Geduld ist gefragt
Monatelang stützte die Aussicht auf einen Impfstoff die Hoffnung auf Normalität. Jetzt kommt auch in Europa die Zulassung für das Biontech-Produkt und mit ihr die Kernbotschaft: Der kleine Pieks für den Einzelnen bringt einen großen Effekt für die Gemeinschaft. Der Impfstoff schützt auf jeden Fall die allermeisten Geimpften vor Krankheit und Tod durch Covid-19. Das ist sein Zweck. Dennoch werden die Impfungen vermutlich erst im Laufe eines Jahres ihre Wirkung entfalten. Der Effekt des Wirkstoffs auf die Pandemie ist zudem mit einer Unsicherheit belastet: Verhindert er nur den Ausbruch der Krankheit oder unterbindet er bereits die Infektion? Wenn auch Geimpfte das Virus weitergeben können, wird es schwerer, den Erreger auszurotten. Dann sind nur diejenigen geschützt, die die Spritzen erhalten haben.
Im Frühjahr und Sommer wird der Impfstoff zudem eine neue, beunruhigende Situation bringen. Wenn die Alten und Anfälligen geschützt sind und das große Sterben aufhört, wird der wirtschaftlich-gesellschaftliche Druck übermächtig werden, den Seuchenschutz zurückzufahren. Wenn sich das Virus unter den Ungeimpften dann quasi ungehemmt verbreiten kann, werden bei ihnen mehr schwere Verläufe sichtbar werden. Die Infektionssterblichkeit liegt bei den Mittfünfzigern bei knapp einem halben Prozent. Damit ist Covid-19 immer noch deutlich tödlicher als die Grippe. Auch unter den 10- bis 39-Jährigen treten immerhin rund drei Prozent schwere Verläufe auf. Wenn die Senioren geimpft sind und die Corona-Regeln zurückgefahren werden, werden wir wohl mehr schwere Erkrankungen von Jüngeren wahrnehmen als vorher.
Der Impfstoff wird also keine Wunder bewirken. Am meisten haben die Impfwilligen davon, doch auch die Verweigerer profitieren von seinem Einsatz: Mit etwas Glück sinkt die Vermehrungszahl R unter 1. Dazu müssen sich allerdings möglichst viele Bürger impfen lassen. Es wird aber nicht schon kurz nach Weihnachten so weit sein. Auch viele über 80-Jährige werden das Mittel erst im Januar oder Februar erhalten.