Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser
Wer ernst genommen werden will, muss auch auf die Einhaltung von Regeln bestehen
Niemand mit einem Mindestmaß an Herzensbildung will einen Staat, der einem Menschen die Hand abhackt, weil er aus Hunger Brot gestohlen hat. Kaum einer möchte in einem Land leben, in dem Leute ins Gefängnis kommen, weil sie ohne Fahrschein mehrmals im Bus erwischt wurden. Und nur hartherzige Automobilrüpel würden sich über die Prügelstrafe für Radfahrer freuen, die das Rotlicht mit Genuss missachten. Auch astronomische Strafen von bis zu 25 000 Euro für Mund-Nase-Schutz-Schwänzer im Wiederholungsfall klingen übertrieben. Aber deswegen gleich gar nichts mehr sagen? Kontrollen nur in homöopathischer Dosis? Von Polizeistaat faseln, wenn sich eine Streife erlaubt, eine Verkehrskontrolle tatsächlich nicht nur anzukündigen, sondern sogar durchzuführen? Vielleicht sogar unangekündigt?
Als ich Kind war, da war Herr F. unser Schutzmann von der Polizei und für mich eine Respektsperson. Meine Klassenkameraden und ich bewunderten still den Polizisten in seiner damals noch grünen Uniform. Wir lernten von ihm, dass es natürlich falsch ist, bei Rot über die Ampel zu radeln. Wir lernten, dass es gut und wichtig ist, im Dunklen mit Licht am Fahrrad zu fahren. Und dass wir Konsequenzen zu spüren bekommen würden, wenn wir mit defekter Beleuchtung unterwegs sind. Wir wussten: Da ist jemand, der uns sinnvolle Regeln nicht nur beibringt, sondern ihre Einhaltung auch kontrolliert.
Später, als ich dann den Führerschein hatte, bin ich an Wochenendabenden spätnachts regelmäßig kontrolliert worden, damit ich begriffen habe, welches Bier dasjenige ist, das zu viel sein würde, um noch hinters Steuer zu sitzen. In der Fahrschule habe ich gelernt, dass ich weder betrunken noch mit Drogen zugedröhnt fahren darf – und das reale Wirken des Staates hat mir in wahrnehmbaren Kontrollen in relevanter Zahl gezeigt, dass da draußen jemand ist, der diese Regeln auch gegen meinen jugendlichen Leichtsinn verteidigt. Heute kündigen Behörden öffentlich in Kampagnen an, wenn sie mal mittels Geschwindigkeitskontrollen oder vermehrten Alkoholtests schwerpunktmäßig nachgucken, ob den Leuten überhaupt noch bewusst ist, dass man weder zu schnell noch besoffen unterwegs sein sollte. Da steht dann tags drauf in der Zeitung, dass so und soviele Leute zu schnell waren und so und soviele Führerscheine eingezogen wurden, weil der Alkomat angeschlagen hat.
Ich will der Polizei überhaupt keinen Vorwurf machen. Der Aderlass in den Reihen der Sicherheitskräfte hat die Beamten in eine prekäre Situation gebracht. Das Gesicht eines präsenten Staates sind seine Beamten. Wird diese Sichtbarkeit unter ein bestimmtes Niveau heruntergespart, dann verliert dieser Staat sein Gesicht – und es setzt sich zunächst unterbewusst und später ganz offen das Gefühl durch, dass es eigentlich niemanden interessiert, ob und welche Regelungen, durch den demokratisch legitimierten
Prozess einmal aufgestellt, eingehalten werden und welche nicht. Natürlich gibt es Abstufungen. Darum ist die Aufklärungsquote bei einer so absoluten Verbrechenstat wie Mord erfreulich hoch, während jene von solchen wie Hühnerdiebstahl verhältnismäßig gering bleibt. Energie und Augenmerk auf das wirklich Wichtige zu legen, ist natürlich grundsätzlich richtig.
Aber einen ganzen Katalog von Verstößen durch den Wegfall von Kontrolle oder das Kontrollieren unterhalb der Wahrnehmbarkeitsschwelle faktisch zur Bagatelle zu machen – und damit die Regelung selbst in absurdes Licht zu stellen, kann nicht der Ernst einer Gesellschaft sein, die versucht, seine Bürger einigermaßen ethischmoralisch zusammenzuhalten. Denn ja, es ist nicht in Ordnung, etwas zu klauen. Und ja, es ist falsch, schwarz zu fahren. Und ja, eine rote Ampel zu missachten, ist nicht richtig, sondern dumm und im Zweifel gefährlich. Und ja, es ist falsch, in einer Zeit, in der wir durch eine zuvor uns unbekannte Gefahr aus Vorsicht eine Maske tragen, diese geradezu aufreizend zu verweigern. Wir alle können jedoch nicht sicher sein, dass damit nicht vielleicht doch der eine oder andere 60-Jährige zu retten sein könnte.
Wenn der Staat, den wir alle gemeinsam bilden, das mehrheitlich auch so sieht, dann muss er das deutlich zeigen. Und sich nicht selbst untergraben, indem er an den ohnehin schon kurzen Beinen der Moral fleißig mitsägt. Wie etwa in den folgenden Beispielen der vergangenen Monate aus der Zeitung und aus Zuschriften: In einer Kleinstadt am Bodensee sagt ein Polizeimitarbeiter im Interview, man könne die Abstandsregeln nicht mit dem Meterstab kontrollieren. Entschuldigung – warum eigentlich nicht? Zumindest in der Anfangsphase, damit ein Gefühl dafür entstehen kann, dass diese und ähnliche Maßnahmen ernst gemeint sind und womöglich sogar wirken. Was der Beamte im Beispiel von sich gibt, bewirkt das genaue Gegenteil.
Über folgende Szene hat sich ein Leser zu Recht beschwert: Der Mann beobachtete, wie ein Kunde unberechtigterweise quer auf einem Behindertenparkplatz nahe einer Bäckerei sein Fahrzeug abstellte. Zwei Parklücken weiter seien Streifenbeamte aus dem Wagen gestiegen. Den Hinweis des Beobachters, dass dort jemand auf dem Behindertenparkplatz ohne Berechtigung stehe, quittierten die Polizisten mit der Bemerkung, „der ruhende Verkehr“falle nicht in ihren Zuständigkeitsbereich. Ähnliche Berichte über das Wegsehen bei Rotlichtverstößen von Radlern spitzen die Frage zu: Wen soll so etwas interessieren, wenn es nicht mal mehr die Polizei interessiert? Wobei wichtig ist zu betonen, dass die Verantwortung für eine entsprechende Personalstärke der Beamten bei der Politik liegt.
Vor dem Hintergrund eines positiven Menschenbildes könnte man nun sagen: Wir als Gesellschaft wissen schon, welche Regeln einzuhalten sind und welche wir eher als unverbindliche Empfehlungen verstehen können. Leider hat sich gezeigt, dass viele Leute so etwas wie ein positives Menschenbild durch ihr ignorantes Verhalten eben nicht rechtfertigen. Dass wir mit dem Gut Zureden keine durchschlagende Wirkung erzielen. Das zeigt sich zum Beispiel am widersinnigen Konsumverhalten – etwa dem Kauf von
Vorstadtgeländewagen, um vor dem Bioladen zu parken und damit jedwede Klimadiskussion ad absurdum zu führen. Das zeigt sich im großen Maßstab an sogenannten freiwilligen Selbstverpflichtungen etwa der Industrie, weniger Zucker und Chemie ins Essen zu rühren – die faktisch niemanden interessieren. Tragischerweise gibt es dafür oft auch kein Schuldbewusstsein.
Aktuelles Beispiel ist die Ehrenloge des FC-Bayern, wo Funktionäre sich in einem ansonsten leeren Stadion ohne Abstand aneinander kuscheln und nicht verstehen, wie verheerend es auf die Tausenden von Fans wirken muss, die draußen bleiben müssen, damit exakt das, was die Großkopferten des Vereins da selbstherrlich vorleben, nicht passiert. Aber „mia san ja schließlich mia“.
Am Ende denken das eben immer mehr von sich, dass „sie halt sie“sind – und dass das dann als Erklärung dafür, sich über Regeln hinwegzusetzen, schon reicht. Wenn alle dabei wegsehen – und insbesondere der Staat und seine Organe – wächst die Zahl derer, die das völlig in Ordnung finden. Und damit wächst auch das aggressive Verteidigen des eigenen Fehlverhaltens: Probieren Sie mal, einen Radfahrer an die Pflicht zum Halten bei Rot zu erinnern. Oder den Ignoranten im Supermarkt zu bitten, einen Mund-Nasen-Schutz aufzusetzen. Die Polizeiberichte, in denen dann steht, wie Beamte zu Schlägereien zwischen Radlern und Autofahrern gerufen werden mussten, oder zu Maskenverweigerern, die handgreiflich geworden sind, werfen die Frage auf, ob die Präsenz von Kontrollen vor diesen Szenen nicht dazu geführt hätte, solche Eskalationen zu vermeiden.
So deprimierend das für uns als Gesellschaft auch sein mag, müssen wir uns doch eingestehen, dass wir als Menschen eben meistens nach dem Prinzip Belohnung und Strafe funktionieren. Diese Erkenntnis bedingt leider, dass unser Bewusstsein für das, was richtig und falsch ist, oft nicht im Gehirn sitzt, sondern in der Hose, wo unser Geldbeutel steckt. Und den wir vor Bußgeldern beschützen wollen, die oft genug – etwa im Straßenverkehr – so bemessen sind, dass sie wiederum nicht ernst genommen werden.