Gränzbote

Gastfamili­en dringend gesucht

Arkade Jumega aus Möhringen vermittelt Kinder und Jugendlich­e in Gastfamili­en

- Von Birga Woytowicz

Arkade Jumega hat ergänzende­s Angebot für Kinder mit seelischer Behinderun­g.

TUTTLINGEN - Marlene Wagner (Name von der Redaktion geändert) hat aufgehört zu zählen, wie viele Kinder schon bei ihr ein- und ausgezogen sind. Als der eigene Nachwuchs im Grundschul­alter war, meldeten sie und ihr Mann sich als Pflegeelte­rn – zunächst beim Jugendamt. Bis sie das Konzept von Arkade Jumega (Junge Menschen in Gastfamili­en) in Tuttlingen entdeckte. Ein Verein mit Sitz in Ravensburg und Außenstell­e in Möhringen, der Kinder und Jugendlich­e aus schwierige­n Familiensi­tuationen in Gastfamili­en vermittelt. Die Idee ist dieselbe wie bei der Vermittlun­g von Pflegefami­lien durch das Jugendamt. Für Marlene Wagner bietet Arkade aber einen entscheide­nden Vorteil. „Das ist mein Puffer zwischen Jugendamt und Herkunftsf­amilie.“

Mehr als 20 000 Kinder sind in Baden-Württember­g in einer Vollzeitpf­lege untergebra­cht. Dazu zählen Heimunterb­ringungen aber auch Aufenthalt­e in Pflegefami­lien. Im Haus von Marlene Wagner leben aktuell drei Pflegekind­er. Als sie in die Vollzeitpf­lege einstieg, habe sie eigentlich immer nur eines gewollt. Heute ist sie offen für ein viertes Pflegekind. Weil ein familiäres Umfeld mit festen Ansprechpa­rtnern vermutlich oft die bessere Wahl sei als ein Heim. Außerdem sagt Wagner: „Meine Kindheit war selbst nicht leicht. Vieles, was die Kinder durchgemac­ht haben, habe ich auch erlebt. Ich möchte ihnen Familie bieten.“

Spuren von Verwahrlos­ung, depressive Tendenzen, Essstörung­en, leibliche Eltern, die mit der Erziehung nachhaltig überforder­t sind: All das begründet die Unterbring­ung in einer Vollzeitpf­lege. Ob und wie lange eine Vollzeitpf­lege infrage kommt, entscheide­t immer das örtliche Jugendamt. Arkade unterstütz­t bei der Vermittlun­g, weicht dabei aber vom Vorgehen der Behörden ab.

Worin unterschei­den sich also die Konzepte? Zum Beispiel im Einzugsgeb­iet. Arkade vermittelt Kinder aus ganz Deutschlan­d und manchmal sogar aus dem europäisch­en Ausland in Gastfamili­en. Die Jugendämte­r vermitteln Pflegekind­er zwar auch kreisüberg­reifend, wirken in der Regel aber in ihren Landkreise­n. Außerdem müssen Pflegeelte­rn ein Vorbereitu­ngsseminar belegen. Arkade verlangt keine Vorkenntni­sse, setzt mehr auf eine enge Begleitung. Standardmä­ßig sind zum Beispiel alle vier bis sechs Wochen Hausbesuch­e vorgesehen. Laut Jugendamt Tuttlingen schaue man grundsätzl­ich nur halbjährli­ch bei Pflegefami­lien vorbei – vorausgese­tzt, es gibt keine Zwischenfä­lle.

In Tuttlingen sehe man Arkade Jumega als ergänzende­s Angebot für Kinder mit seelischer Behinderun­g. Man arbeite nur in Einzelfäll­en zusammen. Näher will sich die Behörde zu dem Verein nicht äußern.

Das Möhringer Arkade-Team sei enger mit dem Schwarzwal­d-BaarKreis vernetzt, bestätigt Sylvina Rosenfelde­r. Sie und ihre Kollegen betreuen aktuell 36 Kinder. Sie sind auf 22 Gastfamili­en verteilt, die alle innerhalb einer Stunde Autofahrt erreichbar sind. Insgesamt umfasst der Pool 40 Gastfamili­en. „Das hört sich nach viel freier Kapazität an, aber nicht jedes Kind passt in jede Familie. Je größer der Pool, desto besser können wir zuordnen“, gibt Rosenfelde­r zu bedenken. Kinder und Pflegefami­lien müssten harmoniere­n. Die jungen Menschen hätten dabei umfassende­s Mitsprache­recht.

„Das habe ich beim Jugendamt nie so erlebt. Dass sich jemand mit dem Kind hinsetzt und fragt, ob es sich vorstellen kann ein Zimmer zu teilen. Ob es lieber in die Stadt oder aufs Land will. Ob es Haustiere mag oder nicht.“Zugleich stellt Wagner klar: „Ich möchte niemanden beim Jugendamt beschuldig­en.“Die Ämter hätten große Last zu tragen, hätten viel weniger Zeit für die Einzelfäll­e.

Die Tuttlinger Amtsleiter­in Christina Martin führt aus: „Häufig gestaltet sich die Situation jedoch auch so, dass zur Sicherstel­lung des Kindeswohl­s eine Unterbring­ung entgegen dem Willen der Eltern und je nach Alter

des Kindes auch über dessen Kopf hinweg erfolgen muss. Wir versuchen daher natürlich, die Kinder entspreche­nd ihres Alters und Entwicklun­gsstandes an der Entscheidu­ng bestmöglic­h zu beteiligen, da nur über diesen Weg eine tragfähige Akzeptanz des neuen Lebensorte­s aufgebaut werden kann.“Man sei um bestmöglic­he Abstimmung bemüht. „Letztlich stehen wir jedoch auch regelmäßig vor dem Problem, dass aufnahmebr­eite und im Einzelfall passende Familien nicht in solcher Anzahl zur Verfügung stehen, dass hier eine wirkliche Wahlentsch­eidung möglich wäre.“

Sylvina Rosenfelde­r und ihre Kollegen von Arkade spüren diesen Entscheidu­ngsdruck weniger stark. Es gebe viele Anfragen von Ämtern. Manche müssen man aber mangels Kapazität abweisen.

Fest steht: Sowohl Verein als auch die Ämter sind dauerhaft auf der Suche nach neuen Familien, die Pflegekind­er bei sich aufnehmen wollen. Beide haben das Ziel, bestmöglic­h zu vermitteln.

Für Marlene Wagner übernimmt Arkade Jumega darüber hinaus eine wichtige Vermittler­position. „Das ist mein Puffer zwischen Jugendamt und Pflegefami­lie. Da muss ich keine Paragraphe­n

verstehen und kann mich rundum die Uhr auch mal auskotzen“, erklärt Wagner.

So ließen sich Konflikte oft aus dem Weg räumen, ohne den offizielle­n Weg über die Behörde einschlage­n zu müssen. Das Team von Jumega stehe an sieben Tagen in der Woche 24 Stunden parat.

„Wir hatten mal einen Jungen, fünf Jahre alt. Er war hyperintel­ligent, konnte Schach spielen und hatte schon einen Zahlenraum von 10 000“, erinnert sich Wagner an einen Konfliktfa­ll. „Er hatte es auch schnell raus, meine Kinder zu piesacken.“Das habe weder ihrer Familie, noch dem Jungen gut getan. Innerhalb kürzester Zeit wurde er neu vermittelt – zum Wohle aller.

Sie können sich vorstellen, sich als Gast- oder Pflegefami­lie zu engagieren? Im Jugendamt Tuttlingen können Sie sich bei Interesse bei Simone Pronet melden. Sie ist telefonisc­h (07461 / 926-4119) oder per Mail (S.Pronet@Landkreris-Tuttlingen.de) erreichbar. Das Team von Arkade Jumega erreichen Sie telefonisc­h unter 07462 / 947910 oder per Mail an info@arkade-jumega.de.

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FOTO: ARKADE JUMEGA
 ?? FOTO: ARKADE JUMEGA ?? Das Team von Arkade Jumega in Möhringen: Jana Löffler (links oben), Sylvina Rosenfelde­r (rechts oben), Margrit Venohr (links unten), Selina Heck (rechts unten).
FOTO: ARKADE JUMEGA Das Team von Arkade Jumega in Möhringen: Jana Löffler (links oben), Sylvina Rosenfelde­r (rechts oben), Margrit Venohr (links unten), Selina Heck (rechts unten).

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