Opfer äußern sich nach Missbrauch
Der Sigmaringer Pfarrer Sebastian Maier vergeht sich in den 1950er-Jahren an mindestens 23 Kindern
SIGMARINGEN - Ein Missbrauchsopfer wandte sich vor einigen Monaten an die Redaktion und warf damit einen Stein ins Wasser. Dieser Stein zog Kreise und löste umfassende Recherchen aus. Das Ergebnis: Mehr als 60 Jahre nach dem sexuellen Missbrauch von Schülern und Ministranten durch den damaligen Sigmaringer Stadtpfarrer Sebastian Maier kommen mehrere Opfer zu Wort und schildern die Taten des Geistlichen aus ihrer Perspektive, soweit sie sich noch erinnern können oder erinnern wollen. Zudem hatten unsere Redakteure Einsicht in die Ermittlungsund Prozessakten, die im Staatsarchiv verwahrt werden und auch Briefe und anderes Material enthalten. In den Akten wird deutlich, dass die Namensgeberin der Luise-Leininger-Schule sich aus ihrem überzeugten Glauben heraus auf die Seite des Pfarrers schlug.
Zuerst die Fakten: Sebastian Maier war von 1948 bis zu seiner Verhaftung am 14. Dezember 1957 Pfarrer von St. Johann, einer damals eigenständigen Gemeinde. Ein achtjähriger Junge erzählte seiner alleinerziehenden Mutter beim Zubettgehen laut den Akten: „Der Pfarrer hat mir an mein Pipi gepackt.“Die Mutter wandte sich an den Klassenlehrer.
Noch am selben Abend standen der Volksschulrektor und der Pfarrer vor ihrer Tür. Die Verfehlungen seien nicht so arg gewesen, rechtfertigte sich Maier.
Bis wenige Tage vor dem Urteilsspruch der großen Strafkammer des Landgerichts Hechingen, die am 24. Februar 1958 in Sigmaringen tagte, leugnete Maier die Taten. Drei Jahre Gefängnis lautete das Urteil. Die Polizei erfuhr im Laufe ihrer Ermittlungsarbeit von mehr als 50 mutmaßlich missbrauchten Kindern. Lediglich 23 Eltern erstatteten tatsächlich Anzeige. Auch die „Schwäbische Zeitung“hat zu zwei Opfern Kontakt, deren Eltern nicht zur Polizei gingen.
Sogar ein Polizist, dessen Junge selbst Opfer geworden sein soll, spielte die Aussagen des Sohnes herunter. Aus Angst vor Repressalien. Bekannte Sigmaringer Persönlichkeiten, wie die Trägerin des Bundesverdienstkreuzes und spätere Ehrenbürgerin Luise Leininger, stellten sich hinter den Pfarrer. Sie berief eine Katholikenversammlung ein und initiierte eine Unterschriftenliste mit 169 Unterstützern.
Einige Eltern der betroffenen Kinder, die von den Befürwortern Maiers als „schlechte Katholiken“bezeichnet wurden, erwogen eine Klage wegen übler Nachrede und Verleumdung gegen die 169 Unterstützer. Sie baten das Justizministerium, das Urteil anzufechten und schilderten die „große seelische Angst“ihrer Kinder seit den Vorfällen. Die Eltern baten darüber hinaus Papst Pius in Rom, das Berufsverbot des Verurteilten auszuweiten. Das Justizministerium antwortete den Eltern, dass es der Behörde selbst untersagt sei, richterliche Entscheidungen zu überprüfen.
Eine Klage oder Wiederaufnahme des Verfahrens in nächster Instanz hat es Recherchen unserer Zeitung zufolge nicht gegeben. Vielleicht auch deshalb spaltete sich die Stadt lange in zwei Lager. In Maier-Anhänger und Maier-Gegner. In gute Katholiken und schlechte Katholiken.
Die „Schwäbische Zeitung“hat damals erst umfassend berichtet, als Maier der Prozess gemacht wurde. Aus Angst vor einer Vorverurteilung und wohl auch aus Respekt vor der Übermacht der katholischen Kirche. In unserem Archiv finden sich diese Zeilen eines Redakteurs: „Im Streit der Meinungen konnte nicht über ein Verfahren berichtet werden, in das die Zeitung aus prozessualen Gründen keinen Einblick hatte.“
In heutiger Zeit würde die Redaktion anders handeln und umgehend nach Bekanntwerden solcher Vorwürfe recherchieren, alle Seiten befragen und ausgewogen berichten. Und in heutiger Zeit würden Behörden wohl früher Auskunft erteilen.
Aus diesen Gründen rollen wir eine Geschichte auf, die nicht in Vergessenheit geraten darf. Uns geht es darum, den Opfern Raum zu geben. Eine wache Erinnerung soll auch als in die Gegenwart gerichtete Mahnung verstanden werden.