Die Seuche und die Ungerechtigkeit
Im Angesicht des Virus seien alle gleich, die Gesellschaft rücke näher zusammen. Völliger Unsinn: Corona offenbart die Ungleichheiten noch viel stärker.
Dieses ganze Gerede von einer Bedrohung, die uns alle gleich macht, sodass wir jetzt alle zusammenstehen müssten – es hat schon ganz am Anfang nicht gestimmt. Denn es war damals im März 2020 schon ein Unterschied, ob sich jemand bei einer Champagner-Runde zu 250 Euro die Flasche in Ischgl angesteckt hat. Oder beim Putzen im Pflegezimmer eines Patienten mit Covid-19, weil es noch nicht ausreichend Schutzausrüstung gab. Und darüber hinaus noch keiner wusste, was denn überhaupt wie und mit welchen Mitteln genau schützt. Ganz davon abgesehen, dass die stets bemühten Experten vom Robert-Koch-Institut in den ersten Wochen der Pandemie durch ihre Aussage, Masken nützten wenig oder womöglich gar nicht ein gutes Stück selbst zur Eskalation der Lage beigetragen haben. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.
Es gibt in dem nach und nach entstandenen Corona-Betrachtungs-Universum Positionen, die tatsächlich etwas mit Meinung zu tun haben. Etwa, ob man persönlich der Meinung ist, dass die Öffnung von Restaurants bei Einhaltung eines strengen Abstands- und Hygeneregimes möglich sein kann. Oder das Skifahren. Und dann gibt es da noch Phänomene, die zwar verschieden beurteilt werden können, deren faktische Existenz aber nicht zu leugnen ist: etwa den Keil der Ungerechtigkeiten, den Corona durch die Weltgemeinschaft treibt, und zwar noch tiefer als sonst. Und den Blick auf unfaire Ungleichheiten lenkt, die in unserer angeblich so modernen, aufgeklärten und fortschrittlichen Gesellschaften bislang verniedlicht worden sind – jetzt aber vermehrt offen aufbrechen und es im Moment schwieriger wird, sie zu ignorieren. Auch, weil sie solidarisches Engagement schwächen und den Egoismus fördern.
Ungerechtigkeit gab es schon vor der Pandemie. Nur bringen die Umstände im Gefolge von Corona diese Ungerechtigkeiten zur Eskalation. Das beginnt bei der banalen Feststellung, dass es natürlich die Frauen sind, die im Lockdown den Laden am Laufen halten und die Lasten zu ihren Ungunsten verteilt sind. So sind die Mütter in den überwiegenden Fällen die erste Anlaufstation für ihre Kinder beim Distanzunterricht, während sich die Mehrzahl der Herren der Schöpfung in möglichst störungsfreie Räume mit ihrem HomeOffice zurückziehen. Und im Gegensatz zu sogenannten normalen Zeiten wird ein solches Gefälle im Alltag des Familienlebens noch einmal viel deutlicher. Dass das so richtig sei, rechtfertigen manche Männer ganz selbstverständlich damit, dass ihre Frauen ja auch mehr Zeit hätten. Schließlich eröffne Kurzarbeit in Teilzeit mehr „Freizeit“für die Frauen. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Sozialverbände nach einem Jahr die deutliche Zunahme von Gewalt in Familien konstatieren – und diese Gewalt ist fast ausschließlich männlich.
Dass Ungerechtigkeiten aus unterschiedlichem Engagement erwachsen, zeigt sich beim Homeschooling selbst. Da gibt es nämlich vereinzelt Lehrer, die sich besonders während der ersten Lockdown-Phase im Vorjahr durch konsequentes Untertauchen hervorgetan haben. Leute, die das dringende Gebot zum Distanzunterricht als so eine Art PädagogenSonderfreizeit missverstanden haben. Und die die Distanz so weit getrieben haben, dass Schüler und Eltern in bestimmten Fächern nachfragen mussten, ob dieses Unterrichtsangebot jetzt ganz ausgefallen sei. Klar – damals war alles neu, alle waren überfordert – aber es hat nicht lange gedauert, bis sich die Unterschiede grell offenbart haben zwischen den Leuten, die alles daran setzten, damit es zunächst auch mit rudimentären Mitteln irgendwie weitergeht, und Kräften, die zwei Wochen überlegen mussten, ob es für sie statthaft ist, sich überhaupt via E-Mail ansprechen zu lassen. Dieses Verhalten ist natürlich eine grobe Ungerechtigkeit gegenüber jenen Lehrerinnen und Lehrern, die sich sprichwörtlich ein Bein dafür ausreißen, den Kontakt zu ihren Schülern zu halten. Die sich die neuen Vermittlungsformen von Wissen angeeignet haben, ohne dabei auf die Uhr zu schauen. Und bei denen dann das Band zwischen den Schülern auch nicht gerissen, sondern sogar vereinzelt fester geworden ist. Mit viel Galgenhumor lässt sich dieser Digitalisierungsstau vielleicht noch als Luxusproblem abtun. Obwohl bildungsferne Schichten, die ihren Kindern zum Beispiel mangels eigener Sprachkenntnisse in schulischen Dingen kaum beizustehen in der Lage sind, darüber sicher nicht lachen können. Existenzielle Fragen stellen sich in Bezug auf Menschen, die sowieso schon wenig haben – und miterleben, dass die, die viel haben, unter der Krise bis jetzt zumindest finanziell nicht zu leiden haben. Und da muss man nicht in die ärmsten Regionen der Erde reisen zu Menschen, die trotz aller Beteuerungen gewiss nicht schnell und flächendeckend mit Impfungen versorgt werden, sondern natürlich zuletzt drankommen werden. Auch bei uns gibt es Schieflagen. Ein Beispiel: Leute, die das Glück haben, ihr Einkommen durch Vermietungen von Wohnungen sicherzustellen, werden von Mietern in vollem Umfang weiter finanziert. Deren Einkünfte wiederum sind etwa durch Kurzarbeit deutlich beschnitten. Mit ihrem Kurzarbeitergeld fließen staatliche Transferleistungen mittelbar an Menschen, deren Vermögen, das in ihren Immobilien steckt, allein durch den immer knapper werdenden Wohnraum der letzten Jahre zum Teil sehr stark gewachsen ist. Man muss kein Marxist sein, um das unausgewogen zu finden. Vermögende können freilich nichts dafür, dass sie in dieser Weise schadlos gehalten werden. Jeder politische Ansatz, die Lasten der Krise wenigstens ein bisschen gerechter auch auf starke Schultern zu verteilen, stößt nicht nur bei der FPD auf erbosten Widerstand und wird sogleich in die linke Ecke gestellt. Ein bisschen so, wie es die Republikaner in den USA tun, indem sie den Demokraten unterstellen, eine sozialistische Diktatur errichten zu wollen, nur weil sie für eine breiter zugängliche Krankenversicherung eintreten.
Das Ungerechtigkeitsfass der Beschäftigten in der Pflege machen wir an dieser Stelle besser gar nicht erst auf, oder nur ein bisschen. Denn warum jemand, der einen alten Menschen vom Bett zur Toilette bewegt, meist nur einen Bruchteil von der Summe verdient, die jemand bekommt, wenn er Geld von einem Konto zum anderen bewegt, muss man nicht verstehen. Auch wenn es schön wäre, jemand versuchte es wenigstens mal. Wirtschaftswissenschaftler begründen solche Ungleichgewichte mit unterschiedlicher Wertschöpfung. Und die sieht halt bei der Arbeit, die jemand in einen Demenzkranken jenseits der 80 investiert, ökonomisch isoliert betrachtet nicht ganz so toll aus. Und solange wir die Wertschöpfung nur in Euro oder Dollar messen, kann die Anerkennung solcher Dienste am Mitmenschen über das Balkonklatschen hinaus im Wert auch nicht wirklich stärker anerkannt werden.
Und wie weiter? Gibt es vielleicht einen reinigenden Effekt – und damit womöglich eine positive Wirkung, die hinter all dem Elend der Corona-Krise steckt? Eventuell dahingehend, dass wir jetzt stärker sensibilisiert sind durch die offen zutage tretenden Ungleichgewichte? Die Hoffnung darauf ist durchaus gering. Viel wahrscheinlicher ist der gesellschaftliche Jo-Jo-Effekt: Sind die mageren CoronaZeiten erst ein bisschen verdaut, langen wir wieder voll zu beim Kostenminimieren und Gewinnmaximieren im Gesundheitswesen.
Dabei schreit diese Zeit förmlich danach, die Krisengewinner endlich an die Kandare zu nehmen. Die ganzen Apples, Amazons und Googles, deren Erträge noch einmal mehr ins Märchenhafte gestiegen sind. Corona legt auch hier den Finger ganz besonders in die klaffende Wunde der Steuerungerechtigkeit, wenn solche Konzerne es schaffen, ihre Abgabenlast bei uns bis zur Lächerlichkeit zu minimieren. Weil die Gesetzgebung es zulässt. Eigentlich ein Weckruf für die Politik, endlich auf EU-Ebene gemeinsam ein scharfes Schwert zu schmieden, um diesen gordischen Knoten aus labyrinthisch verschlungenen Schlupflöchern zu zerschlagen. Es ist das Naheliegende. Mit jedem Tag, an dem die Krise länger dauert, können wir uns solche Ungerechtigkeiten immer weniger leisten. Denn sie untergraben die Fundamente einer Gesellschaft und treiben den Mittelbau an die politischen Ränder. Wie destabilisierend das wirkt, zeigen die USA, wo trotz vier Jahren Trump 70 Millionen Menschen verbittert genug waren, ihn als offen auftretenden Anti-Demokraten wieder zu wählen.