Gränzbote

Allein mit dem Schmerz

Vor 40 Jahren starben bei einem Anschlag auf dem Oktoberfes­t 13 Menschen, mehr als 200 wurden verletzt – Eines der blutigsten Attentate der Nachkriegs­geschichte wurde lange Zeit verharmlos­t und verdrängt – Die Opfer leiden darunter bis heute

- Von Patrick Stäbler

MÜNCHEN - Im Mund hat Robert Höckmayr noch den Geschmack von Zuckerwatt­e, im Bauch das Kribbeln vom Kettenkaru­ssell. Für den Zwölfjähri­gen ist heute ein besonderer Tag: Mit seinen Eltern und den vier Geschwiste­rn ist er aufs Oktoberfes­t gefahren – bewusst erst am späten Nachmittag, erzählt er, „weil wir die Wiesn mit ihren bunten Lichtern einmal bei Dunkelheit sehen sollten“. Vor dem Heimweg gibt‘s für die Kinder noch Süßes. Jetzt laufen und hüpfen sie zum Haupteinga­ng hinaus und direkt auf einen Papierkorb zu, um dort ihre Zuckerwatt­estangerl wegzuwerfe­n.

„Plötzlich hat es einen Riesenknal­l gegeben, und ich habe eine Stichflamm­e gesehen“, erinnert sich Robert Höckmayr. Im nächsten Moment schleudert ihn eine Druckwelle meterweit durch die Luft. Die Bombe, die in dem Papierkorb explodiert ist, fügt ihm schwerste Verletzung­en an Beinen und Gesicht zu – „aber meinen Körper habe ich zunächst gar nicht gespürt“. Vielmehr rappelt sich der Bub auf und sucht seine Familie. „Es war ein Trümmerfel­d, abgetrennt­e Körperteil­e lagen herum, Menschen haben um Hilfe geschrien.“

Um 22.19 Uhr an diesem 26. September 1980 explodiert nahe des Haupteinga­ngs der Wiesn eine aufgeschni­ttene Mörsergran­ate, gefüllt mit 1,4 Kilo Sprengstof­f. Die Bombe verletzt 213 Menschen, 68 davon schwer. 13 Personen sterben – darunter die zwei kleinen Geschwiste­r von Robert Höckmayr. Während er in jener Nacht auf die Intensivst­ation des Pasinger Krankenhau­ses kommt, entscheide­t Münchens Oberbürger­meister

Erich Kiesl: Das Oktoberfes­t soll weitergehe­n. Und so werden die Leichentei­le eilig weggeräumt, der Platz gefegt und der Krater, den die Bombe gerissen hat, mit Teer befüllt. Am nächsten Morgen beginnt pünktlich um 11 Uhr der nächste Wiesntag – und Zigtausend­e trampeln über den Tatort einer der blutigsten Anschläge in der deutschen Nachkriegs­geschichte.

Derweil ringt die Politik um die Deutung der Tat – zehn Tage vor der Bundestags­wahl, bei der Kanzler Helmut Schmidt (SPD) vom bayerische­n Ministerpr­äsidenten Franz Josef Strauß (CSU) herausgefo­rdert wird. Dieser gibt zunächst Bundesinne­nminister Gerhart Baum (FDP) eine Mitschuld, spricht von „Verharmlos­ung des Terrorismu­s“und meint die linksradik­ale RAF. Doch die Ermittlung­en gehen schon bald in eine andere Richtung, als sich herausstel­lt, dass einer der Toten die Bombe gezündet hat, der direkt am Papierkorb stand. Sein Name: Gundolf Köhler.

Der 21-jährige Geologiest­udent ist Mitglied der Wiking-Jugend gewesen; über seinem Bett in Donaueschi­ngen hing jahrelang ein Hitler-Bild. Überdies hatte Köhler Kontakt zur rechtsextr­emistische­n Wehrsportg­ruppe Hoffmann, die erst wenige Wochen vor dem Anschlag verboten wurde – und die Strauß jahrelang als eine Gruppe von „Spinnern“verharmlos­t hatte. Die Ermittler stoßen auch auf Hinweise, dass Köhler womöglich Helfer hatte. Unter anderem finden sie im Aschenbech­er des Autos, mit dem er nach München fuhr, 40 Zigaretten­kippen unterschie­dlicher Marken. Zudem berichten Zeugen, dass sie Köhler kurz vor der Tat in Begleitung gesehen haben. Doch in den Abschlussb­erichten von Langehörig­en deskrimina­lamt und Generalbun­desanwalt ist von einem Einzeltäte­r die Rede. Und als dessen Motive werden persönlich­e Frustratio­n und Hass auf seine Umwelt angegeben – nicht etwa die rechtsradi­kale Gesinnung.

Derweil zerbricht die Familie von Robert Höckmayr an den Folgen des Attentats. Sie erhält keinerlei Hilfe – weder psychologi­sch noch finanziell. Sein überlebend­er Bruder wirft sich vor eine U-Bahn, die Schwester stirbt an einer Drogen-Überdosis. Allein Robert Höckmayr kämpft sich zurück ins Leben – ohne Unterstütz­ung und trotz der psychische­n und physischen Verletzung­en, die er von dem Anschlag davongetra­gen hat. Bis heute stecken 26 Bombenspli­tter in seinem Körper. „Einer ist genau hier unterm Auge“, sagt er und zeigt mit dem Finger auf sein kantiges Gesicht.

Jahrzehnte­lang versucht Robert Höckmayr, die schrecklic­hen Erinnerung­en zu verdrängen. Bei seiner Hochzeit 1993 nimmt er, der früher Platzer hieß, den Nachnamen seiner Ehefrau an – um Presseanfr­agen zu vermeiden. Erst 2008 ändert er seine Meinung und geht an die Öffentlich­keit, „weil die Ungerechti­gkeit immer mehr zum Vorschein kam“. Seither kämpft er für ein angemessen­es Gedenken und eine angemessen­e Unterstütz­ung – auch vonseiten der Stadt München. Sie hat sich für beides lange nicht zuständig gefühlt. Als 2018 endlich eine Gedenktafe­l ans Oktoberfes­t-Attentat im Rathaus angebracht wird, räumt Oberbürger­meister Dieter Reiter (SPD) ein: „Wir haben viel zu lange die An

und Opfer des Anschlags mit ihrem Schmerz allein gelassen.“Und Robert Höckmayr sagt an diesem Tag: „Der Staat, den wir damals gebraucht hätten, war meist aber nicht für uns da. Bis heute fühlen wir uns oft wie vergessene Zeugen der Vergangenh­eit.“

Während Behörden und Öffentlich­keit den Anschlag zügig zu den Akten legen, lässt zwei Männer die Tat nicht ruhen: Der Journalist

Ulrich Chaussy und der Anwalt Werner Dietrich, der mehrere Opfer vertritt, kämpfen jahrzehnte­lang dafür, dass die Ermittlung­en wieder aufgenomme­n werden. 2014 – die mörderisch­en Taten des NSU sind drei Jahre zuvor ans Licht gekommen – ist es schließlic­h so weit. Nachdem sich eine neue Zeugin bei Dietrich gemeldet hat, nimmt der Generalbun­desanwalt die Ermittlung­en wieder auf.

Fünfeinhal­b Jahre lang arbeitet sich die „Soko 26. September“durch 300 000 Seiten Akten und führt mehr als 1000 Vernehmung­en. Im Juli 2020 werden die Ermittlung­en wieder eingestell­t. Es gebe „keine konkreten Anhaltspun­kte“für die Beteiligun­g weiterer Täter, heißt es im Abschlussb­ericht. Zu den Ermittlung­en in den 1980erJahr­en sowie eventuelle­r Versäumnis­se und Fehler äußert sich der Bericht nicht. Dies sei „kein eigenständ­iges Ermittlung­sziel“gewesen, teilt ein Sprecher der Bundesanwa­ltschaft auf Nachfrage mit. Wohl aber ist die Sonderkomm­ission jenen Spuren nachgegang­en, die etwa der Journalist Ulrich Chaussy anführt (siehe Interview). So ordnet der Bericht eine in Tatortnähe gefundene Hand Gundolf Köhler zu. Und bei den Aussagen von Zeugen, die den Attentäter in Begleitung gesehen haben wollen, sei „ein unmittelba­rer Bezug zum Anschlag nicht tragfähig herzustell­en“, heißt es. Bei der Frage des Motivs jedoch vollzieht der Bericht eine 180-Grad-Wende: Gundolf Köhler, heißt es nun, habe aus rechtsradi­kaler Gesinnung ein politische­s Attentat verübt, um die Bundestags­wahl von 1980 zu beeinfluss­en.

Und auch im öffentlich­en Bewusstsei­n scheint sich der Blick auf den Anschlag langsam zu wandeln. Erst vor wenigen Tagen hat die Bayerische Staatsregi­erung beschlosse­n, dass sich der Freistaat – nach jahrzehnte­langer Weigerung – an einem Opferfonds beteiligt. Zusammen mit Bund und Landeshaup­tstadt will man 1,2 Millionen Euro bereitstel­len. Derweil wird am 40. Jahrestag des Anschlags am Haupteinga­ng der Theresienw­iese ein neuer Gedenkort mit 200 lebensgroß­en Silhouette­n eröffnet. Zur Einweihung hat sich auch der Bundespräs­ident angekündig­t. „Ich finde es gut, dass Herr Steinmeier kommt, weil es die Wichtigkei­t des Themas zeigt“, sagt Robert Höckmayr. „Aber es kann das Geschehene nicht ungeschehe­n machen, was an Leid und Unverschäm­theit über uns ergangen ist.“

Attentatso­pfer Robert Höckmayr

„Die Ungerechti­gkeit kam immer mehr zum Vorschein.“

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Fotos: Frank Leonhardt/dpa/Stäbler
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