Schweiz stimmt über EU-Ausländer ab
Die Schweiz stimmt erneut über Zuwanderung ab – Es drohen Verwerfungen mit der EU
BERN (dpa/sz) - Am Sonntag ist wieder einmal Volksabstimmungstag in der Schweiz. Mit Spannung wird vor allem das Votum über den Zuzug von EU-Ausländern erwartet. Die sogenannte Begrenzungsinitiative, die von der rechten Schweizer Volkspartei (SVP) lanciert wurde, zielt darauf ab, die bislang geltende Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union aufzukündigen. Eine Zustimmung der Bürger würde die Beziehungen zwischen Brüssel und Bern infrage stellen, weil von EU-Seite die Personenfreizügigkeit Voraussetzung für den Schweizer Zugang zum EU-Binnenmarkt ist.
Am Sonntag stimmt das direktdemokratische Schweizer Volk über die Initiative „Für eine massvolle Zuwanderung“ab. Was so maßvoll und fast „nett“klingt, ist starker politischer Tobak, heißt umgangssprachlich „Begrenzungsinitiative“und wurde von der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) lanciert. Wenig maßvoll und gar nicht „nett“hat die SVP den blauen europäischen „breiten Arsch“in ihrem Extrablatt zur Wahl Anfang September auf die kleine zerbrechliche Schweiz gesetzt – in roter Landesfarbe mit weißem Schweizerkreuz. Zu viel Zuwanderung sei zu viel, schreibt die SVP und fügt wörtlich hinzu: „Wir wollen keine 10-Millionen-Schweiz.“
Das stimmt natürlich, und das kann auch kein vernünftiger Mensch wollen – egal ob In- oder Ausländer. Die SVP kämpft bereits zum zweiten Male gegen zu viele Ausländer. 2014 hieß es noch „Masseneinwanderungsinitiative“. Sie wurde vom Volk sogar sehr knapp angenommen, aber vom Bundesrat, der Regierung der Schweiz, und dem Parlament aus Sicht der SVP nicht scharf genug umgesetzt, weil die Regierung eben nicht den Bruch mit Brüssel riskieren wollte. Denn wenn man die Zuwanderung begrenzt, dann beißt sich das mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen (FZA) mit der Europäischen Union (EU). Das FZA ist eines der vier kaum verhandelbaren Grundrechte der EU.
Die Krux ist aber eine andere: Mit dem FZA stehen auch alle anderen sechs bilateralen Abkommen über den freien Marktzugang zur EU zur Disposition, die ein exzellentes Vertragswerk für ein Nicht-EU-Mitglied sind. Das kleine Land hat über die „Bilateralen“praktisch unbegrenzten Zugang zum großen europäischen Binnenmarkt, nimmt beispielsweise teil am Forschungsabkommen, was für ein forschungsintensives Land sehr wichtig ist, ist in den Luftverkehr eingebunden, kann an öffentlichen Ausschreibungen in der EU wie ein Mitglied teilnehmen und hat mit der EU ein Abkommen über den Abbau technischer Handelshemmnisse, was einer Anerkennung der Standards gleichkommt.
Besser geht es nicht, wenn man dennoch kein EU-Mitglied sein will.
Es steht für alle Seiten etwas auf dem Spiel, wobei die Schweiz sicher viel mehr riskiert. Die Schweiz hat eine Exportquote – gemessen an ihrer Wirtschaftsleistung – von über 60 Prozent. Etwas über die Hälfte aller Exporte der Schweiz gehen in die EU. Und Deutschland ist der größte Handelspartner der Schweiz, während die Schweiz für Deutschland auf Rang neun liegt. Die Schweiz exportierte 2019 Waren für 47,7 Milliarden Euro nach und importierte für 57,2 Milliarden Euro aus Deutschland. Baden-Württemberg ist der wichtigste deutsche Länderpartner, umgekehrt rangiert die Schweiz auf Rang vier – nach den USA, China und Frankreich.
Allein rund 300 Firmen in der Schweiz sind Zulieferer für die deutsche Automobilindustrie mit einem Umsatz von acht Milliarden Euro. Oder die Chemie- und Pharmabranche, die 2017 Waren im Wert von 15,5 Milliarden Euro nach Deutschland exportierte, wie es in der Analyse der Schweizer Botschaft in Deutschland heißt. Für die Region Ostschweiz, in der sogar zwei Drittel der Wirtschaftsleistung vom Export mit der EU abhängt (schweizweit 50 Prozent), errechnet die IHK St. Gallen die Wachstumseinbußen auf 7,4 Prozent oder sechs Milliarden Euro bis 2040. Die Zahlen sind eindeutig, aber Mathematik eignet sich nur dann für die Politik, wenn die Zahlen zum Argument passen – siehe die Angst vor der 10-Millionen-Schweiz.
Vernünftigerweise sollte man sich fragen, woher und warum die Menschen in die Schweiz gekommen sind (die alle einen Arbeitsplatz oder ausreichend Vermögen vorweisen müssen). Die Schweiz hat einfach zu wenige Fachkräfte und zudem zu attraktive Löhne. Das ist der Grund, warum in den letzten 20 Jahren netto rund 1,3 Millionen Menschen in die Schweiz gekommen sind und die Bevölkerung von 7,2 auf 8,5 Millionen Einwohner hat anwachsen lassen. Das sind knapp 20 Prozent Zuwachs. Da die Ausländer überwiegend hoch qualifiziert sind, haben sie wahrscheinlich überproportional zum Wachstum beigetragen. Denn trotz 1,3 Millionen mehr Menschen ist das ProKopf-Einkommen munter weitergewachsen. Von 63 379 Schweizer Franken im Jahr 2000 auf 80 986 Schweizer Franken im Jahr 2019.
Die Folgen sind sicht- und hörbar: In manchen Spitälern spricht man fast nur noch Hochdeutsch. In großen und kleinen Betrieben stehen europäische Fachkräfte in den Ingenieurbüros, hinterm Schanktisch, in den Hörsälen und Handwerksbetrieben. Die meisten Ausländer sind dabei gut integriert, weil die Schweiz das richtigerweise einfordert. Man kann das mit außerwirtschaftlichen Modellen erklären: Den Anrainern in Deutschland, Frankreich und Italien ist die Schweiz sprachlich und kulturell sehr nahe. Es gibt kaum Fliehkräfte. Allein diese drei Nachbarn stellen rund 750 000 der aktuell insgesamt 2,1 Millionen Ausländer, von denen sich viele nach zwölf Jahren einbürgern lassen.
Das ist der SVP erst recht ein Dorn im Auge: Sie differenziert deshalb süffisant zwischen „Eidgenossen“und „eingebürgerten Schweizern“. Selbstverständlich möchte auch die SVP, die sich als Wirtschafts- und Volkspartei sieht, weiterwachsen, aber gerne zum System der guten alten Kontingente zurück, bei dem die „freie Willensnation Schweiz“selbst entscheidet, wer hineindarf. Genau das lässt aber das FZA mit der EU nicht zu. Das FZA, gegen das sich die Begrenzungsinitiative einzig wendet, ist untrennbarer Bestandteil von sieben bilateralen Abkommen. Diese sogenannte „Guillotine-Klausel“, auf die die EU bei den Abkommen bestanden hatte, treibt der SVP die Tell’sche Zornesröte ins Gesicht.
Die SVP ist eine klare „DagegenPartei“, auch wenn sie für sich in Anspruch nimmt, für das Schweizer Volk zu sprechen. Mehrfach hatte sie nach Wahlen die Chance, auf die für die Verhandlungen mit Brüssel wichtigen Ministerämter zugreifen zu können. Aber davor schreckt sie zurück, weil es eben leichter ist, gegen etwas zu sein, statt ein Abkommen als Minister neu zu verhandeln. Man muss der SVP in der Debatte allerdings zugutehalten, dass sie offen zugibt, dass mit der Aufkündigung des FZA – spätestens nach zwölf Monaten – auch alle anderen bilateralen Abkommen hinfällig werden könnten. Dabei sind diese „Bilateralen“ein Glücksfall, weil sie die Schweiz fast wie ein EU-Mitglied behandeln.
Als 2014 die „Initiative gegen die Masseneinwanderung“knapp angenommen wurde, kamen zu dieser Zeit jährlich netto rund 80 000 Menschen ins Land. Das entspricht der Größe einer Stadt wie St. Gallen, immerhin die achtgrößte Stadt des Landes. (In Deutschland entspräche das bei Faktor zehn an Einwohnern 800 000 Menschen und einer Stadtgröße zwischen Köln und Frankfurt.) Würde man das in der Schweiz so fortsetzen, dann käme man in den 2030erJahren irgendwann in der Tat auf zehn Millionen Menschen, rechnet die SVP vor. Dass sich seit 2013 die jährliche Zuwanderung wieder halbiert hat, gehört zu den Rechenaufgaben, die nicht in die Kalkulation der SVP fallen.
Wenn man angesichts dieser geradezu alternativlosen Fakten der Motivation der SVP auf den Grund gehen will, kann man nur zu einem Schluss kommen: Das Thema Ausländer(feindlichkeit?) ist und bleibt das Hauptthema der SVP. Eigentlich hat sie kein anderes nationales Thema. Als beim Ausbruch der Coronakrise im Tessin SVP-nahe Politiker als erste Handlung forderten, die Grenzen zu Italien zu schließen, ernteten sie den Zorn der Bevölkerung. Denn Zigtausende der täglich 60 000 Grenzgänger aus Italien arbeiten im Tessiner Gesundheitssystem. An diesem Beispiel erkennt man: Wenn das Volk die Initiative annimmt, dann wird die Schweiz nur noch begrenzt handlungsfähig sein.
Aber ihre Reihen sind nicht geschlossen: Eine Reihe prominenter SVP-Mitglieder, wie der Patron des Thurgauer Zugherstellers Stadlerrail, Peter Spuhler, wenden sich öffentlich gegen das Parteiestablishment. Der wird dann vom SVPDoyen Christoph Blocher wie ein Vasall abgekanzelt, der nur an seinen wirtschaftlichen Vorteil denkt. Dass Stadlerrail Tausende Mitarbeiter im Thurgau beschäftigt, passt nicht in die Gleichung. Dass es andere Möglichkeiten geben muss, einen Konsens der reicheren EU-Staaten anzustreben, musste sich Blocher unlängst von Walter Kielholz vorwerfen lassen, einem der Granden der FDP und langjährigem Chef der Schweizer Rück, einem Weltunternehmen.
Viele, die ihr Kreuz bei „Ja“machen werden und damit die Begrenzungsinitiative annehmen, haben vor weiterer Zuwanderung Angst. Ob sich diese – im Falle der Annahme – im Übrigen überhaupt begrenzen ließe, hinge natürlich vom weiteren zukünftigen Bedarf an Fachkräften ab. Würde man das zu stark kontingentieren, würde man das Wirtschaftswachstum begrenzen.
Denn wie gesagt: Ohne Arbeitsvertrag oder ohne ausreichendes Vermögen kommt man auch jetzt schon nicht so einfach in die Schweiz. Zukunftsorientiert ist diese Initiative der SVP deshalb nicht. Diese Angst zu schüren, obwohl das Land bestens funktioniert, muss sich die SVP als Vorwurf gefallen lassen.
Allerdings gehen die Wahlforscher davon aus, dass die Initiative abgelehnt wird, weil es nämlich nicht nur um das Bevölkerungswachstum geht, sondern eben auch um das Wirtschaftswachstum. Den „Dichtestress“voller Autobahnen, Züge oder Wohnquartiere werden die meisten Wähler als notwendiges Übel akzeptieren. Das Gute an Schweizer Volksabstimmungen ist, dass man, über alle Protagonisten gesehen, meistens differenziert „politisiert“.