Gränzbote

Filme sehen muss man lernen

Kino steht nicht auf dem Lehrplan – Dabei gehört Filmwissen auch zur Bildung

- Von Rüdiger Suchsland

Film ist viel mehr als ein Medium der Vermittlun­g von Inhalten. Er ist auch ein Kunstwerk, ein Kulturgut. Filmbildun­g heißt: die kulturelle Bedeutung des Films und seinen künstleris­chen Wert zu verstehen.“Dieser Satz stammt von der amtierende­n Kulturstaa­tsminister­in. Niemand wird Monika Grütters widersprec­hen wollen.

Zugleich gehört zu all dem, was „Filmbildun­g“heißen kann, noch viel mehr: Die Ausbildung zukünftige­r Filmemache­r ebenso wie die Horizonter­weiterung für das allgemeine erwachsene Publikum. Denn so, wie man mehr von einem guten Rotwein hat, wenn man ihn mit anderen Rotweinen vergleiche­n kann, so ist es auch mit Filmen: Erst wer sehr vieles kennt, kann das Einzelne schätzen; und wer immer nur das Gleiche sieht, der ahnt gar nicht, was ihm alles entgeht. Am allerwicht­igsten ist aber das, was man gern mit „Medienkund­e“umschreibt, und was schon bei Grundschül­ern anfängt: Dass man sie in die Lage versetzt, souverän mit der vielfältig­en Unübersich­tlichkeit der Medienland­schaft umzugehen. Auch Film ist etwas, was jeder erst lernen muss. So wie man auch Lesen und Schreiben lernen muss. Es gibt immer noch zu viele Film-Analphabet­en.

Die beste Filmschule ist im Prinzip ein gutes Kino. Denn Filme lernt man in ihrer Tiefe und Vielfalt am besten beim Sehen kennen.

So wie man Fußball auch am besten auf dem Bolzplatz lernt. Nun gibt es allerdings längst nicht überall ein Kino. Und wenn es eines gibt, dann ist es nicht in jedem Fall so gut kuratiert, dass dort auch Kinderfilm­e für verschiede­ne Generation­en gezeigt werden, dass man sich früh daran gewöhnen kann, Filme im Original mit Untertitel­n anzusehen, und dass man in Form von Retrospekt­iven etwas über die Filmgeschi­chte lernt.

Für die heute um die 50-Jährigen war das Fernsehen die beste Filmschule. Regelmäßig­e Werkschaue­n eines Filmemache­rs – etwa zu François Truffaut, Peter Greenaway oder Luchino Visconti – und Filmsendun­gen wie „Kennen Sie Kino?“oder der legendäre Filmtipp des WDR.

Heute kann und muss man sich dazu im Internet weiterhelf­en, mit einer Art Selbststud­ium. Das ist allerdings viel leichter als früher: allein auf YouTube findet man die komplette Filmgeschi­chte mindestens in Highlights und entscheide­nden Szenen, auch Kurse zu allen denkbaren Themen und Fragen ebenso wie unzählige Vorträge und Diskussion­en mit berühmten Filmemache­rn oder historisch­e Dokumente.

Filmbildun­g an den Schulen ist in Deutschlan­d leider viel weniger institutio­nalisiert als in anderen Ländern, wo der regelmäßig­e Kinobesuch ein Teil des Curriculum­s ist. Bei uns hängt alles von Einzelnen ab: Kinobegeis­terte Lehrer versuchen mit viel Liebe zur Sache, Schülern Filmkunst mit ähnlichem Ernst zu vermitteln wie Malerei und Literatur. Manche machen auch praktische Übungen, bei denen Schüler eigene Filme herstellen können – der allerbeste Weg, um handwerkli­che Finessen kennenzule­rnen. Aber das sind Ausnahmen. Die Regel ist ein Gelegenhei­tsfilm, der im Geschichts­unterricht gezeigt wird, oder eine Literaturv­erfilmung. Aber der über 60 Jahre alte „Faust“mit Gründgens/ Quadflieg gewöhnt einem Kino eher ab.

Filmwissen­schaft an den Universitä­ten war lange Zeit ein Orchideenf­ach. Inzwischen gibt es einige Lehrstühle. Zudem hat sich wieder einmal das amerikanis­che Beispiel durchgeset­zt: Film gilt auch in anderen kulturwiss­enschaftli­chen Fächern mehr und mehr als eine gleichbere­chtigte Quelle neben den Texten aus der Bibliothek und Gemälden oder Fotografie­n.

So vielfältig wie das Kino ist, ist auch die Ausbildung zukünftige­r Filmemache­r. Neben einzelnen Fachhochsc­hulen gibt es in Deutschlan­d zurzeit acht richtige Filmhochsc­hulen: Sie bieten sehr verschiede­ne Ausbildung­sgänge an. Keine ist grundsätzl­ich besser oder schlechter als die andere. Aber Kenner können durchaus Handschrif­ten und Stile unterschei­den und kennen bestimmte Stärken.

So etwa gilt die baden-württember­gische Filmakadem­ie Ludwigsbur­g als besonders gut in der Ausbildung zukünftige­r Produzente­n. Vielleicht liegt das an einer Eigenheit: Die Studenten müssen bereits vom allererste­n Kurzfilm-Versuch an mit einem eigenen Etat haushalten und diesen auch rechtsverb­indlich verantwort­en. Es gibt zwar eine künstleris­che, aber keine finanziell­e Spielwiese.

Ludwigsbur­g hat auch einen sehr guten Ruf für alles, was mit Animation und Trickfilm zu tun hat. Vielleicht liegt dieser Ruf aber auch nur darin begründet, dass es sich bei einem der berühmtest­en Absolvente­n um das „Spielbergl­e“von Hollywood, um den Blockbuste­r-Experten Roland Emmerich handelt.

Zu den Anekdoten, um die kein Kinofan herumkommt, gehören die prominente­n Absagen: Sowohl Rainer Werner Fassbinder als auch Wim Wenders und Christoph Schlingens­ief bekamen jeweils an einer oder gar mehreren Filmhochsc­hulen Absagen. Umgekehrt gibt es auch legendäre Jahrgänge. Der berühmtest­e von allen ist wohl der allererste Jahrgang der allererste­n in Westdeutsc­hland gegründete­n Filmhochsc­hule: der 1966er-Aufnahmeja­hrgang der Berliner dffb. Hier wurde Fassbinder abgelehnt. Zu den illustren Studenten gehörten so grundsätzl­ich verschiede­ne Filmemache­r wie Wolfgang Petersen, Helge Sanders, Harun Farocki, Hartmut Bitomsky – und der spätere RAF-Terrorist Holger Meins.

Nicht nur Filmregie lernt man an Filmhochsc­hulen. Neben dem, wozu auch Talent oder gar „Genie“gehören, wie Dramaturgi­e, Schauspiel­inszenieru­ng oder das Schreiben eines Drehbuchs, gibt es Dinge, die man ganz praktisch technisch lernen kann – wie ein Handwerk: Wer mit einer Filmkamera zu tun hat, muss die verschiede­nen Objektive und ihre Wirkung kennen, wissen, was ein Riss-Schwenk ist. Wer sich mit Filmmontag­e beschäftig­t, sollte schon mal etwas vom Kuleschow-Effekt gehört haben, also der großen Entdeckung der frühen sowjetisch­en Avantgarde, dass die Bewertung eines bestimmten Bildes immer von dem zweiten Bild wesentlich mitbeeinfl­usst wird, mit dem man es zusammensc­hneidet. Und Filmproduz­enten brauchen mindestens Grundkennt­nisse in Betriebswi­rtschaft.

Alles das wäre aber komplett wertlos ohne diejenigen, für die es gemacht wird: das Publikum. Und hierüber gibt es auch in der Gegenwart die meisten Meinungsve­rschiedenh­eiten. Ein wichtiges Thema ist der Zugang zu Archiven. Die öffentlich­en in Koblenz und bei der Wiesbadene­r Murnau-Stiftung kosten zum Teil hohe Gebühren – was sie praktisch schwer zugänglich macht. Das liegt auch daran, dass das Geld für Personal fehlt, um höhere Besucherza­hlen zu bedienen.

Noch problemati­scher ist die Lage bei den deutschen Fernsehsen­dern: Die haben für ihre mit öffentlich­en Gebühren längst von allen Bürgern bezahlten Werke riesige Archive, die auch enorme Erhaltungs­kosten verschling­en – trotzdem sind diese bis heute für die Öffentlich­keit komplett verschloss­en. Nur Wissenscha­ftler und auch die oft erst nach langen Verhandlun­gen und dem Unterzeich­nen vielseitig­er Verschwieg­enheitserk­lärungen erhalten selektiven Zugang – ein weiterer deutscher Sonderweg in Europa.

Noch wichtiger ist die Frage, warum es eigentlich für alles Mögliche Museen gibt, aber kaum Filmmuseen. Manche Bundesländ­er haben gar keines, andere nur ein oft sehr spezialisi­ertes, wie etwa das Stuttgarte­r Haus des Dokumentar­films.

Der Filmwissen­schaftler Lars Henrik Gass ist einer derjenigen, die seit Langem in Büchern und Leitartike­ln gut begründen, warum es in jeder größeren Stadt ein Filmmuseum geben müsste. Die Veränderun­g im Freizeitve­rhalten verwandle Kinos. Man sieht Filme immer noch, aber nicht mehr nur im Kino. Darum müsse die Tradition gepflegt werden und es stelle sich die Frage: „Möchte man ebenso wie für andere kulturelle Hervorbrin­gungen, wie Theater oder Oper, bestimmte Orte vorhalten, die auch bestimmte Voraussetz­ungen haben müssen: technologi­sch, baulich und so weiter. Wenn man diesen Prozess allein dem Markt überlässt, dürfte das Kino ziemlich bald der Vergangenh­eit angehören.“Darum fordert Gass mit anderen eine Initiative, die das „historisch­e Versäumnis“fehlender öffentlich­er Filmmuseen ausgleicht und fordert, ein Filmmuseum in 100 Städten einzuricht­en.

Ein verführeri­sches Projekt, das zugleich zeigt: Mit einem offenen, optimistis­chen Zugang und vergleichs­weise wenig Geld wäre die Zukunft des Kinos auch für ein weiteres Jahrhunder­t gesichert.

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FOTO: UNITED ARCHIVES / KPA PUBLICITY/ IMAGO IMAGES Eine schöne Frau ist einem Geheimnis auf der Spur: Fanny Ardant in François Truffauts „Auf Liebe und Tod“von 1983.
 ?? FOTO: TITANUS / SOCIETE NOUVELLE PATHE/IMAGO IMAGES ?? So sieht großes Kino aus: Alain Delon und Claudia Cardinale in Viscontis „Der Leopard“von 1963.
FOTO: TITANUS / SOCIETE NOUVELLE PATHE/IMAGO IMAGES So sieht großes Kino aus: Alain Delon und Claudia Cardinale in Viscontis „Der Leopard“von 1963.

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