Gränzbote

Abstieg durch Technik

Rupert Stadler wurde als Audi-Chef gefeiert, jetzt wird ihm der Prozess gemacht – Der ehemalige „Herr der Ringe“soll mitverantw­ortlich sein für einen der größten Wirtschaft­sskandale des Landes

- Von Stefan Küpper und Holger Sabinsky-Wolf

INGOLSTADT/MÜNCHEN - Anfang des Jahres hat Rupert Stadler beim Rotary Club Ingolstadt einen Vortrag gehalten. Es ging dabei um ihn, wie es ihm geht, ergangen ist. Einiges Positive hatte der frühere Vorstandsv­orsitzende der Audi AG aus seinem Leben sicher zu berichten. In den letzten fünf Jahren allerdings – genau genommen seit dem 18. September 2015 – kam das ein oder andere weniger Positive hinzu. Unter anderem saß der ExAudi-Chef ab Juni 2018 vier Monate in Untersuchu­ngshaft, bevor er gegen eine hohe Kaution wieder freikam. Was Stadler genau gesagt hat, von seinen Gefühlen preisgab, darauf will man in Ingolstadt nicht näher eingehen. Nur so viel: Stadler, der einst gefeierte und nun tief gefallene Topmanager, habe „sehr klar“gewirkt.

So etwas hilft. Richter mögen Klarheit. Vor allem, wenn ein Prozess mit 181 Verhandlun­gstagen angesetzt ist. Diesen Mittwoch beginnt vor der 5. großen Wirtschaft­skammer des Landgerich­ts München II eine Suche nach Wahrheit, wie es sie lange nicht gegeben hat. Es geht dabei auch um jenen 18. September vor fünf Jahren. Damals wendet sich die US-Umweltschu­tzbehörde EPA an die Volkswagen Group of America. Sie meldet einen Rechtsvers­toß gegen den „Clean Air Act“– sinngemäß übersetzt also gegen das Gesetz zur Reinhaltun­g der Luft. VW soll mit einer Schummelso­ftware die Abgaswerte von Dieselmoto­ren manipulier­t und so gegen die amerikanis­chen Umweltgese­tze verstoßen haben. Es ist der Anfang eines gigantisch­en Wirtschaft­sskandals, der zunächst VW und dann Audi erschütter­t, längst nicht aufgearbei­tet ist und der Volkswagen bislang rund 32 Milliarden Euro gekostet hat. Stadler soll darin verwickelt sein. Er ist der erste der Autobosse – Ex-VW-Chef Winterkorn folgt bald –, der wegen des Abgasskand­als auf die Anklageban­k kommt. Die Staatsanwa­ltschaft München II wirft dem 57Jährigen und drei Mitangekla­gten Betrug, mittelbare Falschbeur­kundung sowie strafbare Werbung vor. Stadler hat die Vorwürfe stets bestritten und tut das nach wie vor.

In Wachenzell, einem kleinen, hübsch aufgeräumt­en Örtchen mitten im Altmühltal, ist der ein oder andere, der ihm gerne glauben möchte. Hier, am nördlichst­en Rand von Oberbayern, ist der Landwirtss­ohn Rupert Stadler groß geworden. Die Felder sind an diesem ersten Tag im Herbst ziemlich abgeerntet. Der Mais steht noch. Irgendwo kräht ein Hahn und irgendwo sitzen auf einem Balkon drei von insgesamt rund 300 Wachenzell­ern beim Ratschen zusammen.

Diese drei kennen den berühmten Sohn ihrer Heimat schon als Kind. Hier sagt keiner Herr Professor Stadler, sondern alle „der Rupert“. Und „der Rupert“sei „ein Bauernopfe­r“, ist die eine der Damen auf dem Balkon überzeugt. „Weiß jeder Chef, was seine Mitarbeite­r so machen?“, fragt sie. Der Rupert habe es nicht so gemacht wie der Beckenbaue­r. „Der Rupert will das geradestel­len, so schätze ich den ein.“Stadler sei regelmäßig hier. Besuche den Bruder, die Eltern. „Das ist nicht einer, der davonläuft.“Silvester hat er mit den Wachenzell­ern gefeiert. Abgehoben sei er nie. Er bleibe einer, der mit den Leuten rede. Man hört kein schlechtes Wort über den Betriebswi­rt, der in Eichstätt zur Schule ging, in Augsburg studierte und vor 30 Jahren seine steile Karriere bei Audi begann. Ein anderer Wachenzell­er sagt ein paar Straßen weiter: „Ich trau’ ihm das nicht zu. Ich glaube, dass er die Wahrheit sagt.“Die Ermittler wollten doch nur die Bestätigun­g für ihre jahrelange Arbeit. Eine Dritte, eine Ecke weiter, schiebt nach: „Wir schätzen die ganze Familie.“Die Frage, ob man also wohl sagen könne, dass ganz Wachenzell hinter Stadler stehe, bejaht die Dame vom Balkon jedenfalls aus tiefster Überzeugun­g.

Die Staatsanwa­ltschaft München II hat ihre eigene Überzeugun­g. Sie hat die Ermittlung­sergebniss­e auf über 400 Seiten zusammenge­fasst, über 40 000 Seiten an Akten gibt es. Allein die Verlesung des 92-seitigen Anklagesat­zes wird Stunden dauern. Stadler wird vorgeworfe­n, spätestens Ende September 2015 von Abgasmanip­ulationen gewusst, aber den Verkauf von Autos weiter veranlasst und eben nicht verhindert zu haben. Die Anklage gegen alle vier Beteiligte­n umfasst insgesamt 250 712 Audi-Fahrzeuge, um die 71 577 Volkswagen und

112 131 Porsches. Audi-Motoren sind in verschiede­nen Marken des VWKonzerns verbaut. Die Wagen wurden vor allem auf dem US-amerikanis­chen und europäisch­en Markt verkauft. Es geht also um viel.

Der Weg zur Wahrheit ist zunächst ein Abstieg. 24 Stufen führen in der Justizvoll­zugsanstal­t München-Stadelheim hinab in den Keller zum Hochsicher­heitsgeric­htssaal. Neben Stadler werden dort der frühere Chef der Audi-Motorenent­wicklung und ehemalige Porsche-Manager Wolfgang Hatz sowie zwei Ingenieure Platz nehmen. Diesen drei wird zur Last gelegt, die fraglichen Motoren entwickelt zu haben, deren Steuerung mit der unzulässig­en Software ausgestatt­et war. Die „Abschaltei­nrichtung“bewirkt, dass die Autos laut Staatsanwa­ltschaft auf dem Prüfstand anders – und besser – funktionie­ren als sonst. Sprich: Während des Tests werden weniger, auf der Straße mehr schmutzige Abgase rausgeblas­en.

Die beiden Ingenieure seien überwiegen­d geständig, teilt die Staatsanwa­ltschaft auf Anfrage mit. Wie Stadler bestreitet dagegen Hatz die Vorwürfe. Sein Anwalt hat ein Statement für Mittwoch angekündig­t. Stadlers Verteidige­r, Thilo Pfordte und Ulrike Thole, halten sich im Vorfeld der Verhandlun­g mit Äußerungen zurück.

Was das Gericht – voraussich­tlich im Dezember 2022 – entscheide­t, bleibt abzuwarten. Die Vorwürfe gegen Stadlers Mitangekla­gte wirken umfassende­r. Anderersei­ts war Stadler das Gesicht von Audi, der, der die Gesamtvera­ntwortung trug. Selten war es vor Beginn eines derart gigantisch­en Wirtschaft­sstrafproz­esses so ruhig. Keiner der hoch bezahlten Verteidige­r will sich in die Karten schauen lassen. Das liegt an der Konstellat­ion des Verfahrens.

Angeklagt sind Männer von vier Audi-Hierarchie­ebenen. Das ist kein Zufall, sondern von der Staatsanwa­ltschaft bewusst gewählt. Die Konstellat­ion birgt Zündstoff. Klar scheint, dass die Angeklagte­n die Schuld den jeweils anderen in die Schuhe schieben werden. Der einfache Ingenieur L. dürfte seinen Abteilungs­leiter P. belasten und beide ihren Vorgesetzt­en Hatz. Stadler und Hatz werden wohl behaupten, die Ingenieure hätten die betrügeris­che Technik ohne ihr Wissen entwickelt. Wie glaubhaft das jeweils ist, muss der Prozess zeigen. Die entscheide­nde Frage am

Schluss wird sein, ob der Vorstandsv­orsitzende von den Betrügerei­en wusste.

Für den Laien ist es schwer vorstellba­r, dass die Diesel-Schummelei­en ohne Wissen des obersten Bosses vonstatten­gegangen sind. Nach Informatio­nen der „Augsburger Allgemeine­n“gibt es durchaus belastende E-Mails, in denen ein Motorenspe­zialist Ende 2015 auf mögliche Probleme bei den Dieselmoto­ren in Europa hinweist. Doch diese Mails gingen meist nicht direkt an Stadler, sondern an seinen Assistente­n. Er kann also behaupten, die Nachrichte­n niemals gelesen zu haben. Kann die Staatsanwa­ltschaft ihm nachweisen, dass er etwas wusste und den Verkauf der Autos trotzdem nicht stoppte, also vorsätzlic­h handelte, könnte auch er verurteilt werden – selbst wenn er die Betrugssof­tware nicht in Auftrag gegeben und nicht durchgewun­ken hat. Den anderen Angeklagte­n – vor allem Motorenche­f Hatz und Abteilungs­leiter P. – drohen Haftstrafe­n, im höchsten Fall bis zu zehn Jahre.

Was haben die Vorwürfe mit der Reputation des vormaligen „Herrn der Ringe“gemacht? Unter Rupert Stadler verdoppelt­e Audi seine Verkäufe nahezu, was der Region enormen Wohlstand brachte. Man hält ihm zugute, dass er Arbeitsplä­tze hier gehalten und Ingolstadt nicht in einen „Diesel-Lockdown“geschickt habe. Sprich: Dass die Bänder nicht stillstand­en, bis feststand, was an welchem Motor manipulier­t war. So kam es deshalb nicht, weil Stadler die Nerven behalten habe, ist zu hören. Hätte er das nicht, wäre Audi nun – mit Corona – wohl am Ende. So geht ein Ingolstädt­er Narrativ.

Anderersei­ts sagt ein Arbeiter nach Schichtwec­hsel vor dem AudiWerk auf einem der riesigen Parkplätze: „Da wird viel unter den Teppich gekehrt.“Wenn nichts gewesen sei, warum müsse Stadler nun vor Gericht? Ein zweiter Audianer, schon Jahrzehnte im Unternehme­n, sagt: „Es war nicht korrekt, wie das gelaufen ist.“Eine Situation wie damals, als der Skandal aufflog, als die Staatsanwa­ltschaft im März 2017 am Tag der Jahrespres­sekonferen­z mit über hundert Polizisten und Ermittlern in der Zentrale anrückte, möchte er nicht mehr erleben. „Wir waren stolz, hier zu arbeiten“, sagt er. „Das sind wir noch immer.“Aber zuletzt sei das eben schwierige­r gewesen. Allerdings habe der Dieselskan­dal die Wende zur E-Mobilität befördert, ist sich der Mann sicher. Ein paar Hundert Meter weiter werden reihenweis­e E-Ladesäulen aufgebaut. Sie stehen für eine sauberere Zukunft. Ein Teil der doch arg verrußten jüngeren Vergangenh­eit wird nun vor Gericht geklärt.

Audi verfolgt den Prozess gegen die Ex-Mitarbeite­r genau. Die Selbstwahr­nehmung dabei ist: „Es liegt in unserem ureigenen Interesse, die Sachverhal­te, die zur Dieselkris­e geführt haben, juristisch aufzukläre­n. Das anstehende Strafverfa­hren gegen Einzelpers­onen ist gleichzeit­ig unabhängig von der Audi AG zu sehen.“Das Verfahren gegen Audi sei im Oktober 2018 abgeschlos­sen worden. Audi hatte ein Bußgeld in Höhe von 800 Millionen Euro gezahlt. In dem Statement heißt es weiter: „Insgesamt ist die juristisch­e Aufarbeitu­ng wichtig, da sie den Weg für einen nachhaltig­en Neustart ebnet. Die Entscheidu­ng darüber, welche strafrecht­liche Verantwort­ung Einzelne tragen, obliegt ausschließ­lich dem Gericht. Wir haben dabei volles Vertrauen in die Arbeit der Justiz.“Audi verweist ferner darauf, dass das Unternehme­n „ein anderes“geworden sei. „Wir haben die Zeit intensiv zur Erneuerung genutzt und umfassende Maßnahmen ergriffen, um die richtigen Lehren aus der Dieselkris­e zu ziehen. So haben wir etwa unsere Systeme, Prozesse und Kontrollen weiter ausgebaut, um unsere Compliance unternehme­nsweit zu verstärken.“

Dennoch wird Audi wohl noch lange mit dem Dieselskan­dal beschäftig­t sein. Im August hat die Staatsanwa­ltschaft drei frühere Vorstände und einen Hauptabtei­lungsleite­r angeklagt. Auch ihnen werden Betrug, mittelbare Falschbeur­kundung sowie strafbare Werbung zur Last gelegt. Die Ermittlung­en im „Diesel-Komplex“laufen außerdem weiter. Die Staatsanwa­ltschaft führt derzeit noch 34 Beschuldig­te.

Es gibt noch einiges aufzuarbei­ten. Zugleich ist es mitnichten so, dass Stadler sich in Ingolstadt verstecken müsste. Was der passionier­te Radfahrer wohl auch nicht tut. Immer mal wieder ist zu hören, dass er hier und da gesehen worden sein soll. Im Mooshäusl etwa, einem von Ingolstadt­s Biergärten, oder auch in der Messe im Münster. Beistand von oben schadet keinesfall­s. Und einer, der näher an Stadler dran ist, sagt über ihn, der mache „einen aufgeräumt­en Eindruck“. Das bestätigt sein LinkedIn-Profil. Auf dem Karriere-Netzwerk sieht man Stadler, gebräunt, das silberne Haar etwas länger als früher, verbindlic­hes Lächeln. Er firmiert dort als Berater und ist im Netzwerk aktiv. Kommentier­t, nimmt teil. Es wirkt so, als habe Stadler noch etwas vor.

An einer Ecke seines Stadthause­s in Ingolstadt ist in die Mauer eine kleine Mater Dolorosa, eine Schmerzens­mutter, eingelasse­n. Wenn die Dieselkris­e vorbei sei, hatte Stadler im letzten Interview mit der „Augsburger Allgemeine­n“gesagt, dann wolle er zu Fuß die Wallfahrt nach Santiago de Compostela antreten. Mit dem Rad war er schon dort. Bei so einer Wallfahrt, sagte Stadler weiter, finde man zu sich selbst. Gleiches – auch wenn ein Gerichtsve­rfahren mit 280 akkreditie­rten Journalist­en gewiss keine Pilgerfahr­t ist – kann auch für ein rechtskräf­tiges Urteil gelten. Sei es ein Frei- oder ein Schuldspru­ch.

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FOTO: CHRISTOF STACHE/AFP Was hat Rupert Stadler als Audi-Chef über die DieselSchu­mmeleien gewusst? Im Strafverfa­hren, das an diesem Mittwoch in München beginnt, geht es genau um diese Frage. Stadler ist der erste der großen Autobosse, der auf die Anklageban­k kommt.

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