„Sechs Milliarden Menschen müssen geimpft werden“
Biontech-Aufsichtsratschef Helmut Jeggle über mutige Mainzer und ihr Forscherglück – Er hofft auf das Ende der Pandemie in 18 Monaten
RAVENSBURG - Im Herzen ist Helmut Jeggle dann doch zu sehr Oberschwabe, als dass er den Erfolg von Biontech zu sehr hervorheben würde. Ganz kann der Aufsichtsratschef des Mainzer Pharma-Unternehmens seine Freude über das Erreichte allerdings nicht zurückhalten: Immerhin hat es der Biotech-Spezialist geschafft, innerhalb eines Jahres einen Impfstoff gegen das Coronasvirus zu entwickeln und so der Menschheit die Hoffnung gegeben, die Pandemie in absehbarer Zeit zu besiegen. Im Interview mit Benjamin Wagener redet der zurückhaltende Biberacher über das Wagnis Impfstoff-Entwicklung, die Kritik an der Einkaufspolitik und die Diskussion um die Impfpflicht.
Wann ist die Pandemie besiegt?
Das wird schrittweise besser werden, ich rechne mit 18 Monaten, bis wir das Virus vollständig in den Griff bekommen. Dafür müssen rund sechs Milliarden Menschen geimpft werden. Eine andere Herausforderung haben wir bereits mit der Entwicklung des Impfstoffes bewältigt, hoffentlich folgen bald weitere Impfstoffe mit einer Zulassung. Wir organisieren jetzt das Hochfahren der Produktionskapazität und den weltweiten Transport. Aber wenn wir auf Deutschland schauen, werden gerade schon mehr Menschen täglich geimpft, als sich Menschen täglich infizieren.
Biontech hat die Wirksamkeit des gefundenen Impfstoffes mit 95 Prozent angegeben, bestätigen die weiteren Forschungen den hohen Wirkungsgrad?
Ja, alle bisherigen Untersuchungen haben dieses Ergebnis bestätigt. Das ist ein sehr großer Erfolg.
Wirkt das Vakzin auch gegen Mutationen des Coronavirus?
Im Labor haben wir eine Schlüsselmutation, die im Vereinigten Königreich und Südafrika aufgetreten ist, sowie das Spike-Protein der Variante aus dem Vereinigten Königreich generiert. Und das Ergebnis unserer Versuche deutet darauf hin, dass unser Impfstoff auch gegen diese Mutationen wirkt. Aufgrund der bisherigen Untersuchungen gehen wir davon aus, dass die Impfwirkung nicht beeinträchtigt ist.
In Norwegen haben zuletzt Behörden beim Impfen mit dem Biontech-Vakzin vor Risiken für kranke Patienten über 80 Jahren gewarnt. Welche Nebenwirkungen gibt es bei Ihrem Impfstoff?
Bislang ähneln die Nebenwirkungen jenen von anderen Impfungen, selten sind allergische Schocks bei Menschen vorgekommen, die in dieser Sicht vorbelastet sind. Wir wissen von den Berichten aus Norwegen. Die norwegische Gesundheitsbehörde hat bestätigt, dass es keine Hinweise auf einen direkten Zusammenhang zwischen den Todesfällen und der Impfung gibt. Wir untersuchen die Fälle gemeinsam mit unserem Partner Pfizer weiter. Bis zu den Meldungen war uns nichts Ähnliches bekannt – und da hatten immerhin schon mehr als zehn Millionen Menschen unsere Impfung erhalten.
Lassen Sie sich impfen?
Ich werde mich impfen lassen, gar keine Frage. Ich kenne den CEO Ugur Sahin schon lange und vertraue ihm und den Daten vollkommen – 95 Prozent Wirksamkeit aus einer klinischen Studie mit mehr als 44 000 Probanden sprechen für sich. Nun liegt es an jedem von uns, sich und andere vor dem Virus zu schützen, sobald wir geimpft werden können.
Um die Pandemie zu besiegen, bräuchten wir je zwei Dosen des Biontech-Impfstoffs für sechs Milliarden Menschen. Wie viele Impfdosen produziert Biontech 2021?
In Summe planen wir, zwei Milliarden Impfdosen zu produzieren. Und deshalb liegt es auch nicht in unserem Interesse, der alleinige Hersteller zu sein. Entscheidend für den weiteren Kampf gegen die Pandemie ist, wann weitere Impfstoffe auf den Markt kommen. Zwei weitere Hersteller könnten in den kommenden Wochen die Zulassung für ihre Vakzine erhalten.
Biontech hat im Herbst eine Novartis-Produktion in Marburg übernommen, wann kann Ihr Unternehmen die Produktion des Impfstoffes dort aufnehmen?
Wir hoffen, dass wir im Februar die Produktionserlaubnis bekommen und die Produktion danach hochfahren. Dann dauert es vier Wochen, bis wir die zusätzlichen Dosen ausliefern können. Auch dieser Umbau wäre dann in Lichtgeschwindigkeit absolviert. Was viele nicht wissen, normalerweise dauert solch ein Umbau ein bis zwei Jahre. Bei uns wären es sechs Monate. Wir planen, im ersten Halbjahr 2021 noch 250 Millionen Dosen fertigzustellen. Das ist schon eine enorme Menge.
Die Europäische Arzneimittelbehörde EMA hat entschieden, dass Ärzte aus einer Ampulle Ihres Impfstoffes nicht fünf, sondern sechs Dosen ziehen können. Darauf kündigte Pfizer an, weniger Ampullen auszuliefern. Nun gibt es Kritik, weil nicht alle Ärzte wirklich aus einer Ampulle sechs Impfdosen ziehen können. Wie werden Sie das Problem lösen?
Hier kommen zeitlich zwei Effekte zusammen, die in der Sache unabhängig voneinander sind. Da im Normalfall in der Spritze genügend Impfstoff für eine sechste Dosis ist, war es ein gemeinsames bestreben mit der EMA, die Zulassung auf die sechste Dosis zu erweitern, um Impfstoff, der momentan knapp ist, verfügbar zu machen. Die Produktionsreduktion bei Pfizer war notwendig, um der Anforderung nach mehr Impfstoff in kurzer Zeit gerecht zu werden. Deshalb wird für nächste Woche die ursprünglich geplante Auslieferung um 40 Prozent reduziert, was aber mit der Auslieferung der darauf folgenden Wochen wieder überkompensiert wird. Sobald es mehr Impfstoffflaschen gibt, werden auch wieder mehr geliefert.
Biontech hat das Rennen um das erste Vakzin gewonnen, der Impfstoff von Moderna kam danach, der deutsche Wettbewerber Curevac wird erst in den kommenden Monaten fertig sein. Warum waren Sie die Schnellsten?
Dass wir am Ende die schnellsten waren, hat auch etwas mit Glück zu tun, aber vor allem mit gründlicher Planung und Durchführung. Zwischendurch sah es ja so aus, dass Astra-Zeneca zuerst auf den Markt kommen würde. Wir haben von Anfang an viele Dinge parallel geplant. Während die Studien der Phase 3 noch liefen, haben wir für die spätere Produktion schon Rohstoff bestellt und Leute ausgebildet. Das sind Dinge, die man normalerweise nicht macht, bevor der Erfolg in den klinischen Studien feststeht. Wir sind diese Risiken eingegangen, weil wir einen Beitrag zum Ende der Pandemie leisten wollten.
Was bedeutet dieser Erfolg für Biontech?
Uns bedeutet der Erfolg zum einen sehr viel, weil wir bei einer Pandemie, die ein globales Problem ist, mit einem guten Produkt eine Lösung bieten. Das ist ein wesentlicher Punkt. Und das sollte auch die Aufgabe von Pharma-Unternehmen sein: Den Menschen wirksame Produkte auf mRNA Basis zur Verfügung zu stellen. Mit dieser Technologie arbeiten wir auch an Krebsmedikamenten und Therapien gegen MS, HIV und Tuberkulose.
Warum kommen diese Erfolge bei der Entwicklung von Impfstoffen nicht von den „Big Pharma“-Kon
zernen, sondern von kleinen Biotech-Unternehmen?
Diese Erfolge beruhen auf der innovativen mRNA-Technologie, die vor allem von jungen Biotech-Unternehmen vorangetrieben wurde. Und wenn man ein bis dahin unbekanntes Virus mit einer neuen Technologie bekämpfen will, dann ist ein kleines, wendiges Forschungsunternehmen besser geeignet, als ein großer Konzern.
Warum brauchte Biontech/Pfizer chinesischen Konzern Fosun als Partner?
Die Partnerschaft mit China kam durch Kontakte von Ugur Sahin zu dem wissenschaftlichen Leiter von Fosun zustande. Wir haben so sehr früh Erkenntnisse über das Virus aus China bekommen. Zum anderen hatten wir vor einem Jahr nicht das Geld und Vertriebsnetzwerk und brauchten Partner. Deshalb haben Pfizer und Fosun auch beide in Biontech investiert. Außerdem hätten wir ohne die Infrastruktur von Pfizer die klinische Studie der Phase 3 mit 44 000 Probanden nicht so schnell und gut organisieren können.
Warum haben Sie in Pfizer einen amerikanischen Partner gewählt – Kritiker hätten gerne eine europäische oder deutsche Lösung gesehen?
Wir denken global. Wir hatten mit Pfizer bereits ein Entwicklungsprogramm für einen Grippeimpfstoff laufen. Die Teams im Bereich Infektionskrankheiten kannten sich und haben Grundlagenarbeit bereits absolviert. Das gab den Ausschlag. Bei so einem Projekt brauchen wir Leute, die schnell entscheiden. Das ist bei Pfizer der Fall.
Die Kosten für die beiden Impfdosen von Biontech/Pfizer, die jeder für eine Immunisierung benötigt, liegen in Deutschland zwischen 30 und 40 Euro. Wie hoch wird der Gewinn sein, den Biontech mit seinem Impfstoff erzielt? Und wie teilen Sie sich den Gewinn mit Pfizer?
Die Preise sind nicht überall gleich, sie unterscheiden sich von Land zu Land und hängen auch von der Menge ab, die jedes Land bestellt hat. Die Marge – ganz ehrlich – die ist im Moment für uns ganz schwer zu kalkulieren, denn im Moment ist die Welt nicht normal. Roh- und Hilfsstoffe sind gerade ein sehr knappes Gut, die
Preise sehr volatil. Klar ist, dass unsere Partnerschaft mit Pfizer JointVenture-Charakter hat: Wir teilen Umsatz und Kosten.
Beim Einkauf der Vakzine hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn auf eine europäische Lösung gesetzt. War das richtig?
Das war meines Erachtens absolut richtig. Wenn wir in Europa die Situation hätten, dass die Menschen in einem Staat geimpft wären und in einem anderen nicht, wäre das Problem nicht gelöst. Die Grenzen müssten geschlossen bleiben, und der Rest des Kontinents läge weiter auf der Intensivstation. Wir müssen Verantwortung übernehmen für Europa und darüber hinaus auch für Staaten, die sich vielleicht nicht allein gegen eine solche Krise stemmen können.
Was halten Sie von der Kritik an Spahn?
Eine globale Pandemie ist nicht das Thema eines Landes. Es geht darum, dass wir bis Oktober so viele Menschen wie möglich geimpft haben werden – unabhängig von einzelnen Staatsgrenzen. Dabei hat zum einen jeder einzelne die Verantwortung, sich zu schützen. Zum anderen müssen wir gemeinsam dafür sorgen, dass es über die Produktion und Logistik überall die Möglichkeit gibt, sich impfen zu lassen. So verstehe ich die Erläuterung von Herrn Spahn, und ich sehe es ähnlich.
Die SPD, die als Koalitionspartner der CDU die Impfstrategie mitgetragen hat, sieht das anders. Sie hat Spahn einen Katalog mit vielen kritischen Fragen vorgelegt.
Was soll ich sagen, nach der Messe ist man immer klüger. Natürlich hätten wir uns aufgrund der generierten Daten zu einem früheren Zeitpunkt mehr Aufmerksamkeit und Vertrauen gewünscht, aber wir sollten nach vorne schauen und an Lösungen arbeiten. Die mRNA-Technologie war im vergangenen Sommer noch für manche unbekannt. Die politisch Verantwortlichen mussten sich einfach die Frage stellen, warum soll eine kleine Biotech-Firma aus Mainz schneller einen besseren Impfstoff haben als etablierte Pharmakonzerne. Und was hätten die Kritiker gesagt, wenn Spahn nur bei uns bestellt hätte – und wir am Ende nicht so schnell gewesen wären.
Die Äußerungen von BiontechChef Ugur Sahin über die angeblich zögerlichen Impfstoff-Bestellungen der EU haben die Debatte noch einmal angeheizt. „Offenbar herrschte der Eindruck: Wir kriegen genug, es wird alles nicht so schlimm, und wir haben das unter Kontrolle“, sagte Sahin. „Mich hat das gewundert.“Was hat er damit gemeint?
Nach meinem Verständnis war sein Punkt, dass er sich über die allgemeine Sorglosigkeit gewundert hat, als im Sommer die Infektionszahlen gesunken sind und niemand mehr richtig an die zweite Welle geglaubt hat. Er war beunruhigt, weil er wusste, dass die Infektionszahlen im Herbst wieder steil ansteigen werden.
Viele Bürger sind verunsichert, weil der Impfstoff so schnell entwickelt wurde. Wie soll die Bundesregierung auf diese Ängste reagieren?
Das geht nur über Transparenz und Offenheit. Wir müssen die Leute aufklären und sie so mitnehmen. Und dazu gehört vor allem, genau zu erläutern, wie sicher der Wirkstoff ist. Denn die Ängste resultieren daraus, dass doch etwas passieren könnte.
Befürworten Sie eine Impfpflicht?
Nein, zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Das wäre das Falsche, weil wir den Bürgern ihre Mündigkeit zugestehen müssen. Möglicherweise ist die Situation im Herbst eine andere, wenn sich Hunderte von Millionen Menschen haben impfen lassen und wir signifikante Zahlen haben, die belegen, wie sicher der Impfstoff ist. In der aktuellen Situation muss man aufklären und auch die neue mRNA-Technik bis ins letzte Detail erläutern.
Sollen Geimpfte sofort nach der Impfung ihre grundrechtlichen Einschränkungen zurückerhalten?
Ich halte die Diskussion in der aktuellen Situation für schlecht, weil wir aufgrund der Impfstoffmenge und der Infrastruktur noch nicht jedem Menschen die Möglichkeit geben können, sich impfen zu lassen. Aber von dem Tag an, wenn theoretisch jeder die Möglichkeit hat sich impfen zu lassen, ist die Debatte zu führen, weil wir jedem wieder ein normales Leben ermöglichen müssen.
Der Impfstoff von Biontech – wie auch der von Moderna und CureDer Erfolg von Biontech beruht auf den Forschungen von Ugur Sahin und Özlem Türeci. Doch ohne Investoren wie die Hexal-Gründer Thomas und Andreas Strüngmann hätten Türeci und Sahin ihre Ideen nicht entwickeln können. Wie haben die Mediziner die Strüngmanns überzeugt?
Vor Biontech haben die Strüngmanns schon in die Vorgängerfirma von Sahin und Türeci investiert. Doch da ging es nur um ein einziges Medikament auf Basis von Antikörpern. Sie wollten aber nicht nur ein Medikament entwickeln. Wir waren begeistert von der Art und Weise, wie Sahin und Türeci Wissenschaft betreiben. Nach einer Präsentation saßen wir zu siebt am Tisch und beschlossen, die Projekte auf mRNA Basis nachhaltig zu finanzieren.
Zu wie viel Prozent waren Sie überzeugt, dass die Technik funktioniert?
Das war ein sehr hohes Risiko bei der Gründung von Biontech. Man muss sich aber immer vor Augen halten, dass es bei technologischen Investments neben operativen Herausforderungen und externen Faktoren wie Gesetzgebung und Regulatorik auch immer ein hohes Sachrisiko gibt: Die Natur kann auch einfach dagegen spielen. Bei all diesen unternehmerischen Themen und dazugehörigem Mut und Einsatz gehört am Schluss auch ein wenig Glück dazu.