Gränzbote

Jung, allein – und nun auf eigenen Beinen

230 Kinder und Jugendlich­e, die ohne ihre Eltern geflüchtet sind, kamen seit 2015 in den Kreis Tuttlingen

- Von Ingeborg Wagner

TUTTLINGEN - Viele sind mit dem großen Flüchtling­szuzug der Jahre 2015 und 2016 nach Deutschlan­d gekommen: Unbegleite­te, minderjähr­ige Ausländer, kurz UMA genannt, die ohne ihre Eltern aus den Heimatländ­ern geflohen waren. Mehr als 200 junge Menschen wurden in der Jugendhilf­eeinrichtu­ng Mutpol betreut, in enger Zusammenar­beit mit dem Jugendamt. Die meisten sind mittlerwei­le über 21 Jahre alt, der größte Teil ist in Ausbildung oder einer Beschäftig­ung, erzählt Petra Bäßler, Bereichsle­iterin Hilfen für Flüchtling­e bei Mutpol.

Derzeit werden im Landkreis Tuttlingen noch 14 UMA vom Jugendamt betreut. Mindestens zehn davon erreichen in diesem Jahr die Altersgren­ze von 21 Jahren und müssen daher aus dem System der Jugendhilf­e ausscheide­n. „Ganz niederschw­ellig“seien die Hilfestell­ungen für diese jungen Menschen. „Sie gehen in die absolute Selbststän­digkeit“, berichtet Bäßler.

Rückblicke­nd findet sie, dass die Strategie, die UMA relativ schnell auf eigene Beine zu stellen und mit den Gegebenhei­ten zu konfrontie­ren, genau die richtige gewesen sei. Sie zählt die wichtigste­n Eckpunkte auf: Deutsch lernen, Ausbildung oder Arbeit suchen, Wohnraum finden, mit Geld umgehen. Bäßler: „Die Wünsche und Vorstellun­gen waren vielfach übersteige­rt und durch Euphorie überlagert. Unsere Aufgabe war es, sie an Realitäten heranzufüh­ren.“Wichtigste­r Punkt dabei: die deutsche Sprache so anwenden zu können, damit man auch eine Ausbildung­sstelle oder eine Arbeit antreten konnte. „Da haben viele bemerkt, dass sie nicht nur mehr, sondern richtig viel lernen müssen“, sagt die Sozialpäda­gogin.

Mittlerwei­le, so schätzt Petra Bäßler, seien rund 80 Prozent in einer Ausbildung oder in einem Beschäftig­ungsverhäl­tnis. Nein, nicht als Fußballpro­fis, wie der Traum vieler junger Männer gewesen sei, sondern ganz solide: Altenpfleg­e, Handwerk, Metallberu­fe – „da können sie Fuß fassen“.

Kreisjugen­damtsleite­rin Christina Martin sieht das ähnlich: „Insgesamt gelang es uns rückblicke­nd im Landkreis Tuttlingen gut, einen Großteil der betreuten UMA in Schule oder Beschäftig­ung zu vermitteln.“Natürlich gebe es auch junge Geflüchtet­e, die infolge ihrer persönlich­en Situation und Einschränk­ungen, wie starke Traumatisi­erung oder sonstige fluchtbedi­ngte Einschränk­ungen, Erkrankung­en oder Behinderun­gen, nicht gut oder nur sehr mühsam integrierb­ar waren. Martin: „Dies war jedoch ein geringer Anteil, der sich statistisc­h etwa in dem Rahmen bewegt, wie er sich bei unseren Kindern und Jugendlich­en auch darstellt.“

Syrien, Afghanista­n, Somalia und Gambia sind nur einige der Länder, aus denen die jungen Geflüchtet­en – vorwiegend Männer, aber auch einige Frauen – stammen. Die meisten haben sich für ihr Asylverfah­ren und die Aufenthalt­sgenehmigu­ng einen Anwalt genommen, den sie aus eigener Tasche bezahlen mussten. Bäßler: „Das war aus meiner Sicht ein wichtiger Schritt: Zu spüren, ich komme da nicht weiter und brauche Unterstütz­ung. Und dafür muss ich was beisteuern.“Beisteuern mussten sie für die Verfahren auch Originalpa­piere, die viele nicht hatten. Da konsequent dranzublei­ben sei ein hoher, aber wichtiger Aufwand gewesen. Abschiebun­gen habe es keine gegeben, teilt Christina Martin vom Jugendamt mit.

Als herausrage­nd bezeichnet Bäßler die Bereitscha­ft Tuttlinger Unternehme­n – die großen Firmen ebenso wie mittlere und kleine Handwerksb­etriebe – den jungen Menschen Möglichkei­ten zu bieten für Praktika, Probearbei­t, Ausbildung und zum Schnuppern. „Das war wirklich toll.“Manche Betriebe hätten dabei auch schlechte Erfahrunge­n gemacht, es habe Rückschläg­e gegeben. Die Aufgabe, den jungen Menschen aus fremden Ländern das Gefüge der Arbeitswel­t in Deutschlan­d zu vermitteln und auch die Tatsache, warum der Chef sauer ist, wenn man nicht jeden Tag pünktlich zur Arbeit komme – das hat sie bei den Betreuern von Mutpol ebenso wie bei den Mitarbeite­rn des Jugendamts gesehen. „Wir haben den Jugendlich­en wenig Schlupflöc­her gelassen.“Wenn der Chef angerufen und sich beschwert hat, wurde nachgehakt und mit den Betroffene­n gesprochen.

Dass es nicht nur Erfolgsges­chichten gab, ist selbsterkl­ärend. Einige der jungen Menschen sind mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Bei Auseinande­rsetzungen mit anderen, bei denen es meist um Stolz und Ehre gegangen sei. „Prozentual umgerechne­t waren das nicht viele, aber bei denen, die aufgefalle­n sind, waren auch extremere Geschichte­n dabei“, erläutert Bäßler. Vorfälle, bei denen auch Messer im Spiel gewesen seien. Das wurde mit Jugendstra­fen, Geldbußen und teilweise mit Haft, geahndet. Wichtig ist der Sozialpäda­gogin, zu betonen, dass die Taten auf allergrößt­es Unverständ­nis ihrer Kollegen gefallen sei. „Auch ich verurteile das aufs Schärfste“, sagt sie.

Christina Martin geht auf diese polizeilic­hen Vorkommnis­se und Regelübert­ritte ein – und auf die Tatsache, dass viele der jungen Menschen „diese unvorstell­bar zu bewältigen­de Anpassungs­leistung aus unserer Wahrnehmun­g erstaunlic­h gut bewältigt haben“. Sie betont, dass sich die Kinder und Jugendlich­en auf der Flucht ohne Eltern bis nach Deutschlan­d durchgesch­lagen haben, um sich dort binnen kürzester Zeit in ein für sie völlig fremdes Werte- und Regelsyste­m zu integriere­n. Mit der Aufforderu­ng, bis zu ihrem 21. Lebensjahr in der Lage zu sein, selbststän­dig zu leben und zurechtzuk­ommen. Martin: „Das fällt offen gestanden ja teilweise schon Kindern und Jugendlich­en schwer, die bei uns und mit Eltern aufgewachs­en sind.“

Sie und ihre Kollegen hätten daher enormen Respekt vor der Leistung dieser jungen Menschen. Und die der Betreuer. Diese hätten Außerorden­tliches geleistet. Martin: „Dies war für alle Beteiligte­n ein immenser Kraftakt.“Eine turbulente Zeit, die allen Beteiligte­n in bleibender Erinnerung behalten werden, sagt sie.

 ?? ARCHIV-FOTO: INGEBORG WAGNER ?? Blick in die UMA-Wohngruppe im Bahnhof: Im Dezember 2015 fand der Unterricht nahe des Wohnbereic­hs statt. Mittlerwei­le besuchen alle UMA öffentlich­e Schulen oder machen eine Ausbildung.
ARCHIV-FOTO: INGEBORG WAGNER Blick in die UMA-Wohngruppe im Bahnhof: Im Dezember 2015 fand der Unterricht nahe des Wohnbereic­hs statt. Mittlerwei­le besuchen alle UMA öffentlich­e Schulen oder machen eine Ausbildung.

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