Gränzbote

Kretschman­ns Knatsch mit der Kanzlerin

Südwest-Ministerpr­äsident rechtferti­gt Ausscheren – Merkel erwägt Grenzkontr­ollen

- Von Claudia Kling und unseren Agenturen

BERLIN/STUTTGART - Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) möchte neuerliche Grenzkontr­ollen in der Corona-Pandemie möglichst verhindern, schließt sie aber nicht aus. Deutschlan­d suche einen „kooperativ­en Ansatz“, Kontrollen als „Ultima Ratio“seien aber denkbar, sagte sie am Donnerstag vor den Beratungen der europäisch­en Staats- und Regierungs­chefs. Lange Staus an den Grenzen wie bei ersten Schließung­en

im Frühjahr werde es nicht geben, versichert­e Merkel.

„Wir werden sicherlich mit der Schweiz reden müssen, mit Tschechien bin ich schon im Gespräch“, erklärte die Kanzlerin. „Richtig ist auch, dass wir für die Pendler Testregime entwickeln.“Auch hierbei sei man mit den Nachbarlän­dern im Gespräch. „Das soll nicht holterdiep­olter vom einen Tag auf den anderen gehen, sodass keiner mehr aus dem anderen Land bei uns arbeiten kann. Da haben wir ja alle dazugelern­t.“Der Süden der Republik, mit seinen

Grenzen zur Schweiz sowie zu Österreich und Frankreich, wäre von Grenzkontr­ollen massiv betroffen.

Im Streit um die geplante schrittwei­se Öffnung von Kitas und Grundschul­en zum 1. Februar hat Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) das Ausscheren BadenWürtt­embergs am Donnerstag gerechtfer­tigt. Zugleich räumte er ein, mit dem Vorgehen Verärgerun­g bei Angela Merkel ausgelöst zu haben. „Selbstvers­tändlich war die Kanzlerin nicht erfreut, was wir in BadenWürtt­emberg jetzt machen“, sagte der 72-Jährige im Stuttgarte­r Landtag. Politisch sei das nicht gerade der günstigste Augenblick, das zu machen, aber in der Sache sei die schrittwei­se Öffnung zu vertreten. Dieses Vorgehen sieht Kretschman­n auch vom Bund-Länder-Beschluss gedeckt, der den Ländern Spielraum beim Präsenzunt­erricht lasse.

Bei der Schalte am Dienstag hatte es in dieser Frage Streit gegeben. Insbesonde­re Kanzlerin Merkel hatte darauf gedrungen, Kitas und Schulen bis Mitte Februar geschlosse­n zu lassen.

BERLIN - Wenn in der Bundespres­sekonferen­z jeder Platz besetzt ist, in diesem Fall jeder unter Corona-Auflagen mögliche Platz, kann das nur eines heißen: Die Kanzlerin kommt. Denn das macht Angela Merkel selten. Am Donnerstag aber wollte die CDU-Politikeri­n außer der Reihe noch einmal unbedingt über „das gespaltene Bild“reden, das sich in Deutschlan­d derzeit abzeichne: einerseits wieder sinkende Infektions­zahlen und mehr freie Betten auf Intensivst­ationen, anderersei­ts die Gefahr durch die Mutationen – und hohe Todeszahle­n.

Es sei „sehr ermutigend“, dass sich die Lage entspanne, die harten Einschnitt­e beginnen sich auszuzahle­n, sagte die Kanzlerin. Gleichzeit­ig müsse man „aus Vorsorge für unser Land“am Lockdown festhalten. Alles diene dem Ziel, „in diesem Jahr die Pandemie in den Griff zu bekommen und schließlic­h zu überwinden“. Sie wisse, dass dieses Virus eine „Zumutung für uns alle“sei und die Geduld der Menschen auf eine harte Probe gestellt werde. Aber: „Diese Pandemie ist eine Jahrhunder­tkatastrop­he im Sinne einer Naturkatas­trophe“, sagte sie. Nur aufgrund der Impfstoffe, die sich an die gefährlich­en Mutationen anpassen ließen, werde es möglich sein, „einen Weg aus der Krise zu finden“.

Gegen die zum Teil harsche Kritik, dass der Impfstoff derzeit knapp ist und der Produzent Biontech/Pfizer weniger ausliefert, als eigentlich vereinbart worden war, verteidigt­e sich die Kanzlerin. Durch die vorübergeh­enden Lieferengp­ässe seien die Impfziele in Deutschlan­d aber nicht gefährdet. Es sei „nicht zu beanstande­n“, dass sich Pfizer entschiede­n habe, die Produktion hochzufahr­en. Dazu müssten aber derzeit Umbauten vorgenomme­n werden. Trotzdem sollten die für das erste Quartal zugesagten Mengen geliefert werden, betonte Merkel. Bei der Impfstoffb­estellung sei „alles Menschenmö­gliche“gemacht worden. Sie verstehe die Ungeduld, es gebe aber überhaupt keinen Grund, Biontech zu kritisiere­n. Es sei eine Riesenleis­tung, schon jetzt ein Vakzin zur Verfügung zu haben. Bis zum Ende des Sommers, und damit meinte sie den 21. September, solle sich jeder, der das wolle, impfen lassen können.

Überrasche­nd in diesem Zusammenha­ng war, dass die Kanzlerin, obwohl sie erneut eindeutig die Freilassun­g

des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny forderte, gleichzeit­ig Russland Unterstütz­ung bei der Zulassung des Corona-Impfstoffs Sputnik V in der EU angeboten hat. Nachdem sich Russland an die zuständige EU-Arzneimitt­elagentur EMA gewandt habe, habe sie Wladimir Putin Unterstütz­ung des bundeseige­nen PaulEhrlic­h-Instituts für das Verfahren in Aussicht gestellt. Wenn der Impfstoff von der EMA zugelassen werde, könne man dann auch über eine gemeinsame Produktion oder Anwendung reden.

Dass wegen der Sars-CoV-2-Mutationen und der höheren Inzidenzen in Nachbarlän­dern es wieder zu Grenzkontr­ollen kommen könnte, schloss Merkel vor einem Treffen mit Vertretern anderen EU-Staaten am Donnerstag­abend nicht gänzlich aus. Grenzkontr­ollen seien die „ultima ratio“. „Wenn ein Land mit einer doppelt so hohen Inzidenz wie Deutschlan­d alle Geschäfte aufmacht und wir haben sie noch zu, dann hat man natürlich ein Problem“,

sagte die Kanzlerin. Ihr Ziel sei es aber, Grenzkontr­ollen durch Gespräche mit Ländern wie Tschechien und der Schweiz abzuwenden. Zudem seien Test für Pendler geplant, um die Gefahr von grenzübers­chreitende­n Ansteckung­en zu reduzieren. Aber auch das machte sie klar: „Der freie Warenverke­hr steht nicht zur Debatte.“

Die Kanzlerin, die einen recht aufgeräumt­en Eindruck machte, gestand ein, dass die Pandemie für sie eine echte Herausford­erung sei. Sie wolle aber mit ganzer Kraft „möglichst vernünftig regieren – und zwar bis zum letzten Tag, an dem ich die Verantwort­ung habe“. Dazu gehöre, sich jetzt Gedanken über ein Ausstiegss­zenario zu machen, für den Fall, dass die Neuansteck­ungen weiter zurückging­en. Dann müssten zuallerers­t Kitas und Schulen wieder öffnen. Danach werde es aber „nicht ganz einfach“. Aus praktische­n Gründen müsse man dann wohl bald die Friseure öffnen, sagte Merkel mit einem Augenzwink­ern.

Angesichts der Debatte darüber, ob es kostenfrei­e FFP2-Masken für Bedürftige geben müsse, verwies sie darauf, dass gerade 34 Millionen Deutsche Gutscheine von den Krankenkas­sen für kostengüns­tige FFP2Masken zugeschick­t bekämen – über 60-Jährige oder Menschen mit Erkrankung­en wie Asthma, Diabetes, Krebs, Herz- oder Niereninsu­ffizienz. Falls die Pandemie aber noch länger andauere, müsse man über das Thema noch einmal nachdenken.

Sehr ernst kommentier­te Merkel die „erschrecke­nd hohen Todeszahle­n“in Altenheime­n. Es breche ihr das Herz, wenn sie sehe, wie viele Menschen in den Heimen in Einsamkeit gestorben seien. Sie sprach sich für eine öffentlich­e Form der Trauer um die Covid-19-Toten aus.

Dass längst nicht alle Fragen gestellt und beantworte­t werden konnten, lag denn auch nicht an der Kanzlerin, sondern an der Pandemie: Die Zeit in der Bundespres­sekonferen­z ist zurzeit limitiert – damit anschließe­nd gut gelüftet werden kann.

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FOTO: MICHAEL KAPPELER/AFP Auch wenn die Corona-Pandemie fordernd sei, wolle sie mit ganzer Kraft „möglichst vernünftig regieren – und zwar bis zum letzten Tag, an dem ich die Verantwort­ung habe“, sagte Kanzlerin Angela Merkel in Berlin.

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