30 Tage Haft für Nawalny
Merkel fordert sofortige Freilassung des Kreml-Kritikers
MOSKAU (dpa) - Ein russisches Gericht hat den Kreml-Kritiker Alexej Nawalny nach seiner Rückkehr aus Deutschland in einem Eilverfahren zu 30 Tagen Haft verurteilt. Er habe gegen Meldeauflagen nach einem früheren Strafprozess verstoßen, hieß es. Nawalny selbst kritisierte das Verfahren als politische Inszenierung mit dem Ziel, ihn zum Schweigen zu bringen. Noch im Verhandlungssaal rief der 44-Jährige offen zu Protesten auf. „Habt keine
Angst, geht auf die Straße!“, sagte der Oppositionspolitiker. Sein Anwalt erklärte später am Montag, das Urteil anfechten zu wollen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) forderte derweil die umgehende Freilassung Nawalnys. Sie hatte ihn nach der Vergiftung auch während seiner Behandlung in Berlin in der Charité besucht. Zudem verurteilten mehrere Staaten sowie die Nato das Vorgehen Russlands gegen Nawalny.
MOSKAU - Das Mädchen versucht einen der Polizisten am Arm festzuhalten, schreit aus Leibeskräften: „Schweinehunde, lasst ihn los.“Vier Einsatzpolizisten zerren einen jungen Mann über die eisigen Bodenfliesen vor dem internationalen Terminal des Moskauer Flughafens Wnukowo. „Schande, Schande!“skandiert die Menge.
Am Sonntagabend wurde in Moskau nicht nur Alexej Nawalny festgenommen. Laut dem Portal OWD-Info führte die Polizei 62 seiner Anhänger ab, die meisten am Flughafen Wnukowo. Dort hatten sich mehr als tausend Menschen versammelt, um den in Russland vergifteten und in Deutschland kurierten Oppositionellen bei seiner Heimkehr zu begrüßen. Vergeblich. Zwar ließ die Staatsmacht in Wnukowo martialische Hundertschaften von Nationalgardisten in nagelneuen Straßenkampfanzügen aufmarschieren, leitete aber Nawalnys Maschine aus Berlin auf den Flughafen Moskau-Scheremetjewo um.
Dort führte man ihn bei der Passkontrolle ab. Die Zufahrtsstraßen zu beiden Flughäfen wurden gesperrt, auch andere Flüge umgeleitet. Regimekritiker bezeichneten das Vorgehen als absurd, theatralisch und panisch. Ebenso die Tatsache, dass Nawalny angeblich wegen eines fehlenden Covid-19-Tests – direkt auf der Polizeiwache dem Haftrichter vorgeführt wurde. Der folgte dem Antrag der Anklage und schickte Nawalny für – vorerst – 30 Tage in UHaft.
„Da hat jemand im Bunker so viel Angst, dass sie das Prozessrecht zerrissen und in den Müll geworfen haben“, kommentierte der wütende Nawalny die Veranstaltung unter Ausschluss unabhängiger Journalisten auf Video. Der Kreml dagegen ging auf Tauchstation, Sprecher Dmitri Peskow sagte sein tägliches Briefing ab. Nawalny ist der Held des Tages, zumindest für Russlands digitale Öffentlichkeit, zumindest für die demokratische Minderheit im Land. „Alexejs Tapferkeit ist offensichtlich“, sagt der Menschenrechtler Sergei Dawidis unserer Zeitung. „Aber auch seine politischen Fähigkeiten, mit seiner Rückkehr hat er der Staatsmacht erneut seine Tagesordnung aufgedrückt, sie genötigt, die schwachsinnigsten, rechtswidrigsten und himmelschreiend unverschämte Entscheidungen zu fällen.“
Schon feiern liberale Kommentatoren Nawalnys Rückkehr als historisches Ereignis. Und sie vergleichen ihn angesichts der ihm drohenden Haft mit Nelson Mandela, dem südafrikanischen Bürgerrechtler, der 27 Jahre im Gefängnis verbrachte und dabei zur Symbolfigur für den Kampf gegen die Rassentrennung wurde. Schon ist die Rede von Nawalny als zukünftigem Präsidenten. „Die Geschichte nimmt romantische Züge an“, schreibt der Politologe Sergei Trawin auf Facebook. „Und wenn das Volk einmal von dieser Romantik durchdrungen ist, kann es seinen Helden bis in den Himmel heben.“
Aber noch ist Nawalny trotz seiner heldenhaften Rückkehr kein Volksheld. Trotz der Streiche, die er dem gefürchteten Sicherheitsdienst FSB mit den Enthüllungen über dessen Täterschaft bei seiner Vergiftung verpasst hat. Nawalny habe das Zeug zum Spitzenpolitiker, auch wegen seines Populismus, sagt der Soziologe Lew Gudkow. „Aber noch fehlt ihm die machtvolle Unterstützung aus der Bevölkerung.“
Jeweils 22 Millionen Menschen haben sich Nawalnys erfolgreichste Videos über die tatverdächtigen FSB-Agenten angeschaut, damit kann er inzwischen mit Wladimir Putins Einschaltquoten konkurrieren. Aber Soziologe Gudkow warnt: Selbst junge Leute, die mit Nawalny und einer Demokratie westlicher Art sympathisierten, konsumierten seine Auftritte im Internet wie Fernsehzuschauer Fußballspiele, mieden aber jede aktive Teilnahme am politischen Prozess. Und der kremlnahe Politikwissenschaftler Sergei Markow ruft zur Schädlingsbekämpfung auf: „Die absolute Mehrheit der Bevölkerung betrachtet Nawalny als eigenartigen politischen Virus. Und sie verlangt von der Staatsmacht, alle Viren zu neutralisieren.“
In der soziologischen Realität gibt es diese absolute Mehrheit nicht: Laut einer September-Umfrage des Lewada-Meinungsforschungszentrums ist Nawalny 31 Prozent der Russen gleichgültig, 32 Prozent missfällt oder nervt er, 18 Prozent hegen Achtung oder Mitgefühl für ihn.
Aber schon verdächtigen 30 Prozent den Kreml und seine Sicherheitsorgane, Nawalny vergiftet zu haben, nur acht Prozent halten westliche Geheimdienste für die Täter.
Menschenrechtler Dawidis verweist darauf, dass der Trend langfristig für Nawalny und gegen Putin arbeite: „Die Erklärungen des Staatsfernsehens stellen immer weniger Menschen zufrieden, nicht nur im Fall Nawalny, sondern auch was ihr übrigens Leben angeht.“
Nawalny bat die Russen gestern noch im Gerichtssaal, auf die Straße zu gehen, um nicht nur seine, sondern auch die eigene Freiheit zu verteidigen. Ähnliche Appelle richtet er seit Jahren ans Volk, ohne großen Erfolg. Gestern versammelten sich vor der Polizeiwache, wo er vor Gericht stand, gerade 200 Menschen, allerdings bei 17 Grad Frost. „Wir sind gekommen, um Nawalny, aber auch der Staatsmacht zu zeigen, dass wir hinter ihm stehen, sagte eine Teilnehmerin. Zahlenmäßig beschwichtigen solche Demonstrationen die Panik im Kreml wohl eher.