Gränzbote

Die Seuche und die Ungerechti­gkeit

Im Angesicht des Virus seien alle gleich, die Gesellscha­ft rücke näher zusammen. Völliger Unsinn: Corona offenbart die Ungleichhe­iten noch viel stärker.

- Von Erich Nyffenegge­r

Dieses ganze Gerede von einer Bedrohung, die uns alle gleich macht, sodass wir jetzt alle zusammenst­ehen müssten – es hat schon ganz am Anfang nicht gestimmt. Denn es war damals im März 2020 schon ein Unterschie­d, ob sich jemand bei einer Champagner-Runde zu 250 Euro die Flasche in Ischgl angesteckt hat. Oder beim Putzen im Pflegezimm­er eines Patienten mit Covid-19, weil es noch nicht ausreichen­d Schutzausr­üstung gab. Und darüber hinaus noch keiner wusste, was denn überhaupt wie und mit welchen Mitteln genau schützt. Ganz davon abgesehen, dass die stets bemühten Experten vom Robert-Koch-Institut in den ersten Wochen der Pandemie durch ihre Aussage, Masken nützten wenig oder womöglich gar nicht ein gutes Stück selbst zur Eskalation der Lage beigetrage­n haben. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.

Es gibt in dem nach und nach entstanden­en Corona-Betrachtun­gs-Universum Positionen, die tatsächlic­h etwas mit Meinung zu tun haben. Etwa, ob man persönlich der Meinung ist, dass die Öffnung von Restaurant­s bei Einhaltung eines strengen Abstands- und Hygeneregi­mes möglich sein kann. Oder das Skifahren. Und dann gibt es da noch Phänomene, die zwar verschiede­n beurteilt werden können, deren faktische Existenz aber nicht zu leugnen ist: etwa den Keil der Ungerechti­gkeiten, den Corona durch die Weltgemein­schaft treibt, und zwar noch tiefer als sonst. Und den Blick auf unfaire Ungleichhe­iten lenkt, die in unserer angeblich so modernen, aufgeklärt­en und fortschrit­tlichen Gesellscha­ften bislang verniedlic­ht worden sind – jetzt aber vermehrt offen aufbrechen und es im Moment schwierige­r wird, sie zu ignorieren. Auch, weil sie solidarisc­hes Engagement schwächen und den Egoismus fördern.

Ungerechti­gkeit gab es schon vor der Pandemie. Nur bringen die Umstände im Gefolge von Corona diese Ungerechti­gkeiten zur Eskalation. Das beginnt bei der banalen Feststellu­ng, dass es natürlich die Frauen sind, die im Lockdown den Laden am Laufen halten und die Lasten zu ihren Ungunsten verteilt sind. So sind die Mütter in den überwiegen­den Fällen die erste Anlaufstat­ion für ihre Kinder beim Distanzunt­erricht, während sich die Mehrzahl der Herren der Schöpfung in möglichst störungsfr­eie Räume mit ihrem HomeOffice zurückzieh­en. Und im Gegensatz zu sogenannte­n normalen Zeiten wird ein solches Gefälle im Alltag des Familienle­bens noch einmal viel deutlicher. Dass das so richtig sei, rechtferti­gen manche Männer ganz selbstvers­tändlich damit, dass ihre Frauen ja auch mehr Zeit hätten. Schließlic­h eröffne Kurzarbeit in Teilzeit mehr „Freizeit“für die Frauen. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Sozialverb­ände nach einem Jahr die deutliche Zunahme von Gewalt in Familien konstatier­en – und diese Gewalt ist fast ausschließ­lich männlich.

Dass Ungerechti­gkeiten aus unterschie­dlichem Engagement erwachsen, zeigt sich beim Homeschool­ing selbst. Da gibt es nämlich vereinzelt Lehrer, die sich besonders während der ersten Lockdown-Phase im Vorjahr durch konsequent­es Untertauch­en hervorgeta­n haben. Leute, die das dringende Gebot zum Distanzunt­erricht als so eine Art PädagogenS­onderfreiz­eit missversta­nden haben. Und die die Distanz so weit getrieben haben, dass Schüler und Eltern in bestimmten Fächern nachfragen mussten, ob dieses Unterricht­sangebot jetzt ganz ausgefalle­n sei. Klar – damals war alles neu, alle waren überforder­t – aber es hat nicht lange gedauert, bis sich die Unterschie­de grell offenbart haben zwischen den Leuten, die alles daran setzten, damit es zunächst auch mit rudimentär­en Mitteln irgendwie weitergeht, und Kräften, die zwei Wochen überlegen mussten, ob es für sie statthaft ist, sich überhaupt via E-Mail ansprechen zu lassen. Dieses Verhalten ist natürlich eine grobe Ungerechti­gkeit gegenüber jenen Lehrerinne­n und Lehrern, die sich sprichwört­lich ein Bein dafür ausreißen, den Kontakt zu ihren Schülern zu halten. Die sich die neuen Vermittlun­gsformen von Wissen angeeignet haben, ohne dabei auf die Uhr zu schauen. Und bei denen dann das Band zwischen den Schülern auch nicht gerissen, sondern sogar vereinzelt fester geworden ist. Mit viel Galgenhumo­r lässt sich dieser Digitalisi­erungsstau vielleicht noch als Luxusprobl­em abtun. Obwohl bildungsfe­rne Schichten, die ihren Kindern zum Beispiel mangels eigener Sprachkenn­tnisse in schulische­n Dingen kaum beizustehe­n in der Lage sind, darüber sicher nicht lachen können. Existenzie­lle Fragen stellen sich in Bezug auf Menschen, die sowieso schon wenig haben – und miterleben, dass die, die viel haben, unter der Krise bis jetzt zumindest finanziell nicht zu leiden haben. Und da muss man nicht in die ärmsten Regionen der Erde reisen zu Menschen, die trotz aller Beteuerung­en gewiss nicht schnell und flächendec­kend mit Impfungen versorgt werden, sondern natürlich zuletzt drankommen werden. Auch bei uns gibt es Schieflage­n. Ein Beispiel: Leute, die das Glück haben, ihr Einkommen durch Vermietung­en von Wohnungen sicherzust­ellen, werden von Mietern in vollem Umfang weiter finanziert. Deren Einkünfte wiederum sind etwa durch Kurzarbeit deutlich beschnitte­n. Mit ihrem Kurzarbeit­ergeld fließen staatliche Transferle­istungen mittelbar an Menschen, deren Vermögen, das in ihren Immobilien steckt, allein durch den immer knapper werdenden Wohnraum der letzten Jahre zum Teil sehr stark gewachsen ist. Man muss kein Marxist sein, um das unausgewog­en zu finden. Vermögende können freilich nichts dafür, dass sie in dieser Weise schadlos gehalten werden. Jeder politische Ansatz, die Lasten der Krise wenigstens ein bisschen gerechter auch auf starke Schultern zu verteilen, stößt nicht nur bei der FPD auf erbosten Widerstand und wird sogleich in die linke Ecke gestellt. Ein bisschen so, wie es die Republikan­er in den USA tun, indem sie den Demokraten unterstell­en, eine sozialisti­sche Diktatur errichten zu wollen, nur weil sie für eine breiter zugänglich­e Krankenver­sicherung eintreten.

Das Ungerechti­gkeitsfass der Beschäftig­ten in der Pflege machen wir an dieser Stelle besser gar nicht erst auf, oder nur ein bisschen. Denn warum jemand, der einen alten Menschen vom Bett zur Toilette bewegt, meist nur einen Bruchteil von der Summe verdient, die jemand bekommt, wenn er Geld von einem Konto zum anderen bewegt, muss man nicht verstehen. Auch wenn es schön wäre, jemand versuchte es wenigstens mal. Wirtschaft­swissensch­aftler begründen solche Ungleichge­wichte mit unterschie­dlicher Wertschöpf­ung. Und die sieht halt bei der Arbeit, die jemand in einen Demenzkran­ken jenseits der 80 investiert, ökonomisch isoliert betrachtet nicht ganz so toll aus. Und solange wir die Wertschöpf­ung nur in Euro oder Dollar messen, kann die Anerkennun­g solcher Dienste am Mitmensche­n über das Balkonklat­schen hinaus im Wert auch nicht wirklich stärker anerkannt werden.

Und wie weiter? Gibt es vielleicht einen reinigende­n Effekt – und damit womöglich eine positive Wirkung, die hinter all dem Elend der Corona-Krise steckt? Eventuell dahingehen­d, dass wir jetzt stärker sensibilis­iert sind durch die offen zutage tretenden Ungleichge­wichte? Die Hoffnung darauf ist durchaus gering. Viel wahrschein­licher ist der gesellscha­ftliche Jo-Jo-Effekt: Sind die mageren CoronaZeit­en erst ein bisschen verdaut, langen wir wieder voll zu beim Kostenmini­mieren und Gewinnmaxi­mieren im Gesundheit­swesen.

Dabei schreit diese Zeit förmlich danach, die Krisengewi­nner endlich an die Kandare zu nehmen. Die ganzen Apples, Amazons und Googles, deren Erträge noch einmal mehr ins Märchenhaf­te gestiegen sind. Corona legt auch hier den Finger ganz besonders in die klaffende Wunde der Steuerunge­rechtigkei­t, wenn solche Konzerne es schaffen, ihre Abgabenlas­t bei uns bis zur Lächerlich­keit zu minimieren. Weil die Gesetzgebu­ng es zulässt. Eigentlich ein Weckruf für die Politik, endlich auf EU-Ebene gemeinsam ein scharfes Schwert zu schmieden, um diesen gordischen Knoten aus labyrinthi­sch verschlung­enen Schlupflöc­hern zu zerschlage­n. Es ist das Naheliegen­de. Mit jedem Tag, an dem die Krise länger dauert, können wir uns solche Ungerechti­gkeiten immer weniger leisten. Denn sie untergrabe­n die Fundamente einer Gesellscha­ft und treiben den Mittelbau an die politische­n Ränder. Wie destabilis­ierend das wirkt, zeigen die USA, wo trotz vier Jahren Trump 70 Millionen Menschen verbittert genug waren, ihn als offen auftretend­en Anti-Demokraten wieder zu wählen.

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