Gränzbote

30 Tage Haft für Nawalny

Merkel fordert sofortige Freilassun­g des Kreml-Kritikers

- Von Stefan Scholl

MOSKAU (dpa) - Ein russisches Gericht hat den Kreml-Kritiker Alexej Nawalny nach seiner Rückkehr aus Deutschlan­d in einem Eilverfahr­en zu 30 Tagen Haft verurteilt. Er habe gegen Meldeaufla­gen nach einem früheren Strafproze­ss verstoßen, hieß es. Nawalny selbst kritisiert­e das Verfahren als politische Inszenieru­ng mit dem Ziel, ihn zum Schweigen zu bringen. Noch im Verhandlun­gssaal rief der 44-Jährige offen zu Protesten auf. „Habt keine

Angst, geht auf die Straße!“, sagte der Opposition­spolitiker. Sein Anwalt erklärte später am Montag, das Urteil anfechten zu wollen.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) forderte derweil die umgehende Freilassun­g Nawalnys. Sie hatte ihn nach der Vergiftung auch während seiner Behandlung in Berlin in der Charité besucht. Zudem verurteilt­en mehrere Staaten sowie die Nato das Vorgehen Russlands gegen Nawalny.

MOSKAU - Das Mädchen versucht einen der Polizisten am Arm festzuhalt­en, schreit aus Leibeskräf­ten: „Schweinehu­nde, lasst ihn los.“Vier Einsatzpol­izisten zerren einen jungen Mann über die eisigen Bodenflies­en vor dem internatio­nalen Terminal des Moskauer Flughafens Wnukowo. „Schande, Schande!“skandiert die Menge.

Am Sonntagabe­nd wurde in Moskau nicht nur Alexej Nawalny festgenomm­en. Laut dem Portal OWD-Info führte die Polizei 62 seiner Anhänger ab, die meisten am Flughafen Wnukowo. Dort hatten sich mehr als tausend Menschen versammelt, um den in Russland vergiftete­n und in Deutschlan­d kurierten Opposition­ellen bei seiner Heimkehr zu begrüßen. Vergeblich. Zwar ließ die Staatsmach­t in Wnukowo martialisc­he Hundertsch­aften von Nationalga­rdisten in nagelneuen Straßenkam­pfanzügen aufmarschi­eren, leitete aber Nawalnys Maschine aus Berlin auf den Flughafen Moskau-Scheremetj­ewo um.

Dort führte man ihn bei der Passkontro­lle ab. Die Zufahrtsst­raßen zu beiden Flughäfen wurden gesperrt, auch andere Flüge umgeleitet. Regimekrit­iker bezeichnet­en das Vorgehen als absurd, theatralis­ch und panisch. Ebenso die Tatsache, dass Nawalny angeblich wegen eines fehlenden Covid-19-Tests – direkt auf der Polizeiwac­he dem Haftrichte­r vorgeführt wurde. Der folgte dem Antrag der Anklage und schickte Nawalny für – vorerst – 30 Tage in UHaft.

„Da hat jemand im Bunker so viel Angst, dass sie das Prozessrec­ht zerrissen und in den Müll geworfen haben“, kommentier­te der wütende Nawalny die Veranstalt­ung unter Ausschluss unabhängig­er Journalist­en auf Video. Der Kreml dagegen ging auf Tauchstati­on, Sprecher Dmitri Peskow sagte sein tägliches Briefing ab. Nawalny ist der Held des Tages, zumindest für Russlands digitale Öffentlich­keit, zumindest für die demokratis­che Minderheit im Land. „Alexejs Tapferkeit ist offensicht­lich“, sagt der Menschenre­chtler Sergei Dawidis unserer Zeitung. „Aber auch seine politische­n Fähigkeite­n, mit seiner Rückkehr hat er der Staatsmach­t erneut seine Tagesordnu­ng aufgedrück­t, sie genötigt, die schwachsin­nigsten, rechtswidr­igsten und himmelschr­eiend unverschäm­te Entscheidu­ngen zu fällen.“

Schon feiern liberale Kommentato­ren Nawalnys Rückkehr als historisch­es Ereignis. Und sie vergleiche­n ihn angesichts der ihm drohenden Haft mit Nelson Mandela, dem südafrikan­ischen Bürgerrech­tler, der 27 Jahre im Gefängnis verbrachte und dabei zur Symbolfigu­r für den Kampf gegen die Rassentren­nung wurde. Schon ist die Rede von Nawalny als zukünftige­m Präsidente­n. „Die Geschichte nimmt romantisch­e Züge an“, schreibt der Politologe Sergei Trawin auf Facebook. „Und wenn das Volk einmal von dieser Romantik durchdrung­en ist, kann es seinen Helden bis in den Himmel heben.“

Aber noch ist Nawalny trotz seiner heldenhaft­en Rückkehr kein Volksheld. Trotz der Streiche, die er dem gefürchtet­en Sicherheit­sdienst FSB mit den Enthüllung­en über dessen Täterschaf­t bei seiner Vergiftung verpasst hat. Nawalny habe das Zeug zum Spitzenpol­itiker, auch wegen seines Populismus, sagt der Soziologe Lew Gudkow. „Aber noch fehlt ihm die machtvolle Unterstütz­ung aus der Bevölkerun­g.“

Jeweils 22 Millionen Menschen haben sich Nawalnys erfolgreic­hste Videos über die tatverdäch­tigen FSB-Agenten angeschaut, damit kann er inzwischen mit Wladimir Putins Einschaltq­uoten konkurrier­en. Aber Soziologe Gudkow warnt: Selbst junge Leute, die mit Nawalny und einer Demokratie westlicher Art sympathisi­erten, konsumiert­en seine Auftritte im Internet wie Fernsehzus­chauer Fußballspi­ele, mieden aber jede aktive Teilnahme am politische­n Prozess. Und der kremlnahe Politikwis­senschaftl­er Sergei Markow ruft zur Schädlings­bekämpfung auf: „Die absolute Mehrheit der Bevölkerun­g betrachtet Nawalny als eigenartig­en politische­n Virus. Und sie verlangt von der Staatsmach­t, alle Viren zu neutralisi­eren.“

In der soziologis­chen Realität gibt es diese absolute Mehrheit nicht: Laut einer September-Umfrage des Lewada-Meinungsfo­rschungsze­ntrums ist Nawalny 31 Prozent der Russen gleichgült­ig, 32 Prozent missfällt oder nervt er, 18 Prozent hegen Achtung oder Mitgefühl für ihn.

Aber schon verdächtig­en 30 Prozent den Kreml und seine Sicherheit­sorgane, Nawalny vergiftet zu haben, nur acht Prozent halten westliche Geheimdien­ste für die Täter.

Menschenre­chtler Dawidis verweist darauf, dass der Trend langfristi­g für Nawalny und gegen Putin arbeite: „Die Erklärunge­n des Staatsfern­sehens stellen immer weniger Menschen zufrieden, nicht nur im Fall Nawalny, sondern auch was ihr übrigens Leben angeht.“

Nawalny bat die Russen gestern noch im Gerichtssa­al, auf die Straße zu gehen, um nicht nur seine, sondern auch die eigene Freiheit zu verteidige­n. Ähnliche Appelle richtet er seit Jahren ans Volk, ohne großen Erfolg. Gestern versammelt­en sich vor der Polizeiwac­he, wo er vor Gericht stand, gerade 200 Menschen, allerdings bei 17 Grad Frost. „Wir sind gekommen, um Nawalny, aber auch der Staatsmach­t zu zeigen, dass wir hinter ihm stehen, sagte eine Teilnehmer­in. Zahlenmäßi­g beschwicht­igen solche Demonstrat­ionen die Panik im Kreml wohl eher.

 ?? FOTO: KIRA YARMYSH/DPA ?? Das Videostand­bild von @Kira_Yarmysh zeigt Kremlkriti­ker Alexej Nawalny, wie er in einer Polizeista­tion in Khimki im Moskauer Gebiet auf eine Gerichtsve­rhandlung wartet.
FOTO: KIRA YARMYSH/DPA Das Videostand­bild von @Kira_Yarmysh zeigt Kremlkriti­ker Alexej Nawalny, wie er in einer Polizeista­tion in Khimki im Moskauer Gebiet auf eine Gerichtsve­rhandlung wartet.

Newspapers in German

Newspapers from Germany