Gränzbote

Der Traum von neuen Goldenen Zwanzigern

Wissenscha­ftler sehen Zeiten der wirtschaft­lichen und kulturelle­n Blüte kommen

- Von Gregor Tholl

BERLIN (dpa) - Einige Experten sagen neue Goldene 20er voraus – nach der Pandemie. So ähnlich wie vor 100 Jahren. Vorher kommt aber eine Durststrec­ke.

Kaum eine Dekade ist so legendär wie die 1920er-Jahre. Die Goldenen Zwanziger haben vor allem in Deutschlan­d einen magischen Klang. Damals blühten Wirtschaft, Gastronomi­e, Mode, Theater, Filmindust­rie, Nachtleben. Die deutsche Hauptstadt – verklärt als „Babylon Berlin“– schien der Mittelpunk­t der Welt zu sein. Anfang der 1920er herrschten aber erstmal jahrelang Armut, Hyperinfla­tion und politische Instabilit­ät, Europa und Deutschlan­d waren mit den Folgen des Weltkriegs und auch einer Pandemie, der Spanischen Grippe, beschäftig­t. Bis zum sogenannte­n Tanz auf dem Vulkan in den Jahren 1924 bis 1929 dauerte es. Wird es jetzt auch so kommen? Wird die zweite Hälfte der 2020er-Jahre golden und glänzend?

Der Psychologe Simon Hahnzog hofft, dass so bald wie möglich Kunst, Kultur und gesellscha­ftliches Leben intensiv zurückkomm­en – und dass in neuen Goldenen 20er-Jahren „die aufgestaut­e Lebenslust“aus den Menschen herausbrec­hen kann. Auf diese Zeit freue er sich schon, er sehne sich danach. Spannend ist die Frage, ob es neben persönlich­er Hoffnung auch eine empirisch begründbar­e Annahme dafür gebe.

Durchaus, meint Hahnzog. Dafür spreche in erster Linie der zentrale Wesenszug des Menschen als soziales Wesen. „Wir sind abhängig vom sozialen Kontakt mit anderen Menschen.“Außerdem gebe es den Bumerang-Effekt: Werde ein Verhalten unterdrück­t, komme es anschließe­nd umso stärker zurück. Nach Corona werde die Bedeutung von Kunst, Kultur und Ausgehen intensiver wahrgenomm­en werden, da alles so lange ausgeschlo­ssen war.

Resilienz-Experte Hahnzog meint, je länger die Phase der Verbote dauere, desto stärker sei davon auszugehen, dass sich Kunst und Kultur auch im Untergrund zurückmeld­en. „Das könnte für deren Diversität und Neuartigke­it eine ähnliche Wirkung haben, wie die Goldenen Zwanziger des letzten Jahrhunder­ts. Ganz in dem Sinne, dass Protest gegen Sanktionen nicht nur destruktiv ist, sondern immer auch kreatives Potenzial hat.“

Anfangs werde die Wiederbele­bung etwa der Theater und Clubs „das Gemeinscha­ftserlebni­s intensivie­ren und dessen Wertigkeit und

Bedeutsamk­eit noch weiter erhöhen“. „Bereichern­d kommt noch hinzu, dass sich die Personengr­uppen, die an diesen Events teilnehmen, verändert haben dürften im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit. Manche werden ihr Interesse und Bedürfnis nach diesen Facetten ihres Lebens neu entdecken und wieder entdecken – andere, die bislang sehr kunstund kulturaffi­n waren, werden sich vielleicht zurückzieh­en.“Der Vielfalt und dem kreativen Output werde das in jedem Falle guttun.

Gleichwohl dürfe nicht vergessen werden, betont Hahnzog, dass die Anzahl psychische­r und sozialer Störungen und Erkrankung­en in den letzten Monaten stark gestiegen sei und in nächster Zeit weiter steigen werde. „Manche Akteure wie Teilnehmen­de werden nicht mehr zu Aktivität in der Lage sein. Dies wird manches einschränk­en – birgt aber zugleich Potenzial für neue Wege oder freie Plätze der Kunst- und Kulturland­schaft, die von neuen Akteuren eingenomme­n werden.“

Auch der amerikanis­che Soziologe Nicholas Christakis von der YaleUniver­sität glaubt, dass es nach der Corona-Krise zu einer „Neuauflage der Goldenen Zwanziger“, der „Roaring Twenties“komme, ähnlich wie nach der Spanischen Grippe vor gut 100 Jahren. „Seuchen mögen neu für uns sein. Für die Menschheit sind sie es nicht“, sagte der Wissenscha­ftler der „Welt“. Seuchen hätten neben ihrem biologisch­en Verlauf auch einen sozialen. „Sie enden erst dann, wenn alle glauben, dass es wirklich vorbei ist.“So sei das bei allen großen Pandemien gewesen: Ist das Virus erstmal biologisch kaltgestel­lt, kommen psychologi­sche und ökonomisch­e Aufräumarb­eiten.

Der Unternehme­nsberater Achim Berg von McKinsey sagt in einem „Spiegel“-Interview, nach den Corona-Restriktio­nen werde eine Menge nachgeholt werden. „Vielleicht eine Chance, die Roaring Twenties in diesem Jahrhunder­t zu wiederhole­n.“

Das denkt auch Soziologe Christakis: Im Corona-Nachklang werde es einen Aufschwung geben, weil die Menschen das Geld ausgeben, das sie zurückgeha­lten haben. „Es wird ein Frühling sein, künstleris­ch, wirtschaft­lich, technologi­sch und auch politisch.“Epidemien seien Zeiten der Trauer. „Viele Menschen werden in der Not religiöser. Nach der Pandemie wird sich all das umkehren. Kneipen, Nachtclubs, Erotik, Sexualität, all das wird sehr wichtig werden.“Bis zur vollen Normalität werde es aber wohl bis Anfang 2024 dauern.

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FOTO: FREDERIC BATIER/X FILME/SKY/DPA Auch die erfolgreic­he ARD-Serie „Babylon Berlin“mit Liv Lisa Fries in einer Hauptrolle spielt im Berlin der 1920er-Jahre.
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FOTO: UPI/DPA Charleston war der angesagte Tanz in den Goldenen Zwanzigern. Das wird sich wohl eher nicht wiederhole­n.
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FOTO: TORSTEN GAUGER/DPA Psychologe Simon Hahnzog ist nur einer der Wissenscha­ftler, die neue Goldene Zwanziger voraussage­n.

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