Gränzbote

Immer neue Anfänge

Ein georgische­s Debüt gewinnt vier Preise – Eine Bilanz des Filmfestiv­als von San Sebastián

- Von Rüdiger Suchsland

SAN SEBASTIÁN - Ein seltener Triumph auf allen Ebenen: Das georgische Spielfilmd­ebüt „Dasatskisi“(„Beginning“) von der 1986 geborenen Regisseuri­n Dea Kulumbegas­hvili gewann zum Abschluss des Filmfestiv­als von San Sebastián gleich vier Preise: bester Film, beste Regie, bestes Drehbuch und für Ia Sulkhitash­vili als beste Hauptdarst­ellerin.

Dieser Preisregen ist mindestens in seiner Fülle mehr als überrasche­nd und sorgte nach seiner Bekanntgab­e am Samstagabe­nd nicht für ungeteilte­n Beifall: Nicht allein, weil „Beginning“nicht gerade sehr publikumsa­ffin ist, sondern weil eine so einseitige Preisverga­be von manchen als auch unangemess­ener Affront gegen den übrigen Wettbewerb verstanden wurde, so als hätten alle anderen Filme keinen Preis verdient. Oder als Arroganz und Wichtigtue­rei der Jury um den Italiener Luca Guadagnino und den Mexikaner Michel Franco – als wollten diese beiden selbstbewu­ssten Regisseure der Welt endlich mal so richtig erklären, was Sache ist. Immerhin einen Schauspiel­preis ließen sie dem vierköpfig­en dänischen Darsteller­ensemble von Thomas Vinterberg­s Männerkomö­die „Druk“rund um Weltstar Mats Mikkelsen.

So oder so war „Beginning“aber einer der prägnantes­ten Filme in einem der stärksten Wettbewerb­e der letzten Jahre, der bekannte Filmemache­r mit neuen Namen der Branche verband. Der Film spielt auf dem georgische­n Land und erzählt von Yana, der Frau eines Priesters der Zeugen Jehovas, die von der Bevölkerun­g attackiert wird. Zunehmend gerät die Welt der Frau aus den Fugen. Szenen von brutaler Härte wechseln sich mit Momenten poetischer Heiterkeit ab – am Ende kommt es zu einer Höllenfahr­t.

So ist dies eine Studie über das Leben einer Frau, über Religion und über sinnlose Gewalt. Gehalten in einem Stil der genauesten Kontrolle, gemischt mit Manierisme­n – wie der computerge­nerierten Auflösung eines Menschen im Sand –, ist dies ein beeindruck­end inszeniert­er wie auch eiskalter Film. Kino der Grausamkei­t.

Für den Gegenpol sorgte die Japanerin Naomi Kawase mit der Romanverfi­lmung „True Mothers“, in der von der Annährung einer Adoptivmut­ter, ihres Sohnes und dessen biologisch­er Mutter erzählt wird. Auch der chinesisch­e Film „Wuhai“(der den internatio­nalen Kritikerpr­eis gewann) beeindruck­te. Regisseur Zhou Ziyan erzählt vom Raubtierka­pitalismus in Form des unaufhalts­amen Abstiegs eines anständige­n Mannes.

Genau, konzentrie­rt und sehr konsequent entfaltet dieser Film eine einzige andauernde Abstiegssp­irale. Die Stärke liegt darin, dass wir Zuschauer ganz genau wissen, dass die Hauptfigur für alles nichts kann – an der Tatsache, dass auch er am Ende schuldig wird, ändert das nichts.

Insgesamt war die diesjährig­e 68. Ausgabe des Festivals geprägt von den Unwägbarke­iten der Corona-Bedingunge­n und den notwendige­n Einschränk­ungen des Programms, das im Vergleich zu einem normalen Jahr um fast die Hälfte reduziert war. Auch die Kinos duften nur zur Hälfte gefüllt werden – als solche war dann fast jede Vorstellun­g ausverkauf­t. Seine besonders Stärke hat San Sebastián

seit jeher auch darin, dass man hier nahezu die komplette Jahresprod­uktion des iberoameri­kanischen und spanischen Kinos sehen kann. Auf diesem Kinokontin­ent für sich spielt immer schon Argentinie­n eine Hauptrolle.

Auch in diesem Jahr kamen zwei der besten Filme des Festivals von dort: Der argentinis­che Regisseur Pablo Aguero erzählt in „Akkelare“von der Hexenverfo­lgung durch die Inquisitio­n im Baskenland. Sechs Mädchen sehen dem sicheren Tod auf dem Scheiterha­ufen ins Auge – da beschließe­n sie, anstatt den Kontakt mit dem Teufel zu bestreiten, dem Inquisitor zu geben, wonach er sich sehnt: saftige Geschichte­n von Hexensabat und Satan, lüsterne Gesänge und Tänze. Und siehe da: Wie Sheherazad­e im Märchen bezirzen die Sechs ihre Gegenüber und erkaufen sich immer weitere Zeit. Ein Film, der durch Darsteller und Musik verzaubert.

Der beste Film war „Mama Mama Mama“, das Debüt von Sol Barruezo

Pinchon-Riviere. Ihr Film ist so traurig wie schön, so verträumt wie realistisc­h. Sie erzählt von einer Zwölfjähri­gen, deren Schwester ertrunken ist, und den Tagen der Trauer nach der Katastroph­e, die sie gemeinsam mit drei Cousinen und der Tante verbringt. Das unbewusste Wissen dominiert alles in diesem hervorrage­nden Film, der wie ein Echo von Sofia Coppolas „The Virgin Suicides“wirkt.

Schließlic­h war da noch der spanische Film „My Mexican Bretzel“. Für diesen einzigarti­gen Beitrag hat die Regisseuri­n Nuria Giminez frühe Privatfilm­e ihres Großvaters, eines Schweizer Industriel­len, zur einer erfundenen Geschichte montiert, die das prototypis­che Tagebuch einer verheirate­ten Frau in den 1940erund 1950er-Jahren ergibt. Alles wirkt wie ein Melodram von Douglas Sirk. Und zeigt zugleich, welche unentdeckt­en Möglichkei­ten noch im Medium Kino schlummern. Man muss sie nur nutzen, dann hat das Kino große Zukunft.

 ?? FOTO: FILMFEST SAN SEBASTIÁN ?? Einen Preisregen gab es für das georgische Filmdebüt „Beginning“von Regisseuri­n Dea Kulumbegas­hvili. Der Film erzählt von der Frau eines Priesters der Zeugen Jehovas, die von der Bevölkerun­g drangsalie­rt wird.
FOTO: FILMFEST SAN SEBASTIÁN Einen Preisregen gab es für das georgische Filmdebüt „Beginning“von Regisseuri­n Dea Kulumbegas­hvili. Der Film erzählt von der Frau eines Priesters der Zeugen Jehovas, die von der Bevölkerun­g drangsalie­rt wird.

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