Die Stimmen im Kopf des Zaren
Bei der Oper „Boris Godunow“in Zürich werden Orchester und Chor von außen übertragen
ZÜRICH - „Boris Godunow“ist eine der großen Chor-Opern, in der ein wichtiger Teil der russischen Geschichte verhandelt wird und in der das Volk, aufrührerisch, klagend oder jubelnd, neben der mächtigen Titelfigur fast die Hauptrolle spielt. Ausgerechnet mit diesem Werk von Modest Mussorgsky (1839–1881) hat das Opernhaus Zürich seine neue Saison begonnen. Innerhalb weniger Tage und Wochen folgt ein Premierenreigen mit Operette, Ballett und Kinderoper. Und das in Corona-Zeiten, in denen Orchester und Chor nur mit Mindestabstand spielen und singen dürfen!
Dafür haben Intendant Andreas Homoki und sein Technik-Team eine Lösung entwickelt, die, mit leichten Abstrichen beim oft zu lauten Klang, verblüffend gut aufgeht: Im Orchestergraben und im Zuschauerraum sind Lautsprecher und ein großes Mischpult postiert, dort, wo der Dirigent stünde, ist ein Monitor. Die Philharmonia Zürich und der Chor aber sind rund einen Kilometer entfernt in ihrem üblichen Probenraum mit dem gebührenden Abstand zwischen den Pulten. Via Glasfaserkabel werden die Klänge in Echtzeit ins Opernhaus übertragen.
Zürich hat sich also an den Bregenzer Festspielen orientiert, wo der Klang aus dem Festspielhaus ins Freie übertragen wird. Das Publikum sitzt übrigens ziemlich eng, statt rund 1200 Plätzen werden 900 verkauft, eine Maske muss ausreichen, was bei vier Stunden Spieldauer durchaus eine Herausforderung ist.
Der ukrainische Dirigent Kirill Karabits musiziert die Erstfassung von Mussorgskys Oper ohne die Glättungen, die vielfach vorgenommen wurden, und bezieht außerdem den selten zu hörenden „Polen-Akt“mit ein. So klingt alles rauer, urtümlicher, die zahlreichen Volksmelodien und Kirchenlieder oder die herrliche Szene des trinkfesten Bettelmönchs Warlaam (Alexei Botnarciuc) zaubern Atmosphäre. Bühnenbildner Rufus Didwiszus hat eine riesige Bibliothek mit beweglichen raumhohen Regalen gebaut, die durch die bewährte Lichtgestaltung von Franck Evin verwandelt wird.
Der Polen-Akt ist klanglich wie szenisch herausgehoben: Darin wird die polnische Adlige Marina als machthungrige Verführerin gezeigt (Oksana Volkova mit sinnlichem Mezzosopran im goldenen Gewand), und Edgaras Montvidas darf als falscher Dimitri mit seinem lyrischen Tenor auftrumpfen. Hier erklingen Mazurka und Polonaise, die polnischen Nationaltänze, und weiche Melodien, mit goldenen Stühlen und einer goldenen Wand hebt sich die Bühne vom unheimlichen Betongrau der anderen Akte ab. In den letzten Szenen ist die Bibliothek verschwunden, eine riesige Totenglocke hängt über einer Grube, in die der sterbende Zar taumelt.
Raffiniert erzeugt Regisseur Barry Kosky eine Klammer, indem die Geschichte des Zaren Boris gleichsam als die inneren Stimmen in den
Köpfen der Protagonisten stattfindet: Zu Beginn und am Ende ertönt das Lied des hellsichtigen Gottesnarren, der über das Schicksal Russlands weint. Er (der junge Tenor Spencer Lang mit großer Bühnenpräsenz)
ist als empathischer Beobachter allgegenwärtig. Michael Volle liefert sich seinem Rollendebüt als Boris Godunow mit Haut und Haar aus. Man erlebt die Einsamkeit und Gebrochenheit des Zaren, der durch den Auftragsmord am früheren Thronfolger Schuld auf sich geladen hat und von Alpträumen und Wahnvorstellungen gepeinigt wird. Michael Volle macht den Verfall dieses Menschen geradezu greifbar, vermittelt aber ebenso Wärme und Zärtlichkeit in der Szene mit seinen Kindern.
Ein weiteres Rollendebüt bringt als intrigierender Jesuit Rangoni der vielseitige Bariton Johannes Martin Kränzle, der wie Volle zu den Stars von Koskys Bayreuther Meistersinger-Inszenierung gehört hatte. Eingebunden sind diese beiden Sängerdarsteller in ein durchweg überzeugendes Ensemble mit überwiegend russischen, ukrainischen oder baltischen Wurzeln.
Vor vier Jahren hat Barrie Kosky ebenfalls am Opernhaus Zürich einen beklemmenden „Macbeth“inszeniert, die Geschichten der beiden gebrochenen Machtmenschen ähneln sich. Wie sich der Regisseur den Herausforderungen der Umstände stellt, ist beeindruckend und wurde begeistert aufgenommen.
Weitere Aufführungen im September und Oktober, am Samstag, 26. September, als Live-Übertragung für alle im Internet. Informationen über www.opernhaus.ch