Gränzbote

Der Preis des Nationalis­mus

In Großbritan­nien kämpfen viele exportorie­ntierte Branchen mit zusätzlich­er Bürokratie und erhöhten Kosten durch den Brexit

- Von Sebastian Borger

LONDON - Drei Wochen nach dem Ausscheide­n aus dem EU-Binnenmark­t macht sich der Brexit zunehmend unangenehm bemerkbar. Trotz des in letzter Minute abgeschlos­senen Abkommens zwischen der EU und ihrem ausgetrete­nen ExMitglied beklagen Handelsunt­ernehmen auf beiden Seiten des Ärmelkanal­s eine Vielzahl neuer Hinderniss­e und Gebühren. Warenpaket­e stecken wochenlang beim Zoll fest, Trucker müssen Leerfahrte­n absolviere­n. Der schottisch­en Fischindus­trie verdirbt die frische Ware im Labyrinth neuer Vorschrift­en, prominente Musiker laufen Sturm gegen neue Visabeding­ungen.

Die Skepsis von Wirtschaft­sverbänden nach der Bekanntgab­e der Vereinbaru­ng am Heiligen Abend stellt sich mehr und mehr als weitsichti­g heraus. Viele Pressemitt­eilungen enthielten einen „Seufzer der Erleichter­ung“, dem der langjährig­e Geschäftsf­ührer der deutsch-britischen Handelskam­mer, Ulrich Hoppe, hinzufügte: „Es bleibt aber ein Seufzer, denn der Handel über den Kanal wird so oder so schwierige­r und teurer.“

Kein Zweifel – was bei den weitgehend ahnungslos­en Konsumente­n ankommt, ist teurer und dauert länger als im alten Jahr. Bei der BBC beklagte sich die 26-Jährige Londonerin Ellie Huddleston über zusätzlich­e Gebühren für zwei Pakete aus der EU. So belief sich die Endabrechn­ung

für einen neuen Mantel auf umgerechne­t 318 Euro statt der erwarteten 226 Euro, eine Steigerung um 41 Prozent. Beim zweiten Paket hätte der Preisaufsc­hlag immerhin rund ein Drittel betragen. Huddleston ließ beide zurückschi­cken: „Ich kaufe so schnell nichts mehr aus Europa.“Andere Kunden bezahlen und warten lang auf die Freigabe durch den Zoll.

Weil Kurierfirm­en die zusätzlich­en Zölle und Mehrwertst­euern für Güter im Wert von mehr als 39 Pfund (44,08 Euro) im Namen der Regierung eintreiben müssen, wird alles teurer. So erhebt das Frachtunte­rnehmen TNT neuerdings eine Gebühr von 4,31 Pfund auf alle Sendungen von der EU ins Vereinigte Königreich und umgekehrt. Damit will man die Millionenk­osten eintreiben, die durch den Brexit entstanden sind. Royal Mail verlangt acht Pfund, bei DHL beträgt die Mindestgeb­ühr sogar elf Pfund.

Was dies mit dem lukrativen Onlinehand­el zwischen Insel und Kontinent auf Dauer anstellt, lässt sich leicht ausmalen. Schon verweigern einzelne Unternehme­n wie der holländisc­he Fahrradspe­zialist Dutch Bike Bits oder der belgische Bierliefer­ant Beer on Web die Belieferun­g britischer Kunden.

Auch manche Spediteure haben die Nase voll und setzen ihre Lieferfahr­ten von und nach Großbritan­nien aus. Auf der Insel ist die Unwissenhe­it womöglich noch höher, manche Unternehme­n schätzen den Anteil der korrekt vorbereite­ten

Kunden auf lediglich zehn Prozent. Schon fahren immer mehr Trucker ihre Fahrzeuge lieber leer zurück aufs Festland als sich mit dem britischen Zoll herumzusch­lagen. „Lieber leer als drei Tage Stillstand“, sagt einer.

Dabei gilt derzeit eigentlich noch eine Schonfrist für die Handeltrei­benden. Zudem hatten viele Unternehme­n im alten Jahr ihre Lagerbestä­nde aufgefüllt, Automobilf­irmen wie Nissan fuhren die Produktion herunter oder machten ganz Pause. Wenn die Lieferkett­en demnächst wieder normal, also just in time, funktionie­ren sollen, dürfte es in den Kanalhäfen zu Engpässen kommen. Dabei machen die strengen Vorschrift­en zur Bekämpfung von SarsCoV-2 das Leben der Lastwagenf­ahrer ohnehin schwierig.

Neben vielem anderen hat die Pandemie die Tourneen von Orchestern und Bands zum Erliegen gebracht. Im Vorgriff auf bessere Zeiten haben jetzt prominente Musiker die viel schwierige­ren Bedingunge­n für zukünftige Besuche auf dem Kontinent angeprange­rt. Man sei von der Regierung „auf beschämend­e Weise im Stich gelassen“worden, schrieben Prominente wie Simon Rattle, Elton John, Sting und die Sex Pistols in der „Times“. Um vor Zehntausen­den von Fans zukünftig live aufspielen zu können, seien zukünftig „teure Arbeitserl­aubnisbewi­lligungen und ein Berg von Formularen für die Ausrüstung“notwendig. Tatsächlic­h dürfen beispielsw­eise britische Bühnenarbe­iter die wertvollen Container mit Instrument­en und Verstärker­n zukünftig nur noch in drei EUStädte

lenken; dann muss eine im Binnenmark­t registrier­te Zugmaschin­e übernehmen.

London und Brüssel machen sich gegenseiti­g für die Probleme der Milliarden-Branche verantwort­lich. Das sei tatsächlic­h „ein schwierige­s Problem“, windet sich eine britische Regierungs­sprecherin, man peile neue Gespräche mit der EU an.

Der Handelsexp­erte Jason Langrish war an der Ausarbeitu­ng von Ceta, dem Freihandel­svertrag zwischen Kanada und der EU, beteiligt. Auf einer Veranstalt­ung des Londoner Clubs der Auslandspr­esse FPA sagte er neulich einen negativen Effekt des neuen britischen Status voraus, aber „keine unmittelba­re Katastroph­e: Das geht langsam und dauert.“Nach und nach werde beispielsw­eise die Wettbewerb­sfähigkeit der City of London unterminie­rt, bisher das wichtigste Finanzzent­rum der Welt. Auch im wichtigen Automobils­ektor würden sich die Zusatzkost­en bald bemerkbar machen.

Was sich da machen lässt? Schon wird in Brüssel gemunkelt, man könne gewiss den für beide Seiten lukrativen Handel erleichter­n, notwendig seien dafür aber gewisse britische Garantien, was die Einhaltung von Normen im Arbeits- und Umweltrech­t angeht. Genau bei jenen fairen Konkurrenz­bedingunge­n für Unternehme­n werde London dem Kontinent entgegenko­mmen, glaubt Handelsexp­erte Langrish: „Und dann gehört das Königreich wieder zum Dunstkreis der EU.“

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FOTO: STEVEN PASTON/IMAGO IMAGES Reusen auf den Äußeren Hebriden: Der schottisch­en Fischindus­trie verdirbt die frische Ware im Labyrinth neuer Vorschrift­en.

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