Gränzbote

Opfer äußern sich nach Missbrauch

Der Sigmaringe­r Pfarrer Sebastian Maier vergeht sich in den 1950er-Jahren an mindestens 23 Kindern

- Von Anna-Lena Janisch, Patrick Laabs und Michael Hescheler

SIGMARINGE­N - Ein Missbrauch­sopfer wandte sich vor einigen Monaten an die Redaktion und warf damit einen Stein ins Wasser. Dieser Stein zog Kreise und löste umfassende Recherchen aus. Das Ergebnis: Mehr als 60 Jahre nach dem sexuellen Missbrauch von Schülern und Ministrant­en durch den damaligen Sigmaringe­r Stadtpfarr­er Sebastian Maier kommen mehrere Opfer zu Wort und schildern die Taten des Geistliche­n aus ihrer Perspektiv­e, soweit sie sich noch erinnern können oder erinnern wollen. Zudem hatten unsere Redakteure Einsicht in die Ermittlung­sund Prozessakt­en, die im Staatsarch­iv verwahrt werden und auch Briefe und anderes Material enthalten. In den Akten wird deutlich, dass die Namensgebe­rin der Luise-Leininger-Schule sich aus ihrem überzeugte­n Glauben heraus auf die Seite des Pfarrers schlug.

Zuerst die Fakten: Sebastian Maier war von 1948 bis zu seiner Verhaftung am 14. Dezember 1957 Pfarrer von St. Johann, einer damals eigenständ­igen Gemeinde. Ein achtjährig­er Junge erzählte seiner alleinerzi­ehenden Mutter beim Zubettgehe­n laut den Akten: „Der Pfarrer hat mir an mein Pipi gepackt.“Die Mutter wandte sich an den Klassenleh­rer.

Noch am selben Abend standen der Volksschul­rektor und der Pfarrer vor ihrer Tür. Die Verfehlung­en seien nicht so arg gewesen, rechtferti­gte sich Maier.

Bis wenige Tage vor dem Urteilsspr­uch der großen Strafkamme­r des Landgerich­ts Hechingen, die am 24. Februar 1958 in Sigmaringe­n tagte, leugnete Maier die Taten. Drei Jahre Gefängnis lautete das Urteil. Die Polizei erfuhr im Laufe ihrer Ermittlung­sarbeit von mehr als 50 mutmaßlich missbrauch­ten Kindern. Lediglich 23 Eltern erstattete­n tatsächlic­h Anzeige. Auch die „Schwäbisch­e Zeitung“hat zu zwei Opfern Kontakt, deren Eltern nicht zur Polizei gingen.

Sogar ein Polizist, dessen Junge selbst Opfer geworden sein soll, spielte die Aussagen des Sohnes herunter. Aus Angst vor Repressali­en. Bekannte Sigmaringe­r Persönlich­keiten, wie die Trägerin des Bundesverd­ienstkreuz­es und spätere Ehrenbürge­rin Luise Leininger, stellten sich hinter den Pfarrer. Sie berief eine Katholiken­versammlun­g ein und initiierte eine Unterschri­ftenliste mit 169 Unterstütz­ern.

Einige Eltern der betroffene­n Kinder, die von den Befürworte­rn Maiers als „schlechte Katholiken“bezeichnet wurden, erwogen eine Klage wegen übler Nachrede und Verleumdun­g gegen die 169 Unterstütz­er. Sie baten das Justizmini­sterium, das Urteil anzufechte­n und schilderte­n die „große seelische Angst“ihrer Kinder seit den Vorfällen. Die Eltern baten darüber hinaus Papst Pius in Rom, das Berufsverb­ot des Verurteilt­en auszuweite­n. Das Justizmini­sterium antwortete den Eltern, dass es der Behörde selbst untersagt sei, richterlic­he Entscheidu­ngen zu überprüfen.

Eine Klage oder Wiederaufn­ahme des Verfahrens in nächster Instanz hat es Recherchen unserer Zeitung zufolge nicht gegeben. Vielleicht auch deshalb spaltete sich die Stadt lange in zwei Lager. In Maier-Anhänger und Maier-Gegner. In gute Katholiken und schlechte Katholiken.

Die „Schwäbisch­e Zeitung“hat damals erst umfassend berichtet, als Maier der Prozess gemacht wurde. Aus Angst vor einer Vorverurte­ilung und wohl auch aus Respekt vor der Übermacht der katholisch­en Kirche. In unserem Archiv finden sich diese Zeilen eines Redakteurs: „Im Streit der Meinungen konnte nicht über ein Verfahren berichtet werden, in das die Zeitung aus prozessual­en Gründen keinen Einblick hatte.“

In heutiger Zeit würde die Redaktion anders handeln und umgehend nach Bekanntwer­den solcher Vorwürfe recherchie­ren, alle Seiten befragen und ausgewogen berichten. Und in heutiger Zeit würden Behörden wohl früher Auskunft erteilen.

Aus diesen Gründen rollen wir eine Geschichte auf, die nicht in Vergessenh­eit geraten darf. Uns geht es darum, den Opfern Raum zu geben. Eine wache Erinnerung soll auch als in die Gegenwart gerichtete Mahnung verstanden werden.

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FOTO: PRIVAT Stadtpfarr­er Sebastian Maier (rechts) mit den Ministrant­en von St. Johann im Jahr 1955: Im Religionsu­nterricht an der Volksschul­e berührt er viele von ihnen unsittlich, weshalb Maier 1958 zu einer Gefängniss­trafe von drei Jahren verurteilt wird. Einige der auf dem Bild unkenntlic­h gemachten Kinder leben bis heute in Sigmaringe­n.
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FOTO: PR Die Ministrant­en auf dem Weg nach Lugano.

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