Schulstoff mit neuer Dimension
Im Schauspiel Stuttgart wird Dürrenmatts „Besuch der Alten Dame“mit der Familiengeschichte der starken Hauptdarstellerin verknüpft
STUTTGART - Rache ist süß. Deshalb will sich Claire an dem Mann rächen, der einst geleugnet hat, der Vater ihres Kindes zu sein. Zeugen hat er damals bestochen, er hat mit angeschaut, wie Claire zum Gespött der Stadt wurde und schließlich gedemütigt ihre Heimat verlassen musste. Jetzt aber ist Claires große Stunde gekommen. Reich ist sie geworden, während ihre Heimatstadt kurz vor dem Ruin steht. Eine Milliarde verspricht die alte Dame – und will nur eine Gegenleistung dafür: den Kopf von Alfred.
Bis heute ist „Der Besuch der alten Dame“von Friedrich Dürrenmatt klassischer Schul- und Abiturstoff, weil der Konflikt extrem zugespitzt ist und die Fragen von Schuld und Moral wie in einer antiken Tragödie verhandelt werden. Am Schauspiel Stuttgart hat der Intendant Burkhard C. Kosminski die Geschichte der Claire Zachanassian nun verknüpft mit der düsteren deutschen Vergangenheit. Seine Inszenierung im Schauspielhaus führt in die frühe Bundesrepublik und in eine Gesellschaft, die vom Gestern nichts mehr wissen will. Bei Kosminski hieß Claire einst Goldberg, Alfred Ill hat sie verleugnet, weil sie Jüdin war.
Nun ist Claire wieder zurückgekehrt nach Güllingen, wie die Stadt in der Stuttgarter Fassung heißt. Sie ist keine alte Dame, sondern eine attraktive, selbstbewusste Frau in den besten Jahren. Die Haare feurig rot, der Schritt in den dicken, schwarzen Schuhe so energisch, dass unmissverständlich klar ist: Dieser Frau gehört die Welt! Tatsächlich hat Claire Zachanassian ihre Heimatstadt mit dem Geld ihres Mannes sukzessive aufgekauft, hat Fabriken stillgelegt und den Ruin der Gemeinde bewusst inszeniert, damit ihre Rache umso süßer wird.
Evgenia Dodina spielt die Claire – und steigt mitten im Spiel aus der Rolle aus. Sie wolle sich dem Publikum vorstellen, erklärt sie, eine Jüdin aus Weißrussland, die nach Israel ausgewandert ist und von Kosminski nach Stuttgart geholt wurde. Immer wieder unterbricht Dodina an diesem Abend die Handlung, um vom Schicksal ihrer eigenen Familie zu erzählen, von der Großmutter, die im Zweiten Weltkrieg auf der Flucht verhungert ist. Sie stellt die Frage, ob
Rache ein Mittel sein kann zur Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte.
Diese weitere Dimension bekommt Dürrenmatts Stück gut, dessen Ausgang ja doch recht vorhersehbar ist. Allerdings nimmt das Pathos in den biografischen Erzählungen (Text: Peter Michalzik) zunehmend überhand. Die Seitenhiebe auf die AfD wirken wohlfeil, Sätze wie „Die Politik wird immer schlechter und immer wichtiger“ sind unangenehm populistisch. Und als Dodina schließlich noch auf Hebräisch ein Klagelied singt, ertrinkt die Inszenierung vollends im Betroffenheitsgestus und es beschleicht einen das Gefühl, dass die Regie dem Charisma der Schauspielerin erlegen ist und jede Distanz zu ihrem Spiel verloren hat.
Zu Unrecht rückt dadurch das übrige Ensemble in den Hintergrund und wirken Matthias Leja als Alfred und Sven Prietz als Bürgermeister wie Randfiguren. Dabei spielt gerade auch Felix Strobel den Polizisten so grandios selbstgerecht, dass es einen schaudert.
Geld regiert die Welt, so Dürrenmatts Botschaft, weshalb fast den gesamten Abend über Geldscheine vom Schnürboden schneien in den mit großen Holzlatten umzäunten Raum, der eher an ein Gefängnis als an eine Stadt erinnert. In Aussicht auf Claires Geldsegen sind die Güllinger bereits munter dabei, Schulden zu machen, sodass absehbar ist, dass sie ihre moralische Entrüstung über kurz oder lang werden beiseite wischen müssen. Für den eigenen Wohlstand lässt man zur Not eben dann doch den Kopf des Nachbarn rollen.