Südwesten verteidigt Pläne für schnellere Schulöffnung
Kultusministerin Eisenmann sieht „besondere soziale Verantwortung für Kinder“– Bayern wartet Lockdown-Ende ab
STUTTGART/MÜNCHEN (thg/dpa) Baden-Württemberg wird den Corona-Lockdown zwar um zwei Wochen verlängern wie von Bund und Ländern beschlossen, doch für Kinder sind Lockerungen geplant. Peu à peu geht es an Schulen und Kitas zurück in den Präsenz: Geht es nach Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) steigen die Grundschulen ab 1. Februar wieder ein. „Wir müssen aufpassen, dass Kinder und Jugendliche nicht zu den Verlierern der Pandemie werden“, sagte Eisenmann,
CDU-Spitzenkandidatin für die Landtagswahl, am Mittwoch der „Schwäbischen Zeitung“. Man müsse Kindern und Eltern eine Perspektive bieten. „Wir haben für Kinder eine besondere soziale Verantwortung.“Es gehe darum, die psychischen und sozialen Folgen der Isolation in den Blick zu nehmen und altersdifferenziert vorzugehen.
Entsprechend sieht der Plan aus: In der ersten Februarwoche könnten die Klassen 1 und 2 zurückkehren, während die Klassen 3 und 4 noch eiklaren ne Woche länger zu Hause lernen. Die Kitas sollen ab 1. Februar mit Betrieb in festen Gruppen komplett öffnen. Spätestens nach der Faschingswoche, ab dem 22. Februar, sollen alle Schüler an weiterführenden Schulen im Wechselunterricht lernen.
Rudi Hoogvliet, Sprecher von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), verteidigte die Pläne. Er sagte zu den Bedingungen für eine Schulöfffnung, man lege „keinen bestimmten Inzidenz- oder Reproduktionswert fest“. Es müsse aber einen Trend der Entspannung geben. Kretschmann sei zu dem Schluss gekommen, dass er es verantworten könne, vorsichtig in die Öffnung zu gehen.
In Bayern hofft Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) auf Präsenzunterricht nach dem Ende des verlängerten Lockdowns Mitte Februar. Jedoch fügte er am Mittwoch in München hinzu: „Es wird auch Mitte Februar Corona nicht vorbei sein. Wir sollten uns dieser Illusion nicht hingeben.“
RAVENSBURG - Wie hoch ist die Ansteckungsgefahr von Kindern mit dem Coronavirus? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Schulen und Kindertagesstätten? Diese Fragen werden seit Beginn der Pandemie diskutiert. Baden-Württemberg hat bei diesen Debatten meist eine Sonderstellung eingenommen und Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) stets für eine zeitnahe Öffnung von Schule und Kita plädiert. Auch jetzt strebt der Südwesten anders als andere Bundesländer bereits ab 1. Februar Präsenzunterricht und Kinderbetreuung an. Dabei legen Studienergebnisse nahe, dass das Übertragungsrisiko bei Kindern unterschätzt wurde. Dazu Fragen und Antworten.
Wie hoch ist das Übertragungsrisiko in Schulen?
Forscher des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) haben Ende 2020 Daten aus Europa und den USA hinsichtlich der Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen gegen das Cornavirus untersucht. Das Ergebnis: Frühzeitige Schulschließungen haben sich signifikant auf das Infektionsgeschehen ausgewirkt und eine Trendwende bei den Fallzahlen bewirkt. Hätte man im Frühjahr 2020 nur einen Tag länger gewartet, die Schulen zu schließen, „hätte dies laut unseren Analysen 125 000 zusätzliche Infektionen bedeutet, die Schließung sieben Tage später sogar 400 000 zusätzliche Fälle“, sagte der Wirtschaftsinformatiker Niklas Kühl. Allerdings: Laut KIT sind alle Forschungsarbeiten zu den Schutzmaßnahmen gegen Corona „mit einem hohen Maß an Unsicherheit verbunden“, was an der unterschiedlichen Umsetzung und der Disziplin in der Bevölkerung liege. Michael Wagner von der Universität Wien kommt in einer Studie jedoch zu eindeutigen Ergebnissen. Der Nachwuchs ist demnach nicht weniger infektiös als Erwachsene, so der Mikrobiologe bei tagesschau.de: „Die Kinder spiegeln das Infektionsgeschehen um sich herum wider.“Erschreckend: Offenbar ist die Dunkelziffer enorm, das geht aus einer Blutproben-Studie des HelmholtzZentrums in München hervor. Demnach waren im Untersuchungszeitraum in Bayern sechsmal mehr Kinder infiziert als gemeldet. Beruhigend: Kinder erkranken weniger schwer und zeigen deutlich seltener schwere Verläufe von Covid-19.
Wie hoch ist das Übertragungsrisiko in Kindertagesstätten?
Hier ist die Lage unklar. Oder wie Susanne Kuger vom Deutschen Jugendinstitut in München der „Schwäbischen Zeitung“sagt: „Die Infektionsprävalenz bei Kindern im Alter von einem bis zehn Jahren in Deutschland kann gegenwärtig nur grob abgeschätzt werden.“Sie beziehe sich außerdem vor allem auf Patienten mit eindeutigen Symptomen.
Wie ist die Lage für Erzieherinnen und Lehrkräfte?
Unzweifelhaft ist laut Deutschem Jugendinstitut und Robert-Koch-Institut, dass an Kitas wegen der Pandemie seit Oktober immer mehr Personal fehlte. Das ergibt auch eine Analyse von AOK-Daten, wonach zwischen März und Oktober 2020 die Zahl der wegen Covid-19 krankgeschriebenen Personen bei Kita-Mitarbeitern doppelt so hoch lag wie bei anderen Beschäftigten. Bei Lehrern sieht es laut Experten wohl kaum anders aus.
Wie hoch ist die Gefahr durch die neuen Virusmutationen?
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) betonte bereits eine „neue und besondere Lage“, die die Situation in den Schulen verschärfen könnte. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sagte, Schulen könnten eine „entscheidende Rolle“bei der Verbreitung der Virusmutation spielen.
Was halten Kinderärzte von den Schul- und Kitaschließungen?
Viele Kinderärzte warnen vor den Folgen der Schließungen; dem Verlust der sozialen Kontakte, den verminderten Bildungschancen, den verstärkten Gefahren von Kindesmisshandlungen. In einer Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie und der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene bekräftigen die Kinderärzte: „Für Kinder sind Schulen systemrelevant, denn sie treffen im Kern ihre sozialen und intellektuellen Grundbedürfnisse und bestimmen die Entwicklung.“Ihr dringender Appell: Die Schulen und Kitas so rasch wie möglich wieder zu öffnen.
Was müsste besser laufen, wenn Schulen und Kitas wieder öffnen?
„Einen maximalen Schutz vor Infektionen in geschlossenen Räumen gibt es nur durch die konsequente Einhaltung eines Maßnahmenbündels“, sagt Professor Achim Dittler,
Aerosolexperte vom Karlsruher Institut für Technologie, der auch die Landesregierung berät. Dazu gehörten: gutes Lüften, große Abstände („Mit 1,5 Meter ist nicht der maximale, sondern der minimale Abstand gemeint“), geringe Personenzahl, kurze Aufenthaltsdauer, Maskenpflicht bei Schülern und Lehrkräften – auch in der Grundschule. Was bisher in Bayern, aber nicht in BadenWürttemberg galt. „Aus Sicht des Aerosol-Übertragungswegs ist völlig unverständlich, dass eine Gruppe Schüler keine Maske trägt, aber ab der 7. Klasse die Schüler dann doch“, so Dittler.
Macht eine Schul- und Kitaöffnung zum 1. Februar Sinn?
Aerosolexperte Dittler ist, auch wegen der Virusmutation, skeptisch: „Schulen zu öffnen, als Versammlungsort vieler haushaltsfremder Personen, die in einem geschlossenen Raum zusammenkommen – das ist ein vermeidbares Risiko.“
Schulen und Kitas früher öffnen? Was Leser denken: www.schwaebische.de/schule-kita