Raumfahrtbranche im Südwesten hofft auf Hilfe der Politik
Deutschlandweit führend, international gefragt – und unterschätzt: die Raumfahrtindustrie im Südwesten
STUTTGART (lsw) - Während Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) immer wieder die Bedeutung der Raumfahrtindustrie für den Freistaat hervorhebt, wünscht sich die Branche in Baden-Württemberg mehr Unterstützung von der Politik für den Standort. Zu oft werde bei dem Thema nur an Bremen und Bayern gedacht, sagte Rolf-Jürgen Ahlers, der Vorstandsvorsitzende des Forums Luft- und Raumfahrt BadenWürttemberg am Donnerstag. Dabei arbeiteten 40 Prozent der Beschäftigten in der deutschen Raumfahrt im Südwesten. Bis zu 60 Prozent der in Deutschland ausgebildeten Raumfahrtingenieure kämen von einer Südwest-Hochschule.
PFORZHEIM/IMMENSTAAD - Ein wenig Baden-Württemberg schwebt mehr als 500 Kilometer über der Erde: Membranbälge der Firma Witzenmann aus Pforzheim sind im Weltraumteleskop Hubble eingebaut und dienen dort als flexible Dichtungselemente. Das Unternehmen, das unter anderem Schläuche, Kompensatoren und Fahrzeugteile insbesondere für die Autoindustrie herstellt, will strategisch im Bereich Aerospace investieren. „Gerade Raumfahrt ist ein langfristiges Geschäft“, sagt Michael Weber, Vice President Aerospace. „Wenn es einmal losgeht, haben Sie sehr konkrete Prognosen für fünf bis zehn Jahre.“
Die Branche – sie ist eher eine unbekannte, bisweilen unterschätzte. Dabei hat quasi jeder durch Navigation, Telekommunikation oder Wettervorhersagen im Grunde täglich mit Errungenschaften aus der Raumfahrt zu tun. Der Südwesten spielt dabei eine wichtige Rolle.
Gut 40 Prozent aller Beschäftigten der deutschen Raumfahrtindustrie arbeiten hier. Bis zu 60 Prozent der in Deutschland ausgebildeten Raumfahrtingenieure kommen von einer Südwest-Hochschule, sagt Rolf-Jürgen Ahlers, Vorstandschef des Forums Luft- und Raumfahrt Baden-Württemberg. Rund 10 000 Mitarbeitern in der Raumfahrt stünden 6500 bis 7000 in der Luftfahrt gegenüber. Das Wirtschaftsministerium geht von etwas niedrigeren Zahlen aus und beziffert den Umsatz der gesamten Luft- und Raumfahrtbranche auf mehr als 4,8 Milliarden Euro.
„Die Luft- und Raumfahrtindustrie ist aufgrund ihrer Ausstrahlung auf andere Wirtschaftszweige ein wichtiger Technologieschrittmacher für Baden-Württemberg“, sagt Ministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU). Neben der Forschungsinfrastruktur zeichne sich die Branche vor allem durch eine hoch spezialisierte Ausrüsterindustrie und ein enges Netzwerk leistungsfähiger Hersteller und Zulieferer aus.
Wie vielfältig der Südwesten aufgestellt ist, zeigt ein Blick in die Details: Die Fakultät für Luft- und Raumfahrttechnik und Geodäsie der Universität Stuttgart gilt als größte Luft- und Raumfahrtfakultät in Europa und feierte 2010 das 100-jährige Bestehen. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt hat hier Institute, ebenso die Fraunhofer-Gesellschaft. An deren Institut für Chemische Technologie in Pfinztal (Kreis Karlsruhe) forscht etwa Stefan Sims auf dem Gebiet der Festtreibstoffe für die Raumfahrt. Dabei gehe es um neue Zusammensetzungen, die eine höhere Leistung, Steuerbarkeit sowie Umweltverträglichkeit versprechen, erklärt Sims.
Auf industrieller Seite sind Unternehmen aus Baden-Württemberg vor allem für den Bau von Satelliten, ihren Triebwerken, Fernerkundungsund lebenserhaltenden Systemen
sowie bei der Satellitenkommunikation international bekannt. Dazu gehört vor allem das Cluster am Bodensee mit Airbus Defence & Space in Immenstaad.
Der Luftfahrtkonzern gehört zu den weltweit führenden Spezialisten für Satellitentechnik. In der Produktion direkt am Ufer des Bodensees entstehen vor allem Satelliten und Instrumente für die Erdbeobachtung. Erst im November erhielt Airbus Defence & Space den Zuschlag für die Lieferung von Komponenten für eine neue Mission der Europäischen Weltraumorganisation (ESA). Sie trägt den Namen „Land Surface Temperature Monitoring“und ist Teil von Copernicus, dem Erdbeobachtungsprogramm der EU.
Am Donnerstag stellte Airbus einen fünf Meter großen Antennenreflektor vor. Das 70 Kilogramm schwere entfaltbare Gerät wird dazu beitragen, eine höhere Auflösung eines Radarinstruments für die Erdbeobachtung zu ermöglichen. Mit seinem großen Durchmesser würde der Reflektor unter keine Raketenverkleidung passen, sodass er kompakt verstaut werden muss. Nach dem Lösen der Verkleidung entfaltet sich der Reflektor wie eine Blume – von 1,6 auf fünf Meter, wie es bei dem Unternehmen heißt. Vor rund einem Jahr brachte der unbemannte Raumfrachter Dragon des privaten Raumfahrtunternehmens Space X ein Instrument zur Internationalen Raumstation ISS, das maßgeblich in den
Laboratorien von Airbus Defence & Space in Immenstaad entstanden ist: die zweite Version des knuffigen KIRoboters Cimon, dessen erste Version bereits den deutschen ISS-Kommandaten Alexander Gerst bei seinen Forschungen unterstützte. „Ja, unser Cimon ist unterwegs“, sagte der Immenstaader Standortchef Dietmar Pilz damals stolz.
Große Hoffnungen setzt Pilz auf die Athena-Ausschreibung. Wird diese Mission realisiert, will die europäische Weltraumagentur ein fast 14 Meter hohes Röntgenteleskop bauen, das noch nie erforschte Tiefen des Weltalls durchleuchten soll. Bislang gibt es in ganz Europa nur einen Reinraum, in dem solch ein großes Instrument entstehen könnte: im sogenannten 45 Millionen Euro teuren Integrated Technology Centre (ITC), das Airbus im Februar 2019 in Immenstaad eröffnet hat.
Airbus Defence & Space setzt in Immenstaad in den Sparten Raumfahrt und Verteidigung nach Branchenschätzungen mehr als 800 Millionen Euro im Jahr um und arbeitete zumindest im Jahr 2019 nach Angaben von Standortchef Pilz profitabel. Aufgrund der Corona-Pandemie und ausbleibender neuer Aufräge im Raumfahrtbereich kündigte die Weltraum- und Verteidigungssparte Anfang des Jahres allerdings ein Sparprogramm an: Europaweit will der Konzern rund 3000 Stellen, davon 900 in Deutschland und 197 am Bodensee abbauen.
Ein anderes Beispiel für Weltraumtechnik aus Baden-Württemberg ist das Unternehmen Faulhaber mit Sitz in Schönaich (Kreis Böblingen), das Mini- und Mikroantriebe herstellt. Sie seien robust und hielten dem Druck beim Start einer Rakete stand, erklärt eine Sprecherin. Die Firma arbeitet unter anderem mit dem US-Hersteller SpaceX zusammen, ihre Technik steckt in Raumfahrzeugen für Mond, Mars und Kometen sowie in einem Seismometer, das für die Nasa Beben auf dem Roten Planeten erfassen soll. Da die Unternehmen sehr spezielle Produkte entwickeln, gibt es viele Anbieter hierzulande nur ein- oder zweimal – sicheres Terrain.
Doch gerade mit Blick auf die weltweite Branche droht Konkurrenz. „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht gegen die USA ins Hintertreffen geraten“, sagt WitzenmannExperte Weber. SpaceX etwa biete kostengünstige Produktions- und Entwicklungsmethoden, während die Europäische Weltraumorganisation Esa teils an 30 Jahre alten Vorgaben beispielsweise beim Design festhalte, das inzwischen günstiger herzustellen wäre – bei gleicher Sicherheit. „Wir müssen in der Industrie effektiver werden“, fordert Weber. Dabei spiele der Lohn in Deutschland oder Osteuropa keine entscheidende Rolle. „Es geht darum, ob Teile dreimal geröntgt werden müssen, wenn zweimal auch reicht.“
Dass der Standort Deutschland in Gefahr geraten könnte, glaubt Weber nicht. „Raumfahrt ist deutlich stärker politisch motiviert als die Luftfahrt.“So brauche Europa eigene Trägerraketen, um Satelliten ins All schicken zu können, ohne auf China, Russland oder die USA angewiesen zu sein. „Raumfahrt hat nicht nur kommerzielle Aspekte, sondern immer auch eine strategische Komponente.“
Daher will Witzenmann den Bereich Aerospace weiter ausbauen und das in der Firma vorhandene Wissen über Rohrleitungssysteme verstärkt auf Luftfahrtanwendungen übertragen. „Das wird in der Luftund Raumfahrt deutlich länger nachgefragt werden als im AutomotiveBereich“, gibt sich Weber überzeugt.
Doch auch wenn es der Branche also ziemlich gut geht, appelliert Ahlers vom Forum Luft- und Raumfahrt an die Politik: Die Bedeutung des Standorts Baden-Württemberg müsse auch öffentlich sichtbarer werden. Damit ziehe man andere Leistungsbringer an. „Jeder Antrieb, der in Europa an den Start geht, wird in Lampoldshausen getestet“, macht er deutlich. „Das ist ein Pfund, mit dem wir wuchern können.“Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt betriebt in dem kleinen Örtchen bei Heilbronn ein Forschungszentrum für Raketenantriebe, ohne die Prüfstände im Lampoldshausen wären die europäischen Ariane-Missionen nicht möglich gewesen.