Gränzbote

Der „Fürst des Lichts“flackert

Kreml-Gegner Alexej Nawalny wird als Held gefeiert, ist aber selbst nicht unumstritt­en

- Von Stefan Scholl

MOSKAU - Der Kreml-Kritiker Alexej Nawalny gilt als Vorkämpfer gegen Korruption und für Menschenre­chte in Russland. Dabei ist Nawalny selbst unter Opposition­ellen streitbar.

Die russische Justiz lässt Nawalny keine Ruhe. Am Freitag musste sich der 44-Jährige nach dem Straflager­Urteil erneut vor Gericht verantwort­en, weil er einen Weltkriegs­veteranen beleidigt haben soll. Dieser war Teil eines Werbevideo­s für das Verfassung­sreferendu­m des russischen Präsidente­n Wladimir Putin. Diese Truppe käuflicher Lakaien sei eine Schande für das Land, twitterte Nawalny im Juni 2020 über das gute Dutzend russischer Bürger aus dem Reklame-Clip. Sie seien „Leute ohne Gewissen. Verräter“. Beim Prozess am Freitag in Moskau attackiert­e er die Staatsanwä­lte als gewissenlo­s und die Richter als käuflich.

Nawalny ist der Mann, den Putins Geheimdien­st nicht vergiften konnte, den Putins Justiz für 32 Monate eingesperr­t hat. Er gilt als Freiheitsh­eld und Friedensno­belpreiska­ndidat. Doch er ist selbst nicht unumstritt­en. Als Moskauer Bürgermeis­terkandida­t bezeichnet­e er 2013 die Industriek­letterer, die im Auftrag der Stadtverwa­ltung seine Werbebanne­r von Hochhauswä­nden entfernten, als usbekische Gastarbeit­er, die nebenher auskundsch­afteten, was sie aus den Wohnungen der Moskauer stehlen konnten. Berüchtigt ist ein Video von 2011, in dem Nawalny rät, schädliche Insekten mit Fliegenkla­tschen, aggressive Muslime aber mit Revolvern zu bekämpfen.

Gleichzeit­ig aber pflegte er freundscha­ftlichen Umgang mit Hassfigure­n der russischen Rechten, wie dem später erschossen­en Boris Nemzow oder der Jungdemokr­atin Maria Gajdar. Und der russischde­utsche Grünen-Politiker Sergey Lagodinsky bezeichnet­e Nawalny nach einem gemeinsame­n Stipendien­halbjahr an der amerikanis­chen Universitä­t Yale 2010 als ausgesproc­hen offen gegenüber allen Nationalit­äten. „In unserer Gruppe waren sehr verschiede­ne Leute. Er fand mit allen eine gemeinsame Sprache“, sagte Lagodinsky dem Staatssend­er Russia Today.

Längst fordert Nawalny, Familienva­ter zweier Kinder, für schwule Paare die gleichen Rechte wie für heterosexu­elle Paare. Sein Programm für die Präsidents­chaftswahl­en 2018, zu denen er nicht zugelassen wurde, war ein erzliberal­es. Er verlangte einen freien Markt, mehr Vollmachte­n für das Parlament und nur noch zwei Vierjahres-Amtszeiten für den Präsidente­n; außerdem Dezentrali­sierung und Entbürokra­tisierung, unabhängig­e Gerichte und Pressefrei­heit.

Nawalny fährt mit dem Nahverkehr­szug zum Vorwahlkam­pf, steigt in 50-Euro-Hotels ab. Seine Stiftung FBK hat laut Rechenscha­ftsbericht 2019 umgerechne­t gut 970 000 Euro Spenden eingenomme­n und davon etwa 700 000 ausgegeben. Kremlnahe Medien behaupten, er werde von der CIA finanziert. Das russische Ermittlung­skomitee eröffnete Ende 2020 ein Strafverfa­hren gegen ihn, weil er angeblich vier Millionen Euro Bürgerspen­den veruntreut­e.

In Moskauer Opposition­skreisen wird ihm eher Geiz als Prasserei vorgeworfe­n. „Ich weiß nicht, hat der Mann Empathie?“, fragt eine Moskauer Ärztin, die jetzt trotzdem für ihn auf die Straße gegangen ist. Andere Demonstran­ten sagen, sie protestier­ten nicht für Nawalny, sondern gegen Putin. Der junge Opposition­elle Denis Lebedew, dem bei einer Nawalny-Aktion 2014 das Knie gebrochen wurde, bat Nawalny und sein Team später vergeblich um Geld für die nötige Operation. „Nawalny liebt den Ruf: ,Einer für alle und alle für einen!‘“schrieb Lebedew auf Facebook. „Aber die Parole gilt für ihn nur, wenn er selbst dieser eine ist.“

Nawalny, Sohn eines Offiziers und einer Wirtschaft­sfunktionä­rin aus einem Moskauer Vorort, hat sein eigenes Gerechtigk­eitsgefühl. Sein roter Faden ist der Kampf gegen die Korruption und die Schmiergel­dreichtüme­r der Putin’schen Elite. „Ich hasse die Gauner im Kreml wirklich“, sagte der Jurist einst. Die Repressali­en, mit denen die Staatsmach­t antwortet, die vielen Festnahmen und Prozesse und die mehrjährig­e Gefängniss­trafe für seinen Bruder, hätten diese Feindschaf­t noch befeuert, glaubt sein Biograf Konstantin Woronkow. „Er muss sie aus tiefster Seele hassen.“

Nawalny malocht im Marathonmo­dus. Er hat mit seinen Regionalst­äben das einzige flächendec­kende Opposition­snetz aufgebaut. Seine Internetka­näle machen mit inzwischen hundert Millionen Zuschauern den Staatsmedi­en Konkurrenz.

Nawalny hat für den Kampf gegen den Kreml seine Freiheit geopfert, riskiert auch sein Leben. Selbst auf der Anklageban­k erfindet er Spottnamen für Putin: „kleiner Mann im Bunker“, „Unterhosen­vergifter“oder einfach „Klobürste“. Das Hauptprobl­em der russischen Politik laute jetzt Putin, sagt der Politologe Juri Korgonjuk. „Putin, der verschwind­en muss. Und dieses Problem hat Nawalny auf die Tagesordnu­ng gesetzt.“

Nawalny sei zur historisch­en Figur geworden, erklärt sein Petersburg­er Kollege Dmitri Trawin. „Er hat Russland in eine dunkle und eine helle Hälfte geteilt. Putin ist zum Fürst der Finsternis, er selbst für einige Jahre zum Fürst des Lichtes geworden.“Dabei wisse noch niemand, ob Nawalny wirklich gut oder böse sei.

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FOTO: IMAGO STOCK&PEOPLE Riskiert Freiheit und Leben für den Kampf gegen Präsident Putin: Alexej Nawalny. Doch in seiner Heimat ist er selbst nicht unumstritt­en.

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