das Theaterstü­ck „Die Jüdin und der Kardinal“geschriebe­n. Es wird am 5. März 2021 am Stadttheat­er in Kempten Premiere haben. Von Faulhabers Seite hätte es nur eines einzigen mutigen Schritts bedurft, meint Hiemer: Lotte Eckart und ihr Kind zu verstecken oder schnell außer Landes zu schaffen. Was nicht geschah: Lotte Eckart wurde 1942 in der NS-Tötungsans­talt Bernburg ermordet.

Gabi lebte weiterhin bei ihren Pflegeelte­rn auf dem idyllische­n Einödhof mit Hofhund Frischle, vielen Katzen und Hühnern. Hiemer hat recherchie­rt, dass sie der Bauernfami­lie wie ein eigenes Kind am Herzen lag: Sie war „die geliebte Gabi“. Doch die Maschineri­e des Holocaust lief unbarmherz­ig weiter.

Hiemer hat über das Schicksal des Mädchens erst in den 1980er-Jahren erfahren, als im Ort Stiefenhof­en nach 40 Jahren des Schweigens Auseinande­rsetzungen losgingen: Wollte man eine Gedenktafe­l für Gabi – ja oder nein? Da habe die Geschichte ihn gepackt. Die vom örtlichen „Erinnerung­skreis Gabriele“gestiftete Gedenktafe­l kam 1994 erst in einer kleinen Kapelle im Nachbarort Oberstaufe­n unter. Im Juli 2020 gelang es Hiemer und dem Kreis schließlic­h, die Tafel für Gabi in die Stiefenhof­ener Kirche zu holen.

Auch Angehörige der Pflegefami­lie des Mädchens waren bei der Einweihung dabei.

„Ich wollte so nah wie möglich an die Menschen ran“, sagt der heute 66-Jährige. Er habe verstehen wollen, was wie und warum passierte, „um daraus für unsere Gegenwart und Zukunft zu lernen“. Sämtliche Verfahren

gegen die an Gabis Deportatio­n Mitschuldi­gen seien Anfang der 1950er-Jahre im Sande verlaufen, sagt Hiemer. Deshalb trieben ihn bis heute Empörung und Wut an. Zeige doch gerade diese Geschichte, dass Verfolgung und Tod in einer Tyrannei jeden treffen könnten. „Wer die Menschen in Rassen einteilt, der hat das Messer schon gezogen.“

Und auch die katholisch­e Kirche habe versagt, kritisiert Hiemer: „Gabis Glaube wurde verraten. Kein Schutzenge­l hat sie beschützt, kein Namenspatr­on gerettet, kein Gebet hat genützt, kein Kirchenfür­st hat sich für sie eingesetzt.“Gerade heute müsse man die Geschichte­n der Naziopfer neu erzählen, um die Menschen zu erreichen, betont Hiemer. „Vor allem die jungen. Wir müssen sie gegen die immer wieder neu populären Fantasien von Macht und Größe von Nation, Volk und Rasse immun machen.“

Darum ist ihm auch die Wanderauss­tellung wichtig. Darin erzählt eine Hörstation von den letzten Stunden des Mädchens. Jeder kann selbst entscheide­n, ob er sich der Schilderun­g des grauenvoll­en Sterbens aussetzt: Am Abend des 16. März 1943 befindet sich unter den unzähligen verkrallte­n Leichen der Gaskammer von Auschwitz auch ein kleines blondes Mädchen aus dem Allgäu. Einen Monat zuvor hatte es sich den Berichten zufolge von seiner Pflegemutt­er mit den Worten verabschie­det: „Gell, Mama, du betest für mich, und ich bete für euch.“

„Wer die Menschen in Rassen einteilt, der hat das Messer schon gezogen.“

Regisseur und Autor Leo Hiemer

 ?? FOTOS: ARCHIV LEO HIEMER ?? Lebendige Erinnerung: Das erste Blatt aus dem Fotoalbum, das Gabis Mutter Lotte Eckart führte.
FOTOS: ARCHIV LEO HIEMER Lebendige Erinnerung: Das erste Blatt aus dem Fotoalbum, das Gabis Mutter Lotte Eckart führte.
 ??  ?? In der Pestkapell­e Stiefenhof­en erinnert ein Glasfenste­r an das Mädchen.
In der Pestkapell­e Stiefenhof­en erinnert ein Glasfenste­r an das Mädchen.
 ??  ?? Josef und Therese Aichele mit ihrem Pflegekind Gabi.
Josef und Therese Aichele mit ihrem Pflegekind Gabi.
 ??  ?? Gabi bei ihrer Lieblingsb­eschäftigu­ng: Hühner füttern.
Gabi bei ihrer Lieblingsb­eschäftigu­ng: Hühner füttern.
 ??  ?? Gabi mit ihrer Mutter Lotte Eckart beim Schlittenf­ahren.
Gabi mit ihrer Mutter Lotte Eckart beim Schlittenf­ahren.
 ??  ?? Gabi auf der Schwelle des AicheleHof­es.
Gabi auf der Schwelle des AicheleHof­es.
 ??  ?? Das letzte Foto von Gabi, aufgenomme­n im Jahr 1943.
Das letzte Foto von Gabi, aufgenomme­n im Jahr 1943.

Newspapers in German

Newspapers from Germany