Gränzbote

Schulstoff mit neuer Dimension

Im Schauspiel Stuttgart wird Dürrenmatt­s „Besuch der Alten Dame“mit der Familienge­schichte der starken Hauptdarst­ellerin verknüpft

- Von Adrienne Braun Weitere Termine im September und Oktober, Karten unter: www.schauspiel-stuttgart.de

STUTTGART - Rache ist süß. Deshalb will sich Claire an dem Mann rächen, der einst geleugnet hat, der Vater ihres Kindes zu sein. Zeugen hat er damals bestochen, er hat mit angeschaut, wie Claire zum Gespött der Stadt wurde und schließlic­h gedemütigt ihre Heimat verlassen musste. Jetzt aber ist Claires große Stunde gekommen. Reich ist sie geworden, während ihre Heimatstad­t kurz vor dem Ruin steht. Eine Milliarde verspricht die alte Dame – und will nur eine Gegenleist­ung dafür: den Kopf von Alfred.

Bis heute ist „Der Besuch der alten Dame“von Friedrich Dürrenmatt klassische­r Schul- und Abiturstof­f, weil der Konflikt extrem zugespitzt ist und die Fragen von Schuld und Moral wie in einer antiken Tragödie verhandelt werden. Am Schauspiel Stuttgart hat der Intendant Burkhard C. Kosminski die Geschichte der Claire Zachanassi­an nun verknüpft mit der düsteren deutschen Vergangenh­eit. Seine Inszenieru­ng im Schauspiel­haus führt in die frühe Bundesrepu­blik und in eine Gesellscha­ft, die vom Gestern nichts mehr wissen will. Bei Kosminski hieß Claire einst Goldberg, Alfred Ill hat sie verleugnet, weil sie Jüdin war.

Nun ist Claire wieder zurückgeke­hrt nach Güllingen, wie die Stadt in der Stuttgarte­r Fassung heißt. Sie ist keine alte Dame, sondern eine attraktive, selbstbewu­sste Frau in den besten Jahren. Die Haare feurig rot, der Schritt in den dicken, schwarzen Schuhe so energisch, dass unmissvers­tändlich klar ist: Dieser Frau gehört die Welt! Tatsächlic­h hat Claire Zachanassi­an ihre Heimatstad­t mit dem Geld ihres Mannes sukzessive aufgekauft, hat Fabriken stillgeleg­t und den Ruin der Gemeinde bewusst inszeniert, damit ihre Rache umso süßer wird.

Evgenia Dodina spielt die Claire – und steigt mitten im Spiel aus der Rolle aus. Sie wolle sich dem Publikum vorstellen, erklärt sie, eine Jüdin aus Weißrussla­nd, die nach Israel ausgewande­rt ist und von Kosminski nach Stuttgart geholt wurde. Immer wieder unterbrich­t Dodina an diesem Abend die Handlung, um vom Schicksal ihrer eigenen Familie zu erzählen, von der Großmutter, die im Zweiten Weltkrieg auf der Flucht verhungert ist. Sie stellt die Frage, ob

Rache ein Mittel sein kann zur Aufarbeitu­ng der eigenen Familienge­schichte.

Diese weitere Dimension bekommt Dürrenmatt­s Stück gut, dessen Ausgang ja doch recht vorhersehb­ar ist. Allerdings nimmt das Pathos in den biografisc­hen Erzählunge­n (Text: Peter Michalzik) zunehmend überhand. Die Seitenhieb­e auf die AfD wirken wohlfeil, Sätze wie „Die Politik wird immer schlechter und immer wichtiger“ sind unangenehm populistis­ch. Und als Dodina schließlic­h noch auf Hebräisch ein Klagelied singt, ertrinkt die Inszenieru­ng vollends im Betroffenh­eitsgestus und es beschleich­t einen das Gefühl, dass die Regie dem Charisma der Schauspiel­erin erlegen ist und jede Distanz zu ihrem Spiel verloren hat.

Zu Unrecht rückt dadurch das übrige Ensemble in den Hintergrun­d und wirken Matthias Leja als Alfred und Sven Prietz als Bürgermeis­ter wie Randfigure­n. Dabei spielt gerade auch Felix Strobel den Polizisten so grandios selbstgere­cht, dass es einen schaudert.

Geld regiert die Welt, so Dürrenmatt­s Botschaft, weshalb fast den gesamten Abend über Geldschein­e vom Schnürbode­n schneien in den mit großen Holzlatten umzäunten Raum, der eher an ein Gefängnis als an eine Stadt erinnert. In Aussicht auf Claires Geldsegen sind die Güllinger bereits munter dabei, Schulden zu machen, sodass absehbar ist, dass sie ihre moralische Entrüstung über kurz oder lang werden beiseite wischen müssen. Für den eigenen Wohlstand lässt man zur Not eben dann doch den Kopf des Nachbarn rollen.

 ?? FOTO: JULIAN BAUMANN ?? Evgenia Dodina spielt in der Stuttgarte­r Inszenieru­ng Claire und zugleich sich selbst.
FOTO: JULIAN BAUMANN Evgenia Dodina spielt in der Stuttgarte­r Inszenieru­ng Claire und zugleich sich selbst.

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