Eiskalt erwischt
Seit Beginn der Pandemie hat sich der Absatz haltbarer Lebensmittel gesteigert – Teilweise profitiert auch Tiefgekühltes, selbst wenn Produktentwickler merkwürdige Ideen haben wie zum Beispiel eine Weißwurstpizza
Paradoxerweise ist ausgerechnet ein Bayer an dem ganzen Weißwurstpizza-Trubel schuld. Genauer gesagt Carl von Linde. Denn der hat 1876 ein Verfahren entwickelt, das noch heute die technische Grundlage unserer Kühl- und Gefrierschränke ist. Ohne diesen Erfinder wäre das Produkt des Lebensmittel-Discounters Lidl, das jüngst durch die Schlagzeilen geisterte, gar nicht möglich gewesen: eine Tiefkühlpizza mit Weißwurstscheiben belegt. Für manchen nach der coronabedingten Absage des Oktoberfestes 2020 ein weiterer herber Tiefschlag für das bajuwarische Selbstwertgefühl. Die bayerische Seele schäumte förmlich über und ergoss sich in teils lustigen, teils empfindlich verletzten Kommentaren im Internet.
Kostproben? Bitteschön: „Der Pappkarton außen herum schmeckt vermutlich besser“, schreibt ein erboster Nutzer auf der Kommentarseite des „Münchner Merkur“. Und ein Leidensgenosse auf der gleichen Seite: „Ja pfui Deifi, wie kann man so was überhaupt in ein Regal beziehungsweise eine Kühltruhe stecken! Mir dreht sich der Magen um. Gezeichnet: ein original Münchner.“
Nichtsdestotrotz scheint die Nachfrage enorm zu sein – es braucht jedenfalls ein paar Anläufe in verschiedenen Märkten, bis es dann doch noch klappt mit dem Einkauf der merkwürdigen Pizza. Kostenpunkt: 1,29 Euro. Ob das billig – oder immer noch zu teuer ist, wird die Verkostung zeigen. Aber dazu später.
Das Deutsche Tiefkühlinstitut in Berlin ist der Branchenverband eiskalter Lebensmittel. Eine Sprecherin teilt auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“mit: „Die Nachfrage nach Tiefkühlkost im Lebensmittelhandel und den Tiefkühl-Heimdiensten hat Anfang März stark angezogen, teilweise auch im zweistelligen Bereich, je nach Warengruppe. Viele Kunden wollten Vorsorge treffen und haben Vorräte aufgestockt.“Doch der Corona-Effekt hat für die Branche auch eine Schattenseite. Denn laut Tiefkühlinstitut macht der Absatz solcher Produkte auf dem sogenannten Außer-HausMarkt mehr als 50 Prozent aus. Mehr als die Hälfte aller Tiefkühlprodukte werden also nicht zu Hause gegessen, sondern zum Beispiel in Kantinen und Restaurants – und gerade in der Gastronomie sieht und sah es wegen der pandemischen Lage nicht gut aus. „Die Auswirkungen des Nachfrageeinbruchs
sind noch nicht abzuschätzen. Im Moment ist eher von einem spürbaren Rückgang des TK-Absatzes 2020 im AußerHaus-Markt auszugehen“, heißt es im Tiefkühlinstitut. Weitere Prognosen seien schwierig, weil das Infektionsgeschehen die Lage wieder unübersichtlicher mache.
Tiefkühlkost ist ein gewichtiger Faktor in der Welt der Lebensmittel. Das zeigen die Zahlen aus dem Jahr 2019, die gegenüber 2018 kräftig gewachsen sind. Fast 15 Milliarden Euro setzt die Branche mit frostiger Ware um – das entspricht fast vier Millionen Tonnen.
„Der durchschnittliche ProKopf-Verbrauch stieg 2019 im Vergleich zum Vorjahr um 600 Gramm je Bundesbürger auf 46,9 Kilogramm. Der Verbrauch tiefgekühlter Lebensmittel pro Haushalt nahm im Vergleich zum Vorjahr um 800 Gramm zu auf durchschnittlich 94,2 Kilogramm (93,4 kg in 2018). Was beweist: Die Deutschen sind echte Tiefkühlfans“, sagt das Tiefkühlinstitut.
Aus dem Datenmaterial des Verbands lässt sich außerdem entnehmen: Pro Jahr konsumiert jeder Deutsche im Durchschnitt 13 Pizzen aus der Gefriertruhe. Besagtes
Weißwurst-Modell von Lidl ist auf Stein vorgebacken und braucht im heimischen Ofen bei 225 Grad Ober- und Unterhitze ziemlich genau zwölf Minuten Backzeit. Bereits beim Auspacken aus der Plastikfolie zeigt sich das Teigstück von seiner weißwurstigen Seite. Viele weiße Rädchen sind über die Fläche verteilt, gemäß Zutatenliste machen sie 11,5 Prozent der ganzen Pizza aus. Es finden sich aber auch Gurkenstücke zwischen Edamer und Mozzarella. Auffällig: bräunliche Inseln, die wohl süßen Senf darstellen sollen. Erwartungsvolle
Gesichter am Abendbrottisch, schnuppernde Nasen, neugierige Augen.
Einer der Branchenriesen in Sachen Tiefkühlpizza, das Unternehmen Wagner, das Teil des Nestlé-Konzerns ist, glaubt, dass Kunden zwar Innovationen wünschen, „doch eher nach herzhaften Produkten in der Kategorie Pizza/Snacks suchen“, teilt Wagner auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“mit. Also eher klassische Zubereitungen. Diese Erkenntnis zieht das Unternehmen eigenen Angaben zufolge aus den Erfahrungen von 2013, als die WagnerProduktentwickler süße „Piccolinis“in die Gefriertruhen brachten. Also Minipizzen der Sorten SchokoNuss, ApfelVanille und Erdbeer-Mandel. „Leider wurden die süßen Piccolinis von den Konsumenten nicht wie erwartet angenommen“, teilt das Unternehmen mit. Weshalb der Fokus bei Wagner auf herzhaften teigbasierten Produkten liege. Nach Auskunft der Firma sorgt aktuell das Segment großformatiger Pizzen für Wachstum im deutschen Pizzamarkt. Die beliebteste Sorte gehört zwar auch im weiteren Sinne zur Wurst – es handelt sich allerdings um Salami.
Wie der Spagat zwischen herzhafter und süßer Welt schmeckt indes die Weißwustpizza. Und zwar immer in jenen Sektoren, wo zu den geschmacklich eher unauffälligen Wursträdle der Senf dazukommt. Der Boden der Pizza ist knusprig, der Belag so weit saftig – doch das aromatische Gesamtbild wirkt, freundlich gesagt, uneinheitlich. Saure Gurken und Röstzwiebeln tragen im Zusammenspiel mit dem süßen Senf zur kulinarischen Ratlosigkeit bei. Die Pizza schmeckt ein bisschen so, als sei ein Kuchenexperiment zum Kindergeburtstag schiefgegangen. Die versammelte Abendbrottischgesellschaft jedenfalls wendet sich mehrheitlich ab.
Weißwurst auf Pizza – ist das ernst gemeint? Wie viele Menschen
haben sich für das sehr spezielle Pizzamodell begeistern lassen? Welche Exoten hält das Sortiment noch vor? Lidl teilt mit, dass man sich bei der Gestaltung des Sortiments an den Kundenwünschen orientiere und dieses stetig weiterentwickle. „Seit vielen Jahren wird unser Festsortiment im Rahmen der wechselnden LänderAktionswochen durch landestypische Spezialitäten ergänzt. Für die vergangene bayerische Woche hatten wir die für Bayern typische Weißwurst mit einer Steinofenpizza kombiniert.“Sie sei vom Kunden „gut angenommen“worden. Weitergehende Angaben zur Absatzentwicklung einzelner Produktkategorien mache Lidl aber grundsätzlich nicht.
Zurück zum Tiefkühlverband: „Wir beobachten die Entwicklung der Trends im Tiefkühlsortiment genau und befragen unsere Mitgliedsunternehmen dazu. Die wichtigsten Trends sind aktuell – durch die Corona-Pandemie geprägt – die Haltbarkeit und der Vorratskauf. Hinzu kommt der Wunsch der Verbraucher nach Arbeits- und Zeitersparnis beim Einkauf und beim Kochen. Gerade Menschen, die derzeit im Homeoffice arbeiten und sich sowie weitere Haushaltsmitglieder nebenher noch versorgen müssen, benötigen schnelle, leckere und einfache Lösungen für ihre tägliche Ernährung“, teilt das Tiefkühlinstitut mit. Die Branche erwartet, dass vegetarische und vegane Produkte künftig weiter an Bedeutung gewinnen.
Was Carl von Linde, der Geburtshelfer moderner Kühlschränke, noch für einen Bezug zur Weißwurst hat, also der echten, fernab irgendwelcher Pizza-Experimente? Lange Zeit galt die Regel, eine Weißwurst dürfe auf keinen Fall das Zwölfeläuten hören, also den Glockenschlag zur Mittagszeit. Das hatte einen einfachen Grund, nämlich weil das empfindliche Brät ohne Kühlung sehr schnell verdirbt. Dank Carl von Linde spielt das heute keine Rolle mehr, somit ist Weißwurstessen auch an keine Uhrzeit mehr gebunden. Und auch an sonst keine kulinarischen Regeln – was die Lidl’sche Pizzakreation beweist.
Ja pfui Deifi, wie kann man so was überhaupt in eine Kühltruhe stecken!
Ein original Münchner