Messerstiche in die alte Wunde
Zwei Verletzte bei Angriff vor ehemaligem „Charlie-Hebdo“-Büro – Innenminister spricht von islamistischem Terrorakt
PARIS - Dreieinhalb Wochen nach dem Beginn des Prozesses um den Anschlag auf „Charlie Hebdo“hat ein Mann vor den ehemaligen Redaktionsbüros der Satirezeitung erneut einen Terrorangriff verübt. Er verletzte zwei Mitarbeiter einer Fernsehproduktionsfirma, die gerade vor dem Gebäude in Paris eine Zigarettenpause einlegten, mit einem langen Messer. Lebensgefahr bestand für keines der beiden Opfer. Die Antiterror-Staatsanwaltschaft übernahm die Ermittlungen wegen „Mordversuchs in Verbindung mit einer terroristischen Tat“. Der Haupttäter wurde festgenommen, wie Antiterror-Staatsanwalt JeanFrançois Ricard mitteilte. Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin bezeichnete die Messerattacke am Abend als „islamistischen Terrorakt“.
Die Messerattacke ereignete sich kurz vor 12 Uhr mittags in der rue Nicolas Appert im elften Pariser Stadtbezirk. „Ich habe Geschrei gehört. Ich bin ans Fenster gegangen und habe einen meiner mit Blut bespritzten Kollegen gesehen, der auf der Straße von einem Mann mit einer Machete verfolgt wurde“, zitierte die Zeitung „Le Parisien“eine Mitarbeiterin der Produktionsfirma Premières Lignes. „Das ist ein großes Trauma für das ganze Gebäude“, ergänzte Luc Hermann, Journalist bei der Produktionsfirma, deren Mitarbeiter bereits 2015 Zeugen des Angriffs auf „Charlie
Hebdo“waren. Drohungen habe sein Unternehmen, das unter anderem für eine Investigativsendung des Fernsehsenders France 2 produziert, in den vergangenen Wochen nicht erhalten. Anscheinend seien seine beiden Kollegen eher durch Zufall von dem Täter angegriffen worden, sagte Hermann im Fernsehsender BFMTV. Premières Lignes sitzt weiter in dem Gebäude an der rue Nicolas Appert, wo die Brüder Kouachi vor mehr als fünf Jahren in der Redaktion von „Charlie Hebdo“elf Menschen getötet hatten. Zu den Opfern gehörten neben Chefredakteur Charb die bekanntesten Zeichner der Zeitung, die seit der Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen Drohungen von Islamisten erhalten hatte.
Das Gebäude wurde seit dem Beginn des Prozesses gegen die Hintermänner des Anschlags auf „Charlie Hebdo“am 2. September nicht zusätzlich geschützt. Es habe lediglich Polizeipatrouillen in der Straße gegeben, sagte Hermann. Der Prozess wurde von weiteren Drohungen, vor allem des Terrornetzwerkes Al-Kaida, gegen die Mitarbeiter der Zeitung begleitet, die Anfang September erneut die Karikaturen des Propheten Mohammed abdruckten.
Die Personalchefin von „Charlie Hebdo“musste diese Woche überstürzt ihre Wohnung verlassen, da die Behörden sie dort für nicht mehr sicher hielten. Die anderen Redaktionsmitglieder stehen seit dem Anschlag am 7. Januar 2015 unter Polizeischutz. Die Redaktion ist seit dem Attentat an einem geheim gehaltenen Ort untergebracht. Erst diese Woche hatten rund hundert französische Medien jeder politischen Couleur ihre Solidarität mit „Charlie Hebdo“in einem offenen Brief ausgedrückt. Sie forderten die Franzosen auf, die Meinungsfreiheit in ihrem Land zu verteidigen. „Medien werden offen von internationalen Terrororganisationen zu Zielscheiben gemacht“, heißt es in dem Text. „Die Gewalt der Worte ist nach und nach zu körperlicher Gewalt geworden.“
Die Redaktion von „Charlie Hebdo“bekundete nach dem Anschlag ihre Solidarität mit den „früheren Nachbarn und Kollegen“. Die Polizei sperrte das belebte Viertel in der Nähe des Bastille-Platzes weiträumig ab und blockierte Tausende Schüler vorübergehend in ihren Schulen. Für das Viertel, das nach dem Attentat auf „Charlie Hebdo“bereits traumatisiert war, ist der Angriff ein neuer Schock. „Der Anschlag erfolgte an einem symbolischen Ort“, sagte Regierungschef Jean Castex, der zusammen mit Innenminister Gérald Darmanin und der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo den Tatort aufsuchte.