OECD-Bildungschef kritisiert Schulwahl nach Klasse vier
Kurz vor der Landtagswahl ist der Streit um die Grundschulempfehlung neu entflammt
STUTTGART (kab) - Andreas Schleicher, Bildungsdirektor der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), beklagt die Trennung der Schüler in Deutschland nach der vierten Klasse. „Im Alter von zehn, elf Jahren kann man nicht verlässlich sagen, was ein Kind erreichen kann“, sagte er der „Schwäbischen Zeitung“. Außer Österreich selektiere kein anderes Land so früh. Die Lehrer könnten zu dem Zeitpunkt nicht prognostizieren, wie sich ein Kind entwickeln werde. Die verbindliche Grundschulempfehlung, wie es sie in Bayern gibt, bezeichnete er als schwierig. Die Eltern entscheiden zu lassen, wie im Südwesten, helfe auch nicht. „Da schlägt die Sozialisation der Familie noch mehr durch. Das sind Entscheidungen, die schwer zu korrigieren sind.“Deshalb sollten diese später getroffen werden. Im Südwesten ist derweil ein Streit um die Grundschulempfehlung neu entflammt.
STUTTGART - Auf welche Schule soll mein Kind nach der Grundschule wechseln? Diese Entscheidung treffen seit einem knappen Jahrzehnt nicht mehr die Lehrer, sondern die Eltern. Das hatte böse Folgen für die Schulen, urteilen der Realschullehrerverband (RLV) und der Philologenverband (PhV), der für die Gymnasiallehrer spricht, in einem gemeinsamen Papier. Zwei Monate vor der Landtagswahl pochen die Verbände auf eine Rückkehr zur verbindlichen Grundschulempfehlung.
Bald gibt es Halbjahreszeugnisse. Die Viertklässler bekommen dann auch ihre Grundschulempfehlung – also das Papier, auf dem ihre Lehrer festhalten, welche Schulart sie für geeignet halten. Bis 2011 entschied das Schriftstück über den Bildungsweg. Die damals grün-rote Landesregierung legte diese Verantwortung zum Schuljahr 2012/2013 in die Hände der Eltern. Die aufnehmenden Schulen durften nicht einmal wissen, was empfohlen war.
Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) bezeichnete diese Änderung als Fehler. Ein Zurück wäre mit dem grünen Koalitionspartner aber nicht machbar gewesen. Eisenmann hat indes nachjustiert. Die weiterführenden Schulen dürfen die Empfehlung einsehen. Weicht sie von der eigenen Schulart ab, dürfen die Schulleiter die Eltern zum Gespräch einladen. Die müssen das Angebot aber nicht annehmen – und können ihr Kind trotzdem anmelden.
„Aus Verbindlichkeit ist Beliebigkeit geworden“, beklagen RLV und PhV in ihrem Papier. Diese habe allen Schularten geschadet. Sie fordern, zur verbindlichen Empfehlung zurückzukehren. Bestehen die Eltern auf eine andere Schulart, soll das Kind eine Aufnahmeprüfung an der weiterführenden Schule bestehen. Nur so könne der Südwesten wieder bei Bildungsstudien auf die vorderen Plätze gelangen, erklärt die RLV-Vorsitzende Karin Broszat. Das diene auch dem Kindeswohl. „Unterschiedliche Kinder brauchen unterschiedliche Schularten in einem differenzierten, leistungsstarken und stets durchlässigen Schulsystem“, so Broszat. PhV-Landeschef Ralf Scholl argumentiert zudem mit der Bildungsgerechtigkeit – das belegten auch wissenschaftliche Forschungen.
Rückendeckung erhalten die beiden Verbände von der FDP im Landtag. Deren Bildungsexperte Timm Kern verweist auf Bayern, Sachsen und Thüringen. Die Länder schneiden in der Regel bei Leistungsvergleichen ihrer Schüler gut ab. Das führt er auf die dort geltende verbindliche Grundschulempfehlung zurück.
Die meisten Bildungswissenschaftler sprechen sich indes gegen eine vor allem so frühe Selektion der Kinder aus. Auch Edgar Bohn, Landesvorsitzender des Grundschulverbands, sagt: „Um die schädlichen Wirkungen der frühen Auslese wissen alle Bildungsverantwortlichen.“Studien bewiesen, wie wenig treffsicher solch frühe Aufteilungen sind.
Bohn plädiert für ein längeres gemeinsames Lernen der Kinder, das es überall sonst außer in Deutschland und Österreich gebe. „Bis heute gibt es keine pädagogisch-psychologische Begründung für diese lediglich vierjährige Grundschulzeit“, so Bohn. „Die frühe Auslese nach Klasse vier festigt die gesellschaftliche Spaltung, sie manifestiert und verschärft Bildungsungerechtigkeit und wirkt nachteilig auf die pädagogische Arbeit und die Lernkultur der gesamten Grundschulzeit.“Er spricht sich für mehr Beratung für Lehrer und Eltern aus und mehr Austausch zwischen den Schulen, um den Kindern einen guten Übergang zu bieten. „Ich kenne keine Lehrkraft aus dem Grundschulbereich, die sich die Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung zurückwünscht“, so Bohn.
Der Vorsitzende des Vereins der Gemeinschaftsschulen, Matthias Wagner-Uhl, sieht in dem Vorstoß allein den Wunsch von Realschulen und Gymnasien, manche Kinder „abzuschieben“, wie er sagt.
Tatsächlich ist die Schülerschaft an den beiden Schularten, vor allem an Realschulen, seit 2012 sehr viel heterogener geworden. Diese Vielfalt im Klassenraum macht Lehrern mitunter zu schaffen, berichten viele von ihnen. SPD-Bildungsexperte Daniel Born spricht sich deshalb dafür aus, die Lehrer zu stärken – etwa durch flexible Schulstunden, um damit Kinder individueller fördern zu können, oder durch Fortbildungen. „Aber den Eltern jetzt unnötigerweise ihre Entscheidungskompetenz streitig zu machen, macht dagegen kein Kind schlauer – und keine Schule besser.“
Und was plant die Kultusministerin? Eisenmann teilt die Analyse von RLV und PhV. Eine Rückkehr zur Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung lehnt sie indes ab. „Die Entscheidungsfreiheit der Eltern über die Schulwahl ihres Kindes soll nicht infrage gestellt werden“, erklärt eine Sprecherin. „Die Grundschulempfehlung soll aber künftig wieder mehr Gewicht erhalten.“Grundschüler sollen benotete Arbeiten schreiben, die in die Grundschulempfehlung einfließen sollen. „Zudem wird über eine ,Probezeit’ nachgedacht, innerhalb derer sich das Kind den Anforderungen der gewählten Schulart stellen kann.“Hier arbeite das Ministerium an einem Gesamtkonzept.