Gränzbote

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser

Wer ernst genommen werden will, muss auch auf die Einhaltung von Regeln bestehen

- Von Erich Nyffenegge­r

Niemand mit einem Mindestmaß an Herzensbil­dung will einen Staat, der einem Menschen die Hand abhackt, weil er aus Hunger Brot gestohlen hat. Kaum einer möchte in einem Land leben, in dem Leute ins Gefängnis kommen, weil sie ohne Fahrschein mehrmals im Bus erwischt wurden. Und nur hartherzig­e Automobilr­üpel würden sich über die Prügelstra­fe für Radfahrer freuen, die das Rotlicht mit Genuss missachten. Auch astronomis­che Strafen von bis zu 25 000 Euro für Mund-Nase-Schutz-Schwänzer im Wiederholu­ngsfall klingen übertriebe­n. Aber deswegen gleich gar nichts mehr sagen? Kontrollen nur in homöopathi­scher Dosis? Von Polizeista­at faseln, wenn sich eine Streife erlaubt, eine Verkehrsko­ntrolle tatsächlic­h nicht nur anzukündig­en, sondern sogar durchzufüh­ren? Vielleicht sogar unangekünd­igt?

Als ich Kind war, da war Herr F. unser Schutzmann von der Polizei und für mich eine Respektspe­rson. Meine Klassenkam­eraden und ich bewunderte­n still den Polizisten in seiner damals noch grünen Uniform. Wir lernten von ihm, dass es natürlich falsch ist, bei Rot über die Ampel zu radeln. Wir lernten, dass es gut und wichtig ist, im Dunklen mit Licht am Fahrrad zu fahren. Und dass wir Konsequenz­en zu spüren bekommen würden, wenn wir mit defekter Beleuchtun­g unterwegs sind. Wir wussten: Da ist jemand, der uns sinnvolle Regeln nicht nur beibringt, sondern ihre Einhaltung auch kontrollie­rt.

Später, als ich dann den Führersche­in hatte, bin ich an Wochenenda­benden spätnachts regelmäßig kontrollie­rt worden, damit ich begriffen habe, welches Bier dasjenige ist, das zu viel sein würde, um noch hinters Steuer zu sitzen. In der Fahrschule habe ich gelernt, dass ich weder betrunken noch mit Drogen zugedröhnt fahren darf – und das reale Wirken des Staates hat mir in wahrnehmba­ren Kontrollen in relevanter Zahl gezeigt, dass da draußen jemand ist, der diese Regeln auch gegen meinen jugendlich­en Leichtsinn verteidigt. Heute kündigen Behörden öffentlich in Kampagnen an, wenn sie mal mittels Geschwindi­gkeitskont­rollen oder vermehrten Alkoholtes­ts schwerpunk­tmäßig nachgucken, ob den Leuten überhaupt noch bewusst ist, dass man weder zu schnell noch besoffen unterwegs sein sollte. Da steht dann tags drauf in der Zeitung, dass so und soviele Leute zu schnell waren und so und soviele Führersche­ine eingezogen wurden, weil der Alkomat angeschlag­en hat.

Ich will der Polizei überhaupt keinen Vorwurf machen. Der Aderlass in den Reihen der Sicherheit­skräfte hat die Beamten in eine prekäre Situation gebracht. Das Gesicht eines präsenten Staates sind seine Beamten. Wird diese Sichtbarke­it unter ein bestimmtes Niveau herunterge­spart, dann verliert dieser Staat sein Gesicht – und es setzt sich zunächst unterbewus­st und später ganz offen das Gefühl durch, dass es eigentlich niemanden interessie­rt, ob und welche Regelungen, durch den demokratis­ch legitimier­ten

Prozess einmal aufgestell­t, eingehalte­n werden und welche nicht. Natürlich gibt es Abstufunge­n. Darum ist die Aufklärung­squote bei einer so absoluten Verbrechen­stat wie Mord erfreulich hoch, während jene von solchen wie Hühnerdieb­stahl verhältnis­mäßig gering bleibt. Energie und Augenmerk auf das wirklich Wichtige zu legen, ist natürlich grundsätzl­ich richtig.

Aber einen ganzen Katalog von Verstößen durch den Wegfall von Kontrolle oder das Kontrollie­ren unterhalb der Wahrnehmba­rkeitsschw­elle faktisch zur Bagatelle zu machen – und damit die Regelung selbst in absurdes Licht zu stellen, kann nicht der Ernst einer Gesellscha­ft sein, die versucht, seine Bürger einigermaß­en ethischmor­alisch zusammenzu­halten. Denn ja, es ist nicht in Ordnung, etwas zu klauen. Und ja, es ist falsch, schwarz zu fahren. Und ja, eine rote Ampel zu missachten, ist nicht richtig, sondern dumm und im Zweifel gefährlich. Und ja, es ist falsch, in einer Zeit, in der wir durch eine zuvor uns unbekannte Gefahr aus Vorsicht eine Maske tragen, diese geradezu aufreizend zu verweigern. Wir alle können jedoch nicht sicher sein, dass damit nicht vielleicht doch der eine oder andere 60-Jährige zu retten sein könnte.

Wenn der Staat, den wir alle gemeinsam bilden, das mehrheitli­ch auch so sieht, dann muss er das deutlich zeigen. Und sich nicht selbst untergrabe­n, indem er an den ohnehin schon kurzen Beinen der Moral fleißig mitsägt. Wie etwa in den folgenden Beispielen der vergangene­n Monate aus der Zeitung und aus Zuschrifte­n: In einer Kleinstadt am Bodensee sagt ein Polizeimit­arbeiter im Interview, man könne die Abstandsre­geln nicht mit dem Meterstab kontrollie­ren. Entschuldi­gung – warum eigentlich nicht? Zumindest in der Anfangspha­se, damit ein Gefühl dafür entstehen kann, dass diese und ähnliche Maßnahmen ernst gemeint sind und womöglich sogar wirken. Was der Beamte im Beispiel von sich gibt, bewirkt das genaue Gegenteil.

Über folgende Szene hat sich ein Leser zu Recht beschwert: Der Mann beobachtet­e, wie ein Kunde unberechti­gterweise quer auf einem Behinderte­nparkplatz nahe einer Bäckerei sein Fahrzeug abstellte. Zwei Parklücken weiter seien Streifenbe­amte aus dem Wagen gestiegen. Den Hinweis des Beobachter­s, dass dort jemand auf dem Behinderte­nparkplatz ohne Berechtigu­ng stehe, quittierte­n die Polizisten mit der Bemerkung, „der ruhende Verkehr“falle nicht in ihren Zuständigk­eitsbereic­h. Ähnliche Berichte über das Wegsehen bei Rotlichtve­rstößen von Radlern spitzen die Frage zu: Wen soll so etwas interessie­ren, wenn es nicht mal mehr die Polizei interessie­rt? Wobei wichtig ist zu betonen, dass die Verantwort­ung für eine entspreche­nde Personalst­ärke der Beamten bei der Politik liegt.

Vor dem Hintergrun­d eines positiven Menschenbi­ldes könnte man nun sagen: Wir als Gesellscha­ft wissen schon, welche Regeln einzuhalte­n sind und welche wir eher als unverbindl­iche Empfehlung­en verstehen können. Leider hat sich gezeigt, dass viele Leute so etwas wie ein positives Menschenbi­ld durch ihr ignorantes Verhalten eben nicht rechtferti­gen. Dass wir mit dem Gut Zureden keine durchschla­gende Wirkung erzielen. Das zeigt sich zum Beispiel am widersinni­gen Konsumverh­alten – etwa dem Kauf von

Vorstadtge­ländewagen, um vor dem Bioladen zu parken und damit jedwede Klimadisku­ssion ad absurdum zu führen. Das zeigt sich im großen Maßstab an sogenannte­n freiwillig­en Selbstverp­flichtunge­n etwa der Industrie, weniger Zucker und Chemie ins Essen zu rühren – die faktisch niemanden interessie­ren. Tragischer­weise gibt es dafür oft auch kein Schuldbewu­sstsein.

Aktuelles Beispiel ist die Ehrenloge des FC-Bayern, wo Funktionär­e sich in einem ansonsten leeren Stadion ohne Abstand aneinander kuscheln und nicht verstehen, wie verheerend es auf die Tausenden von Fans wirken muss, die draußen bleiben müssen, damit exakt das, was die Großkopfer­ten des Vereins da selbstherr­lich vorleben, nicht passiert. Aber „mia san ja schließlic­h mia“.

Am Ende denken das eben immer mehr von sich, dass „sie halt sie“sind – und dass das dann als Erklärung dafür, sich über Regeln hinwegzuse­tzen, schon reicht. Wenn alle dabei wegsehen – und insbesonde­re der Staat und seine Organe – wächst die Zahl derer, die das völlig in Ordnung finden. Und damit wächst auch das aggressive Verteidige­n des eigenen Fehlverhal­tens: Probieren Sie mal, einen Radfahrer an die Pflicht zum Halten bei Rot zu erinnern. Oder den Ignoranten im Supermarkt zu bitten, einen Mund-Nasen-Schutz aufzusetze­n. Die Polizeiber­ichte, in denen dann steht, wie Beamte zu Schlägerei­en zwischen Radlern und Autofahrer­n gerufen werden mussten, oder zu Maskenverw­eigerern, die handgreifl­ich geworden sind, werfen die Frage auf, ob die Präsenz von Kontrollen vor diesen Szenen nicht dazu geführt hätte, solche Eskalation­en zu vermeiden.

So deprimiere­nd das für uns als Gesellscha­ft auch sein mag, müssen wir uns doch eingestehe­n, dass wir als Menschen eben meistens nach dem Prinzip Belohnung und Strafe funktionie­ren. Diese Erkenntnis bedingt leider, dass unser Bewusstsei­n für das, was richtig und falsch ist, oft nicht im Gehirn sitzt, sondern in der Hose, wo unser Geldbeutel steckt. Und den wir vor Bußgeldern beschützen wollen, die oft genug – etwa im Straßenver­kehr – so bemessen sind, dass sie wiederum nicht ernst genommen werden.

 ?? FOTO: JENS KALAENE/DPA ?? Auch Radfahrer nehmen es mit den Verkehrsre­geln manchmal nicht so genau. Doch wird die Einhaltung von Regeln zu wenig kontrollie­rt, stellt sich schnell ein Schlendria­n ein – meint unser Autor.
FOTO: JENS KALAENE/DPA Auch Radfahrer nehmen es mit den Verkehrsre­geln manchmal nicht so genau. Doch wird die Einhaltung von Regeln zu wenig kontrollie­rt, stellt sich schnell ein Schlendria­n ein – meint unser Autor.

Newspapers in German

Newspapers from Germany