Der die Ewigkeit einholt
Lewis Hamilton kann in Sotschi Michael Schumachers 91 Formel-1-Siege erreichen – doch Zahlen sind für ihn nicht alles
1 Siege hat Michael Schumacher in seiner Formel-1-Karriere herausgefahren, den letzten am 1. Oktober 2006 beim China-GrandPrix in Schanghai. Eine Marke, dachte man, für die Motorsport-Ewigkeit. Lewis Hamilton dachte anders, und so wird die Ewig- zur Endlichkeit. Womöglich bereits diesen Sonntag: Lewis Hamilton steht bei 90 gewonnenen Rennen, in Sotschi (13.10 Uhr MESZ/RTL und Sky) kann der 35-Jährige Brite mit seinem Vorgänger im Mercedes-Werksteam gleichziehen. Auch nach Weltmeistertiteln dürfte das heuer noch geschehen; niemand bezweifelt, dass der sechsmalige Champion 2020 zum siebenmaligen wird (wie zuvor, für Benetton und Ferrari, allein Michael Schumacher). Zu makellos chauffiert Lewis Hamilton den überlegenen Mercedes-AMG F1 W11 EQ Performance, zu klar dominiert er seinen Teamkollegen Valtteri Bottas (aktuell 55 WM-Punkte zurück) und Herausforderer Max Verstappen im Red-Bull-Honda RB16 (bereits 80 Zähler Rückstand).
Lewis Hamilton beerbt Michael Schumacher – das hatte 2007 kaum einer kommen sehen. Oder doch? Das Debüt für McLaren-Mercedes endete auf Platz drei, vier zweiten Rängen in Serie folgte in Montreal Sieg Nummer 1. Nun spätestens brauchte es Bernie Ecclestones Expertise. Der Übervater der Formel 1 damals über die Qualitäten seines Landsmanns: „Er ist jung, sieht gut aus, kann reden und verkauft den Sport perfekt.“Und: „Wenn man ihm Michaels Helm aufsetzen würde, könnte man glauben, es sei Schumacher.“Schumacher-Sein und Hamilton-Sein einten Entschlossenheit und Willen im Cockpit. Von der „Gabe, niemals nachzulassen“, sprach McLaren-Teamchef Ron Dennis, Lewis Hamilton selbst beschrieb den Lewis Hamilton der frühen Tage so: „Ich habe kein gottgegebenes Talent. Jeder hat Talent, nur auf einem unterschiedlichen Level. Manche arbeiten härter als andere – und das sind diejenigen, die die besseren Rennfahrer sind.“
Die, die wissen, was sie wollen. Wohin sie wollen. Oft bemühter Beleg: die erste Begegnung des gewieften zehnjährigen Kerlchens mit dem machtbewusst-mächtigen McLarenPrinzipal Dennis. Klein-Lewis, im Kart längst ein Schneller, soll beim „Autosports Award 1995“erst ein Autogramm, dann eine Chance erbeten haben: „I’m going to race for you one day, I’m going to race for McLaren“(„Eines Tages fahre ich für Sie, eines Tages fahre ich für McLaren“). Wieso gerade McLaren? „Ayrton Senna war mein Idol; er fuhr für sie. Und mir gefiel die Lackierung der Autos.“
Ron Dennis gefiel die Geschichte des Jungen, dessen Familie aus Granada stammt. Zwei Nebenjobs hatte Vater Anthony, ein Bahnarbeiter, zeitweise angenommen, um seinem Sohn den Motorsport zu ermöglichen. Man fand Gefallen aneinander, McLaren und Mercedes boten Lewis Hamilton von 1998 an eine fundierte Ausbildung, diverse Titel in diversen Formel-Serien dankten es. Und – 2008 – der WM-Triumph. 23 Jahre, neun Monate und 26 Tage jung war der Formel-1-Weltmeister Hamilton, der stolze Papa lobte: „Mein Sohn ist im Auto ein Monster. Er gibt nie auf.“
Bester sein ist gern schwieriger als Bester werden. Das mag nicht wirklich überraschen, mit dreiundzwanzigdreiviertel aber musst du damit erst einmal klarkommen. Du bist öffentlich. Gläsern. Sie deuten dein Extrovertiert-Sein als Glamour-Boy-Gehabe,
ziehen aus Ohrsteckern, exakt konturierten Koteletten und Tattoos voreilig Rückschlüsse, kritisieren dich für zu aggressiven Fahrstil und zu unspektakuläre Resultate. Nicht in der Schublade, in die sie dich stecken: Man(n) kann sich entwickeln. Lewis Hamilton entwickelte sich. „Ich denke“, sagte er 2014, im Jahr seines zweiten Fahrertitels, „dass ich langsam in meine eigene Persönlichkeit hineingewachsen bin.“
Mercedes pur statt McLaren-Mercedes chauffierte Lewis Hamilton inzwischen; geblieben ist die Passion für das, was er tut. „Ich fahre mir die Seele aus dem Leib, das ist meine Einstellung.“Eine hochprofessionelle, schwärmt Mercedes-Motorsportchef Torger Christian „Toto“Wolff: „Bei der Arbeit mit Lewis gefällt mir am meisten, den Menschen kennenzulernen, der unter dem Rennhelm steckt: sein erbarmungsloser Antrieb, sich selbst zu verbessern, seine emotionale Intelligenz als Teammitglied und seine große Loyalität gegenüber seinem Umfeld.“Umgekehrt dürfte Lewis Hamilton mächtig gefallen, dass dieses Umfeld, dass all die findigen Köpfe in Brackley, Brixworth und Stuttgart das 2014 grundlegend modifizierte Motorenreglement der Formel 1 optimal mit PS gefüllt haben. Der gute Stern der Hybrid-PowerUnit-Ära leuchtet in einer eigenen Galaxie, für die Konkurrenz sind Konstrukteurswie Fahrertitel gefühlt Lichtjahre entfernt. Trotzdem sagte Lewis Hamilton im Winter: „Ich möchte die Latte jedes Jahr ein Stück höher legen und ich versuche, weiter zu pushen, um die bestmögliche Version meiner selbst zu werden.“
Sechs erste Plätze bei bisher neun Starts in der so eigenwillig fordernden Corona-Saison zeigen, dass der Sportler Lewis Hamilton da auf gutem Weg ist. Der Mensch Lewis Hamilton ist es auch, bringt und mischt sich ein, positioniert sich. Seit drei Jahren ernährt sich Lewis Hamilton vegan, möglichst klimaneutral will er künftig leben. Den verwegenen Plan eines Saisonstarts in Melbourne zu Infektionshochzeiten – erst spät doch verworfen – kritisierte am schärfsten: Lewis Hamilton.
Der Mann hat etwas zu sagen. In der aktuellen Anti-Rassismus-Debatte sowieso. In Mugello trug er bei der Siegerehrung ein T-Shirt, das Gerechtigkeit für Breonna Taylor fordert, eine von Polizeikugeln in Louisville getötete Afroamerikanerin. Zuvor schon hatte Lewis Hamilton seine Stimme der „Black Lives Matter“-Bewegung geliehen, Klartext gesprochen, Projekte angestoßen. Die Hamilton Commission etwa, die, gemeinsam mit der Royal Academy of Engineering, jungen Schwarzen den Weg in die MINT-Studiengänge (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) erleichtern soll. Um gleiche Chancen geht es, gegen strukturelle Missstände, auch im Motorsport. Und immer ums Tun. Das ist Lewis Carl Davidson Hamilton Verpflichtung. Schon seiner Biografie, seiner Identität wegen: „Die Zeit für Plattitüden und Alibi-Gesten ist vorbei.“
Jetzt also Sieg 91. Alle erwarten ihn – wenn nicht in Sotschi, dann zwei Wochen später auf dem Nürburgring (ausgerechnet!) –, alle reden von ihm. Fast alle. Lewis Hamilton sagt: „Ich weiß, wie schwierig das wird.“Außerdem: „Ich weiß nicht, warum ich bin, wie ich bin – aber Zahlen sind nichts, worauf ich mich konzentriere.“Und schließlich: „Natürlich wäre es mir eine Ehre. Aber es passieren gerade so viele andere, wichtigere Dinge in der Welt da draußen.“
Ist wohl so. 14 Jahre nach jenem 1. Oktober 2006 in Schanghai.
Michael Schumacher Weltmeistertitel: sieben (1994, 1995 jeweils mit Benetton; 2000, 2001, 2002, 2003, 2004 jeweils mit Ferrari).
Rennen: 308 (gemeldet) bzw. 306 (definitiv gestartet).
Siege: 91 (19 mit Benetton, 72 mit Ferrari).
Siegquote: 29,74 Prozent.
Podestplätze: 155.
Schnellste Rennrunden: Pole-Positionen: 68.
Rennkilometer: 81 153,981.
Führungskilometer: 24 109,756. 77.
Lewis Hamilton Weltmeistertitel: sechs (2008 mit McLaren-Mercedes; 2014, 2015, 2017, 2018, 2019 jeweils mit Mercedes).
Rennen: 259.
Siege: 90 (21 mit McLarenMercedes, 69 mit Mercedes).
Siegquote: 34,75 Prozent.
Podestplätze: 158.
Schnellste Rennrunden: Pole-Positionen: 95.
Rennkilometer: 74 378,485.
Führungskilometer:
24 687,888. 51.
Hamilton über Schumacher: „Ich hatte nie wirklich eine Beziehung zu ihm.“– „Es war immer nur reine Bewunderung.“– „In Abu Dhabi haben wir mal unsere Helme getauscht, und das war für mich damals ein richtig großes Ding. Dass sich der große Michael Schumacher dafür die Zeit genommen hat. Es ist bis heute der wertvollste Helm in meiner Sammlung.“(Alles gesagt am 24. September 2020 in Sotschi)
Schumacher über Hamilton: „Ich halte sehr viel von ihm, denn was er in einer solch kurzen Zeit erreicht hat, ist meiner Meinung nach unglaublich.“(Gesagt im Herbst 2008, kurz vor dem ersten Hamilton-Titel)