Das schwierige Erbe der Geschichte
Einerseits Ehrung von Verdiensten, andererseits belastete Vergangenheit
TUTTLINGEN - In Straßennamen manifestiert sich häufig Zeitgeschichte. Im Guten wie im Schlechten. Goethe und Beethoven sind unantastbar, auch wenn sie als Menschen vielleicht nicht ganz einfach waren. Aber schon bei einem Bismarck wird‘s schwierig – welche Elemente seiner Politik und seiner Person soll man wie gewichten? Was rechtfertigt einen Straßennamen, der ja stets auch eine Würdigung eines Lebens und Ehrung von Verdiensten sein soll?
Beispiel Hans Dieter Maler, geboren 1881 in Mannheim, gestorben 1968 in Tuttlingen. Eine Straße trägt seinen Namen. Zurecht? Er lernt nach seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg den großen Hans Thoma kennen, der ihm rät, Künstler zu werden. Er lebt und arbeitet in Meersburg und Freiburg, reist nach Paris, nach Berlin, nach München. Er stirbt 1968 hochbetagt in Tuttlingen – der Stadt, aus der seine zweite Frau Johanna stammte. Doch dazwischen: Eintritt in die NSDAP bereits 1932. Mit einer kurzen Unterbrechung bleibt er „PG“, Parteigenosse, bis 1945. Er gilt als der Maler des Nationalsozialismus. 1946 werden ihm deshalb eine hohe Geldstrafe und die Pensionsstreichung auferlegt. Die Spruchkammer stuft ihn später allerdings nur noch als „Mitläufer“ein, spricht ihm aber gleichzeitig das Wahlrecht ab. Würdig eines Straßennamens?
Beispiel: August Lämmle. Mundartdichter, 1876 bis 1962. Sammler schwäbischer Redensarten, Sagen, Sprichwörter, Volkslieder. Autor zahlreicher Bücher. Vorsitzender des Vorläufers des Schwäbischen Heimatbundes. Aber: Tief in den Nationalsozialismus verstrickt. Huldigt mehrfach öffentlich Hitler. Bejubelt
den „Anschluss“Österreichs 1938. Nach 1945 als „Mitläufer“entnazifiziert. Weitere Karriere. Ehrenbürgerwürde von Leonberg. Die ihm erst 2020 wieder entzogen wird. In Tuttlingen heißt noch immer eine Straße nach ihm – und nicht nur dort: In vielen Orten von Affalterbach bis Wangen gibt es AugustLämmle-Straßen.
Beispiel Ludwig Finckh. 1876 bis 1964. Freund Hermann Hesses. Schriftsteller, Autor einer Biografie Konrad Widerholts. „Retter des Hohenstoffeln“vor dem geplanten Basaltabbau. Aber: NSDAP-Mitgliedschaft von 1933 bis 1945. Unterzeichnet bereits 1933 ein Gelöbnis von Schriftstellern mit dem „treuesten Gelöbnis für Adolf Hitler“. Antisemit. Lehrt „Sippenkunde und Vererbung“, hält Vorträge über „Ahnenkunde und Lebensgesetze“. Hesse, mit dem er sich auseinandergelebt hat, schreibt über ihn: „Ein alter vernagelter Nazi, der 12 Jahre lang ,Heil Hitler!‘ geschrieen hat und es am liebsten wieder täte.“
In Tuttlingen und vielen anderen Städten und Orten sind noch immer Straßen nach ihm benannt, unter anderem auch in Rietheim-Weilheim und Emmingen-Liptingen.
Zeitgeschichte spiegelt sich auch auf einer anderen Ebene wider. In Tuttlingen gibt es – wie in vielen anderen Gemeinden – eine ganze Reihe von Straßen, die in den 1950erJahren des vergangenen Jahrhunderts an die sogenannten deutschen Ostgebiete erinnern sollten.
Da sind die Dresdner, die Danziger, die Eger, die Stettiner und die Königsberger Straße, die an das „verlorene“Sachsen, Westpreußen,
Böhmen, Pommern und Ostpreußen erinnern sollte; dazu die Erinnerung an die (damals ehemalige und geteilte Hauptstadt), der Berliner Ring. Die genannten Städte lagen seinerzeit in der DDR (Dresden), in Polen (Danzig / Gdansk, Stettin / Sczcecin), der damaligen CSSR (Eger / Cheb) und der Sowjetunion (Königsberg, Kaliningrad). Solche Namen kamen in der BRD meist auf das Betreiben von Vertriebenen zustande.