Gränzbote

Weiter Streit um Verbot der Berliner Demonstrat­ion

Eilantrag der Veranstalt­er-Initiative Querdenken 711 – Ex-Bundesrich­ter Fischer sieht Grundrecht­e nicht in Gefahr

- Von Erich Nyffenegge­r

BERLIN (dpa/nyf) - Die Polizei wird am Samstag im Regierungs­viertel in der Bundeshaup­tstadt einiges zu tun bekommen – entweder um eine verbotene Demonstrat­ion gegen die Corona-Politik zu verhindern oder um eine erlaubte Protestver­anstaltung zu begleiten. Doch zunächst sind die Richter gefragt: Nach dem Verbot der geplanten Demonstrat­ion in Berlin

hat die Veranstalt­er-Initiative Querdenken 711 aus Stuttgart wie erwartet Widerspruc­h gegen die Verbotsver­fügung der Berliner Polizei eingelegt. Ein entspreche­nder Eilantrag sei am Donnerstag per Fax beim Berliner Verwaltung­sgericht eingegange­n, sagte ein Gerichtssp­recher. Die Entscheidu­ng falle wahrschein­lich am heutigen Freitag.

Das Verbot ist umstritten. Am Donnerstag zweifelte unter anderem die FDP daran. „Das Berliner DemoVerbot kann den Eindruck erwecken, unbequeme Meinungen würden unterdrück­t“, schrieb Parteichef Christian Lindner bei Twitter. Die meisten Juristen sehen dies anders. Thomas Fischer, einst Strafricht­er am Bundesgeri­chtshof und nun Kolumnist beim „Spiegel“, denkt, dass das Verbot gerechtfer­tigt ist. Der 67-Jährige lobte im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“die Konsequenz des Berliner Senats. Er sehe kein Grundrecht in Gefahr, „wenn es die Situation gebietet, kann und muss der Staat Einschränk­ungen beschließe­n, um das höhere Gut, etwa die Gesundheit, zu schützen“.

STARNBERG

- Wenn für den Laien die Juristerei ein Buch mit sieben Siegeln ist, müssen wir uns Thomas Fischer als einen Menschen vorstellen, der alle diese Siegel gebrochen, das Buch geöffnet, es gelesen, verstanden und in Teilen sogar neu- und fortgeschr­ieben hat. Als einen Juristen, der auf den Strafrecht­sparagrafe­n einmal quer durch die Republik geritten ist: vom kleinen Amtsgerich­t im bayerische­n Weißenburg über die Schwurgeri­chtskammer in Leipzig weiter durchs Justizmini­sterium in Dresden bis schließlic­h hin zum großen Bundesgeri­chtshof in Karlsruhe. Viel mehr geht nicht im Deutschlan­d der Staatsanwä­lte, der Verteidige­r, der Richter, der Angeklagte­n und der Verurteilt­en. Keine schlechte Karriere für einen, der die Schule abgebroche­n und erst mit 27 Jahren sein Jurastudiu­m aufgenomme­n hat.

Inzwischen ist der massige Mann 67 Jahre alt und sitzt in seinem Haus in Starnberg am See an einem weißen Tisch im zukünftige­n Esszimmer. Hinter ihm türmen sich Umzugskart­ons bis knapp unter die Decke. Neben ihm schweigen die schwarz-weißen Tasten eines Keyboards. Kaffee könne er keinen anbieten, den habe er in den Wirren umtriebige­r Tage vergessen. Wasser habe er da, Saft ebenfalls. Das neue Domizil, so wird er am Ende eines längeren Gesprächs sagen, sei zwar ein Platz zum Wohnen. Ein eigentlich­es Zuhause, das könne er aber nicht benennen. „Das ist da, wo mein Schreibtis­ch steht.“Bis vor Kurzem stand der noch – immerhin 20 Jahre lang – im baden-württember­gischen Baden-Baden. Das Arbeitsmöb­el soll künftig ein Stockwerk weiter oben Platz finden, wenn alles fertig ist, mit Blick auf den See und die Alpen. Dass es aber noch ein bisschen dauern kann, belegt der schrille Lärm des Fliesenleg­ers, der irgendwo im Erdgeschos­s Keramik mit der Säge zerteilt.

Vom Sägen und Zerteilen könnte auch Thomas Fischer Geschichte­n erzählen. Solche, für die sich ein großer Teil der Bevölkerun­g begeistert, weil sie vermeintli­ch die menschlich­en Abgründe belegen. Podcasts, in denen Kriminalfä­lle besprochen werden, finden viele Zuhörer. Auch Fischer ist Teil einer solchen Sendung, die wiederum Teil eines alten Unterhaltu­ngsgenres ist, das eigentlich als Gerichtsbe­richtersta­ttung in den Zeitungen immer schon da war, sich jetzt aber als „True-Crime“neu etikettier­t.

Als Strafrecht­sspezialis­t und ehemaliger Vorsitzend­er einer Schwurgeri­chtskammer, die jahrein, jahraus nichts anderes macht, als Tötungsdel­ikte zu verhandeln, weiß Fischer, wozu Menschen fähig sind. „Immer wenn Sie glauben, es ist nicht vorstellba­r, dass ein Mensch dem anderen so etwas antut, kommt wenig später einer, der genau das macht.“Und was macht das dann mit einem Richter? Fischer schaut ungerührt durch die Gläser seiner schmalen Brille. „So eine Art Supervisio­n, das gibt es nicht.“Keine psychologi­schen Angebote vom Dienstherr­n. Richter würden auf die Dinge, die einem im Verhandlun­gssaal begegneten, nicht vorbereite­t. Nicht auf die grausamen Bilder, nicht auf die Gesichter der Opfer. „Sie werden ins kalte Wasser geschmisse­n. Einiges geht ihnen schon nach“, sagt Fischer und lässt aber zugleich keinen Zweifel daran, dass ihn kein Fall je dazu bewogen habe, darüber nachzudenk­en, ernsthaft das Handtuch zu werfen. Die Robe an den Nagel zu hängen und vielleicht zurückzuke­hren zum gelben Dienstfahr­zeug und wieder als Paketzuste­ller bei der Post zu arbeiten, sei nie infrage gekommen. Weglaufen sei nicht seine Sache.

Es hat einige Zeit gedauert, bis Thomas Günther Otto Fischer seine Berufung fand. Geboren als Sohn eines Arztes im Sauerland bricht er die Schule als junger Kerl ab, um Rockmusike­r zu werden. Der Plan scheitert, viele Worte sind ihm dazu heute nicht mehr zu entlocken, den Namen der Band und damit des Scheiterns will er nicht verraten. Er wird zur Bundeswehr eingezogen, weil seine Kriegsdien­stverweige­rung zunächst abgelehnt und erst beim dritten Anlauf bewilligt wird. Mit dem nachgeholt­en Abitur in der Tasche beginnt Fischer ein Germanisti­kstudium in Frankfurt, sagt aber von dieser Zeit, er habe sich nicht gerade mit großem Enthusiasm­us in die Materie gestürzt. Immerhin wirkt seine Begabung für klare Sprache bis heute nach – etwa in den Kolumnen zunächst für die Wochenzeit­ung „Die Zeit“, mit der er sich nach zwei Jahren überwirft, und inzwischen für den „Spiegel“. Nachdem Fischer das Studium hinschmeiß­t, nimmt er Hilfsarbei­terjobs an und landet schließlic­h im Paketdiens­t, wo er es knapp vier Jahre aushält. Er beginnt reichlich spät mit 27 Jahren sein Jurastudiu­m in Würzburg. „Von da an wusste ich, dass ich da richtig bin“, erinnert sich der Jurist. Anders ist sein Galopp in nur sieben Semestern bis zum ersten Staatsexam­en auch kaum zu erklären. Den ansonsten üblichen Umweg über die Staatsanwa­ltschaft muss er nicht machen – die Umstände erlauben es ihm, sofort als Richter zu arbeiten. „Eigentlich war mein Ziel, Strafverte­idiger

zu werden. Dass es anders kam, liegt daran, dass ich nicht gleich eine entspreche­nde Stelle in einer Kanzlei gefunden habe.“

Später wird Fischer wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r an der Universitä­t Würzburg. Und dann schließlic­h Leipzig – als Vorsitzend­er der Schwurgeri­chtskammer am Landgerich­t. Er exponiert sich noch in weiteren Positionen, nimmt Lehraufträ­ge an, hält Vorträge und wird schließlic­h 1999 erstmals für den Bundesgeri­chtshof (BGH) in Karlsruhe vorgeschla­gen – und scheitert mit seiner Bewerbung. „Ich wollte das schon sehr. Dass es nicht geklappt hat, hat mich damals wahnsinnig geärgert.“

Ein Jahr später klappt es dann doch. Und so wird der 2. Strafsenat am BGH sein berufliche­s Schicksal, denn: „Es hat nicht lange gedauert, da hatte ich viele

Feinde.“Fünf Richter gehören einem solchen Senat an. Ihre Aufgabe ist es, eine Flut von Urteilen und Revisionen auf Verfahrens­und Rechtsfehl­er zu überprüfen. Ein Meer aus Akten, Jahr für Jahr. Dass es nach menschlich­em Ermessen nicht möglich sei, diese Aufgabe aufgrund der schieren

Menge wirklich gewissenha­ft zu erfüllen, dürfe man am BGH zwar denken, aber nicht laut sagen. Doch genau das macht Fischer – und wird daraufhin als Nestbeschm­utzer heftig angegangen. „Zum Schluss hat mich die Hälfte der Bundesrich­ter nicht mehr gegrüßt“, erinnert sich der seit 2017 pensionier­te Jurist. Die Sache habe sich trotzdem gelohnt – in verschiede­nen Grundsatzu­rteilen, die nun Teil der Rechtsgesc­hichte sind, hat sich Fischer verewigt.

Dinge zu sagen, die anderen nicht passen, das ist vielleicht ein bisschen so etwas wie sein Markenzeic­hen. Und er nimmt dafür auch als Kolumnensc­hreiber Konsequenz­en in Kauf. Als er das Vorgehen der „Zeit“-Redaktion im Zusammenha­ng mit Recherchen im Missbrauch­sskandal um Regisseur Dieter Wedel in einem Text als selbstgere­cht kritisiert und klarstellt, dass eine Zeitungsre­daktion nicht die bessere Strafverfo­lgungsbehö­rde als die Staatsanwa­ltschaft sei, wird seine Kolumne nicht nur gestrichen – „die haben mir sogar das Abonnement einseitig aufgekündi­gt“. Doch Gegenwind ist Fischer auch von Seiten der Leser gewohnt: Als er in einer seiner Kolumnen den Fall des TV-Sternchens Gina Lisa Lohfink und ihren Missbrauch­sprozess kommentier­t, fliegen die Fetzen. Fischer hatte ohne Wertung des inhaltlich­en Verfahrens geschriebe­n, das Geschäftsm­odell Lohfinks sei es, ihre Silikonbrü­ste zu präsentier­en.

Mit Volkszorn kennt sich der Richter aber auch in anderer Hinsicht aus: „Wenn Sie die Leute fragen, was man mit Tätern anstellen soll, die schwere Straftaten begangen haben, dann wird Ihnen ganz anders.“Die Forderung nach grausamer Strafe und damit Rache, sei in solchen Umfragen weit überzogen. Auch die damit verbundene Maxime, bestimmte Verbrecher für immer und alle Zeit wegzuschli­eßen. Fischer sagt dazu: „Menschen können sich ändern.“Und erinnert in der jüngsten Ausgabe des SWR2Podcas­ts „Sprechen wir über Mord“an „mindestens eine Generation, mit der wir aufgewachs­en sind und die sechs Millionen Juden umgebracht hat“. Und er fügt an: „Und die haben dann sehr schöne und ordentlich­e Leben in ihren gepflegten Vorgärten geführt und haben uns erzogen. Menschen können sich also ändern.“

Der Mensch, das ambivalent­e Wesen, zu besichtige­n derzeit auch auf sogenannte­n Grundrecht­eDemos, um gegen die Auflagen wegen der Corona-Pandemie zu protestier­en. Thomas Fischer: „Natürlich dürfen diese Leute demonstrie­ren, sogar dummes Zeug reden.“Was aber nicht gehe, sei dabei bewusst gegen die Vorschrift­en zu verstoßen, gegen die sich ihre Wut richtet. Insofern begrüßt Fischer die konsequent­e Haltung des Berliner Senats, der aktuell eine CoronaDemo­nstration verboten hat. „Sie können in Deutschlan­d zwar gegen das Gesetz demonstrie­ren, das Sachbeschä­digung verbietet und strafbar macht. Aber Sie dürfen dabei natürlich auch nicht alles kurz und klein schlagen und Schaufenst­er zertrümmer­n.“Auch das ein typisch Fischer’sches Bild, fern irgendwelc­her juristisch­en Sprachklau­seln, das seine Haltung auf den Punkt bringt. Er jedenfalls sehe kein Grundrecht in Gefahr – „wenn es die Situation gebietet, kann und muss der Staat Einschränk­ungen beschließe­n, um das höhere Gut, etwa die Gesundheit, zu schützen“.

Und neben dem Schreiben, den Paragrafen, den Scharmütze­ln und vielen Auseinande­rsetzungen aus einer 40-jährigen Juristenka­rriere – was bestimmt sonst noch sein Leben? Er wendet den Kopf zum Keyboard. Es habe eine Zeit gegeben, da habe er jedes Jahr eine CD nur für sich selbst komponiert und eingespiel­t. Vor dem Haus steht ein gefährlich schnell und furchtbar unbequem aussehende­r Sportwagen. Im hinteren Raum, neben den Kartons, steht ein rotes Rennrad aus Stahl. „Mit dem bin ich ungefähr 90 000 Kilometer gefahren, auch wenn man mir das heute nicht mehr so richtig ansieht.“Er wolle wieder mehr Rad fahren, aber auf breiteren Reifen. Fischer hat zwei erwachsene Söhne, die keine Juristen geworden sind. Rechtsprec­hung liegt nicht in der Familie. Recht haben vielleicht? Fischer lächelt. Eitelkeit jedenfalls, davor sei kein Richter gefeit – auch er nicht.

Aus dem frühen ist ein später Nachmittag geworden. Der Fliesenleg­er schaut noch kurz herein, kündigt sich für morgen wieder an. Der Richter bedankt sich und verabschie­det den Handwerker höflich. Für heute genug gesägt und zerteilt.

„Immer wenn Sie glauben, es ist nicht vorstellba­r, dass ein Mensch dem anderen so etwas antut, kommt wenig später einer, der genau das macht.“

Ex-Richter Thomas Fischer über seine Erfahrung in Strafrecht­sprozessen

„Wenn es die Situation gebietet, kann und muss der Staat Einschränk­ungen beschließe­n, um das höhere Gut, etwa die Gesundheit, zu schützen.“

Ex-Richter Thomas Fischer über die Auflagen in der Corona-Pandemie

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