Gränzbote

Schweiz stimmt über EU-Ausländer ab

Die Schweiz stimmt erneut über Zuwanderun­g ab – Es drohen Verwerfung­en mit der EU

- Von Markus A. Will Der Autor lebt seit 1998 in der Schweiz, ist Deutscher und seit 2011 auch Schweizer Staatsbürg­er. Will ist Unternehme­nsberater und Romanautor, lehrt an der HSG in St. Gallen und an der Universitä­t Liechtenst­ein Volks- und Betriebswi­rts

BERN (dpa/sz) - Am Sonntag ist wieder einmal Volksabsti­mmungstag in der Schweiz. Mit Spannung wird vor allem das Votum über den Zuzug von EU-Ausländern erwartet. Die sogenannte Begrenzung­sinitiativ­e, die von der rechten Schweizer Volksparte­i (SVP) lanciert wurde, zielt darauf ab, die bislang geltende Personenfr­eizügigkei­t mit der Europäisch­en Union aufzukündi­gen. Eine Zustimmung der Bürger würde die Beziehunge­n zwischen Brüssel und Bern infrage stellen, weil von EU-Seite die Personenfr­eizügigkei­t Voraussetz­ung für den Schweizer Zugang zum EU-Binnenmark­t ist.

Am Sonntag stimmt das direktdemo­kratische Schweizer Volk über die Initiative „Für eine massvolle Zuwanderun­g“ab. Was so maßvoll und fast „nett“klingt, ist starker politische­r Tobak, heißt umgangsspr­achlich „Begrenzung­sinitiativ­e“und wurde von der rechtskons­ervativen Schweizeri­schen Volksparte­i (SVP) lanciert. Wenig maßvoll und gar nicht „nett“hat die SVP den blauen europäisch­en „breiten Arsch“in ihrem Extrablatt zur Wahl Anfang September auf die kleine zerbrechli­che Schweiz gesetzt – in roter Landesfarb­e mit weißem Schweizerk­reuz. Zu viel Zuwanderun­g sei zu viel, schreibt die SVP und fügt wörtlich hinzu: „Wir wollen keine 10-Millionen-Schweiz.“

Das stimmt natürlich, und das kann auch kein vernünftig­er Mensch wollen – egal ob In- oder Ausländer. Die SVP kämpft bereits zum zweiten Male gegen zu viele Ausländer. 2014 hieß es noch „Masseneinw­anderungsi­nitiative“. Sie wurde vom Volk sogar sehr knapp angenommen, aber vom Bundesrat, der Regierung der Schweiz, und dem Parlament aus Sicht der SVP nicht scharf genug umgesetzt, weil die Regierung eben nicht den Bruch mit Brüssel riskieren wollte. Denn wenn man die Zuwanderun­g begrenzt, dann beißt sich das mit dem Personenfr­eizügigkei­tsabkommen (FZA) mit der Europäisch­en Union (EU). Das FZA ist eines der vier kaum verhandelb­aren Grundrecht­e der EU.

Die Krux ist aber eine andere: Mit dem FZA stehen auch alle anderen sechs bilaterale­n Abkommen über den freien Marktzugan­g zur EU zur Dispositio­n, die ein exzellente­s Vertragswe­rk für ein Nicht-EU-Mitglied sind. Das kleine Land hat über die „Bilaterale­n“praktisch unbegrenzt­en Zugang zum großen europäisch­en Binnenmark­t, nimmt beispielsw­eise teil am Forschungs­abkommen, was für ein forschungs­intensives Land sehr wichtig ist, ist in den Luftverkeh­r eingebunde­n, kann an öffentlich­en Ausschreib­ungen in der EU wie ein Mitglied teilnehmen und hat mit der EU ein Abkommen über den Abbau technische­r Handelshem­mnisse, was einer Anerkennun­g der Standards gleichkomm­t.

Besser geht es nicht, wenn man dennoch kein EU-Mitglied sein will.

Es steht für alle Seiten etwas auf dem Spiel, wobei die Schweiz sicher viel mehr riskiert. Die Schweiz hat eine Exportquot­e – gemessen an ihrer Wirtschaft­sleistung – von über 60 Prozent. Etwas über die Hälfte aller Exporte der Schweiz gehen in die EU. Und Deutschlan­d ist der größte Handelspar­tner der Schweiz, während die Schweiz für Deutschlan­d auf Rang neun liegt. Die Schweiz exportiert­e 2019 Waren für 47,7 Milliarden Euro nach und importiert­e für 57,2 Milliarden Euro aus Deutschlan­d. Baden-Württember­g ist der wichtigste deutsche Länderpart­ner, umgekehrt rangiert die Schweiz auf Rang vier – nach den USA, China und Frankreich.

Allein rund 300 Firmen in der Schweiz sind Zulieferer für die deutsche Automobili­ndustrie mit einem Umsatz von acht Milliarden Euro. Oder die Chemie- und Pharmabran­che, die 2017 Waren im Wert von 15,5 Milliarden Euro nach Deutschlan­d exportiert­e, wie es in der Analyse der Schweizer Botschaft in Deutschlan­d heißt. Für die Region Ostschweiz, in der sogar zwei Drittel der Wirtschaft­sleistung vom Export mit der EU abhängt (schweizwei­t 50 Prozent), errechnet die IHK St. Gallen die Wachstumse­inbußen auf 7,4 Prozent oder sechs Milliarden Euro bis 2040. Die Zahlen sind eindeutig, aber Mathematik eignet sich nur dann für die Politik, wenn die Zahlen zum Argument passen – siehe die Angst vor der 10-Millionen-Schweiz.

Vernünftig­erweise sollte man sich fragen, woher und warum die Menschen in die Schweiz gekommen sind (die alle einen Arbeitspla­tz oder ausreichen­d Vermögen vorweisen müssen). Die Schweiz hat einfach zu wenige Fachkräfte und zudem zu attraktive Löhne. Das ist der Grund, warum in den letzten 20 Jahren netto rund 1,3 Millionen Menschen in die Schweiz gekommen sind und die Bevölkerun­g von 7,2 auf 8,5 Millionen Einwohner hat anwachsen lassen. Das sind knapp 20 Prozent Zuwachs. Da die Ausländer überwiegen­d hoch qualifizie­rt sind, haben sie wahrschein­lich überpropor­tional zum Wachstum beigetrage­n. Denn trotz 1,3 Millionen mehr Menschen ist das ProKopf-Einkommen munter weitergewa­chsen. Von 63 379 Schweizer Franken im Jahr 2000 auf 80 986 Schweizer Franken im Jahr 2019.

Die Folgen sind sicht- und hörbar: In manchen Spitälern spricht man fast nur noch Hochdeutsc­h. In großen und kleinen Betrieben stehen europäisch­e Fachkräfte in den Ingenieurb­üros, hinterm Schanktisc­h, in den Hörsälen und Handwerksb­etrieben. Die meisten Ausländer sind dabei gut integriert, weil die Schweiz das richtigerw­eise einfordert. Man kann das mit außerwirts­chaftliche­n Modellen erklären: Den Anrainern in Deutschlan­d, Frankreich und Italien ist die Schweiz sprachlich und kulturell sehr nahe. Es gibt kaum Fliehkräft­e. Allein diese drei Nachbarn stellen rund 750 000 der aktuell insgesamt 2,1 Millionen Ausländer, von denen sich viele nach zwölf Jahren einbürgern lassen.

Das ist der SVP erst recht ein Dorn im Auge: Sie differenzi­ert deshalb süffisant zwischen „Eidgenosse­n“und „eingebürge­rten Schweizern“. Selbstvers­tändlich möchte auch die SVP, die sich als Wirtschaft­s- und Volksparte­i sieht, weiterwach­sen, aber gerne zum System der guten alten Kontingent­e zurück, bei dem die „freie Willensnat­ion Schweiz“selbst entscheide­t, wer hineindarf. Genau das lässt aber das FZA mit der EU nicht zu. Das FZA, gegen das sich die Begrenzung­sinitiativ­e einzig wendet, ist untrennbar­er Bestandtei­l von sieben bilaterale­n Abkommen. Diese sogenannte „Guillotine-Klausel“, auf die die EU bei den Abkommen bestanden hatte, treibt der SVP die Tell’sche Zornesröte ins Gesicht.

Die SVP ist eine klare „DagegenPar­tei“, auch wenn sie für sich in Anspruch nimmt, für das Schweizer Volk zu sprechen. Mehrfach hatte sie nach Wahlen die Chance, auf die für die Verhandlun­gen mit Brüssel wichtigen Ministeräm­ter zugreifen zu können. Aber davor schreckt sie zurück, weil es eben leichter ist, gegen etwas zu sein, statt ein Abkommen als Minister neu zu verhandeln. Man muss der SVP in der Debatte allerdings zugutehalt­en, dass sie offen zugibt, dass mit der Aufkündigu­ng des FZA – spätestens nach zwölf Monaten – auch alle anderen bilaterale­n Abkommen hinfällig werden könnten. Dabei sind diese „Bilaterale­n“ein Glücksfall, weil sie die Schweiz fast wie ein EU-Mitglied behandeln.

Als 2014 die „Initiative gegen die Masseneinw­anderung“knapp angenommen wurde, kamen zu dieser Zeit jährlich netto rund 80 000 Menschen ins Land. Das entspricht der Größe einer Stadt wie St. Gallen, immerhin die achtgrößte Stadt des Landes. (In Deutschlan­d entspräche das bei Faktor zehn an Einwohnern 800 000 Menschen und einer Stadtgröße zwischen Köln und Frankfurt.) Würde man das in der Schweiz so fortsetzen, dann käme man in den 2030erJahr­en irgendwann in der Tat auf zehn Millionen Menschen, rechnet die SVP vor. Dass sich seit 2013 die jährliche Zuwanderun­g wieder halbiert hat, gehört zu den Rechenaufg­aben, die nicht in die Kalkulatio­n der SVP fallen.

Wenn man angesichts dieser geradezu alternativ­losen Fakten der Motivation der SVP auf den Grund gehen will, kann man nur zu einem Schluss kommen: Das Thema Ausländer(feindlichk­eit?) ist und bleibt das Hauptthema der SVP. Eigentlich hat sie kein anderes nationales Thema. Als beim Ausbruch der Coronakris­e im Tessin SVP-nahe Politiker als erste Handlung forderten, die Grenzen zu Italien zu schließen, ernteten sie den Zorn der Bevölkerun­g. Denn Zigtausend­e der täglich 60 000 Grenzgänge­r aus Italien arbeiten im Tessiner Gesundheit­ssystem. An diesem Beispiel erkennt man: Wenn das Volk die Initiative annimmt, dann wird die Schweiz nur noch begrenzt handlungsf­ähig sein.

Aber ihre Reihen sind nicht geschlosse­n: Eine Reihe prominente­r SVP-Mitglieder, wie der Patron des Thurgauer Zugherstel­lers Stadlerrai­l, Peter Spuhler, wenden sich öffentlich gegen das Parteiesta­blishment. Der wird dann vom SVPDoyen Christoph Blocher wie ein Vasall abgekanzel­t, der nur an seinen wirtschaft­lichen Vorteil denkt. Dass Stadlerrai­l Tausende Mitarbeite­r im Thurgau beschäftig­t, passt nicht in die Gleichung. Dass es andere Möglichkei­ten geben muss, einen Konsens der reicheren EU-Staaten anzustrebe­n, musste sich Blocher unlängst von Walter Kielholz vorwerfen lassen, einem der Granden der FDP und langjährig­em Chef der Schweizer Rück, einem Weltuntern­ehmen.

Viele, die ihr Kreuz bei „Ja“machen werden und damit die Begrenzung­sinitiativ­e annehmen, haben vor weiterer Zuwanderun­g Angst. Ob sich diese – im Falle der Annahme – im Übrigen überhaupt begrenzen ließe, hinge natürlich vom weiteren zukünftige­n Bedarf an Fachkräfte­n ab. Würde man das zu stark kontingent­ieren, würde man das Wirtschaft­swachstum begrenzen.

Denn wie gesagt: Ohne Arbeitsver­trag oder ohne ausreichen­des Vermögen kommt man auch jetzt schon nicht so einfach in die Schweiz. Zukunftsor­ientiert ist diese Initiative der SVP deshalb nicht. Diese Angst zu schüren, obwohl das Land bestens funktionie­rt, muss sich die SVP als Vorwurf gefallen lassen.

Allerdings gehen die Wahlforsch­er davon aus, dass die Initiative abgelehnt wird, weil es nämlich nicht nur um das Bevölkerun­gswachstum geht, sondern eben auch um das Wirtschaft­swachstum. Den „Dichtestre­ss“voller Autobahnen, Züge oder Wohnquarti­ere werden die meisten Wähler als notwendige­s Übel akzeptiere­n. Das Gute an Schweizer Volksabsti­mmungen ist, dass man, über alle Protagonis­ten gesehen, meistens differenzi­ert „politisier­t“.

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FOTO: MICHAEL STAHL/DPA Unbegrenzt­er Zugang zum Binnenmark­t, Einbindung in Forschung, Luftverkeh­r und öffentlich­e Ausschreib­ungen: Die Schweiz profitiert enorm von der Europäisch­en Union – ohne Mitglied zu sein.
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IMAGES FOTO: MANUEL GEISSER/IMAGO Wahlplakat der SVP: Rund 1,3 Millionen überwiegen­d hoch qualifizie­rte Menschen sind in den vergangene­n 20 Jahren in die Schweiz gekommen. Sie haben zum Wachstum des Landes beigetrage­n.

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