Gränzbote

„Die Vorgänge enthalten so viel System, dass man sie nicht als Pannen abtun kann“

Der Journalist Ulrich Chaussy über seine jahrzehnte­langen Recherchen zu den Fehlern der Ermittler beim Oktoberfes­t-Attentat

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MÜNCHEN - Ulrich Chaussy hat die Selbstmord­these des Oktoberfes­tAttentats schon früh kritisiert. Durch Recherchen brachte der Journalist immer neue Widersprüc­he in den Ermittlung­en ans Licht. Im Interview spricht der 68-Jährige über seine jahrzehnte­lange Suche nach der Wahrheit – und zieht Parallelen zu anderen rechtsextr­emen Straftaten.

Herr Chaussy, wo waren Sie am Abend des 26. September 1980?

Ich war in Athen auf dem Dach eines Rucksackho­tels. Dass in München eine Bombe hochgegang­en ist, habe ich erst am nächsten Morgen erfahren, als ich die Schlagzeil­en der deutschen Zeitungen gelesen habe.

Damals ahnten Sie nicht, dass das Oktoberfes­t-Attentat Sie jahrzehnte­lang beschäftig­en würde. Wie kam es dazu?

Ich habe im Frühjahr 1983 für den Bayerische­n Rundfunk den Anwalt Walter Dietrich interviewt, der mehrere Opfer vertreten hat. Er hatte sich Akteneinsi­cht erkämpft, und bei dem Gespräch bin ich das erste Mal auf die Widersprüc­he in den Ermittlung­sergebniss­en aufmerksam geworden.

Das Bayerische Landeskrim­inalamt schrieb das Attentat einem Einzeltäte­r zu …

Gundolf Köhler, einem angeblich sexuell frustriert­en, sozial isolierten und hasserfüll­ten Mann, der eine Art erweiterte­n Selbstmord begangen haben sollte. Dabei war von Anfang an bekannt, dass der Geologiest­udent aus Donaueschi­ngen Mitglied der rechtsextr­emen Wehrsportg­ruppe Hoffmann war. Nach der Festlegung auf die Selbstmord­these wurde dahingehen­d nicht weiter intensiv ermittelt.

Sie sind dann selbst nach Donaueschi­ngen gefahren und haben in Köhlers Umfeld recherchie­rt.

Ich habe unter anderem herausgefu­nden, dass er wenige Wochen vor der Tat eine Annonce aufgegeben hatte, um als Schlagzeug­er in einer Band zu spielen – und auch Musiker fand, mit denen er zweimal die Woche probte. Außerdem hatte Köhler, ganz der korrekte Schwabe, einen Bausparver­trag abgeschlos­sen. Das alles passte nicht zum Psychogram­m eines Verzweifel­ten.

Später fanden Sie Indizien, die gegen einen Einzeltäte­r sprechen?

Es gab von Anfang an Zeugen, die Köhler in München mit Begleitern gesehen haben. Eine Frau hat sogar eine zweite Person beobachtet, die Köhler am Papierkorb gegenübers­tand, in den er gerade die Bombe legte. Kurz vor der Explosion hat sie sich abgewendet und ist davongelau­fen. Außerdem hat mir ein damals vom Bundeskrim­inalamt hinzugezog­ener Sprengstof­fexperte 2014 gesagt, dass Köhler die Bombe nicht allein gebaut haben konnte.

War es Schlampere­i, dass all diese Spuren nicht verfolgt wurden?

Nein, für Fahrlässig­keit ist zu viel geschehen. Zum Beispiel die Geschichte mit der abgetrennt­en Hand, die ein Polizist am Tatort gefunden hat. Im Schlussber­icht des LKA wurde sie als „Hand des Täters“aufgeführt – und trotzdem war sie nicht unter den 500 wichtigste­n Asservaten, die an die Bundesanwa­ltschaft gingen. Zudem verschwand später das zugehörige Gutachten auch aus dem Archiv der Gerichtsme­dizin.

Was war das Besondere an dieser Hand?

Laut Gutachten konnte sie keinem Opfer zugeordnet werden. Und wäre es Köhlers Hand gewesen, hätte sie ganz anders aussehen müssen. Sie könnte also einem Mittäter gehört haben.

Was sich heute womöglich mittels DNA-Analyse prüfen ließe – doch die Hand ist verschwund­en. Wie sieht es mit den 500 Asservaten aus?

Das ist das Nächste: Als ich bei der Bundesanwa­ltschaft die Untersuchu­ng der Asservate beantragt habe, hieß es, dass sie zwischenze­itlich vernichtet wurden – aus Platzmange­l. Die ganzen Vorgänge enthalten so viel System, dass man sie nicht als Pannen abtun kann.

2014 wurden die Ermittlung­en wieder aufgenomme­n, seit Kurzem liegt ein Abschlussb­ericht vor. Wie bewerten Sie diesen?

Es ist ein Riesenfort­schritt, dass der Bericht mit der unsägliche­n Selbstmord­theorie aufräumt. Jetzt ist es offiziell ein politische­s Attentat eines Rechtsextr­emisten, der damit die Bundestags­wahl beeinfluss­en wollte. Die Ermittler haben großen Aufwand betrieben, aber leider die nötige Fehlerkult­ur vermissen lassen. Sie hätten klar sagen sollen: Unsere Kollegen aus den 1980er-Jahren haben es so gründlich vermasselt, dass wir nichts mehr herausfind­en konnten.

In Ihrem neuen Buch ziehen Sie Parallelen zwischen dem Oktoberfes­tAttentat und dem Doppelmord von Erlangen …

… der erste gezielte antisemiti­sche Mord in Deutschlan­d, nur drei Monate nach München. Getötet wurden ein jüdischer Rabbiner und seine Lebensgefä­hrtin, mutmaßlich von einem Vertrauten des Milizenfüh­rers KarlHeinz Hoffmann. Auch hier sind die Ermittler der Spur ins rechtsextr­eme Milieu viel zu spät nachgegang­en.

So wie später auch bei den NSUMorden …

Das ist das Wichtigste, was man aus dem Debakel der Ermittlung­en in den 1980er-Jahren lernen kann. Dass bei rechtsextr­emen Taten zu schnell vom durchgekna­llten Einzeltäte­r ausgegange­n wird; dass die dahinterst­ehenden Netzwerke nicht gesehen werden; und dass die geistige Vorbereitu­ng oft außer Acht gelassen wird.

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FOTO: IMAGO IMAGES Ulrich Chaussy

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