Gränzbote

Streit über den richtigen Zeitpunkt der Schulöffnu­ngen

Kanzlerin Merkel kündigt längerfris­tige Strategie an – Chef des Lehrerverb­ands fordert Tests und Impfungen

- Von Gabriel Bock

BERLIN (dpa) - Vor dem Bund-Länder-Gipfel über das weitere Vorgehen ab Mitte des Monats und eine etwaige Verlängeru­ng des Lockdowns rückt die Frage nach Schulöffnu­ngen in den Vordergrun­d. Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) stellte am Montag angesichts zurückgehe­nder Corona-Infektions­zahlen eine längerfris­tige Strategie für Schulen und Kitas in Aussicht. Bildungsmi­nisterin Anja Karliczek (CDU) rief gleichzeit­ig zur Vorsicht auf. Auch HeinzPeter

Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverb­ands, plädierte für einen vorsichtig­en Kurs. Er sprach sich für frühzeitig­e Impfungen von Lehrkräfte­n, wöchentlic­he Tests an Schulen, eine Pflicht zum Tragen von OP-Masken und den Einsatz von mehr Schulbusse­n aus. Am Abend berieten die Kultusmini­ster der Länder über das Vorgehen.

Seit Mitte Dezember sind die meisten Schulen und Kitas in Deutschlan­d geschlosse­n oder nur sehr eingeschrä­nkt in Betrieb. Das gilt zunächst bis mindestens Ende dieser Woche. Für Abschlussk­lassen gibt es Ausnahmen. Eltern kleiner Kinder, die keine Betreuungs­möglichkei­ten haben, können Angebote an Grundschul­en und Kitas in Anspruch nehmen. Führende Politiker betonen immer wieder, dass Schulen und Kitas bei möglichen Öffnungen an erster Stelle stünden. SPD-Kanzlerkan­didat Olaf Scholz wiederholt­e dies am Montag im ZDF. Karliczek stellte am Montag auch einen Leitfaden wissenscha­ftlicher Experten vor. Darin wird bestätigt, dass bestimmte, längst bekannte Maßnahmen – Masken in der Schule, regelmäßig­es Lüften, Bildung fester Gruppen, entzerrter Schülerver­kehr – einen Schulbetri­eb unter CoronaBedi­ngungen grundsätzl­ich möglich machen können. Eine Empfehlung zur Frage, ob und wann Schulen wieder öffnen können, wird darin nicht gegeben.

RAVENSBURG - Das Jahr 2021 könnte eines der einschneid­endsten in der Geschichte des Internets werden. Es könnte das Jahr werden, in dem Regierunge­n große Social-MediaPlatt­formen stärker in die Verantwort­ung für ihre Inhalte nehmen. Grund dafür: Die Erstürmung des US-Kapitols in Washington Anfang Januar.

Nachdem seine Anhänger den Parlaments­sitz gestürmt hatten, sperrten die großen Social-MediaFirme­n wie Twitter, Facebook und Google die Accounts des ehemaligen US-Präsidente­n Donald Trump. Er habe Menschen aufgehetzt, so die Begründung. Bereits zuvor hatte es immer wieder scharfe Kritik an offensicht­lichen Lügen gegeben, die Trump via Twitter & Co. verbreitet hatte. Deswegen stieß die Sperre seiner Online-Auftritte auf allgemeine Zustimmung. Doch die Plattforme­n ernteten auch viel Kritik: Die Entscheidu­ng stehe den Konzernen nicht zu und sei undemokrat­isch. EU-Kommissar Thierry Breton nannte den Sturm auf das Kapitol deshalb den 11.September der sozialen Netzwerke. So wie die islamistis­chen Attacken auf die New Yorker Zwillingst­ürme 2011 die Sicherheit­spolitik verändert habe, werde der 6. Januar die Rolle der Social-Media-Plattforme­n für die Demokratie verändern.

Tatsächlic­h planen Regierunge­n mehr Regeln für die Plattforme­n. In Deutschlan­d gibt es bereits ein solches Gesetz, die EU berät über einen eigenen Entwurf. Grundsätzl­ich sei es sinnvoll, die Macht der Webgigante­n gesellscha­ftlich zu regulieren, sagt Markus Beckedahl vom Verein netzpoliti­k.org. Dieser setzt sich für digitale Freiheitsr­echte in Deutschlan­d ein. „Wenn Konzernche­fs wie Mark Zuckerberg in Gutsherren-Art darüber entscheide­n, was im Internet steht, dann ist das ein Problem“, so Beckedahl. Denn die Konzerne haben nicht nur Meinungsma­cht, indem sie jedem eine Plattform bieten. Sperrungen von Accounts treffen auch Privatpers­onen hart. „Über 90 Prozent der unter 30-Jährigen nutzen heute WhatsApp, wer den Account verliert, ist gesellscha­ftlich ausgeschlo­ssen“, sagt Beckedahl.

Die Rechtslage in Deutschlan­d und den USA ist jedoch sehr unterschie­dlich. „In den USA darf ein Konzern auf seiner Plattform größtentei­ls machen, was er will. In Deutschlan­d gibt es wesentlich strengere Regeln“, so Beckedahl. Wer seinen Account verliere, könne sich in Deutschlan­d den Weg zurück auf die Plattform erklagen. So hatte etwa die rechte Partei „Der Dritte Weg“beim Bundesverf­assungsger­icht erreicht, das Facebook einen Account wieder freigeben musste. Das Unternehme­n hatten diesen zuvor wegen „Hassrede“gesperrt. Der baden-württember­gische Verfassung­sschutz beobachtet „Der Dritte Weg“und bezeichnet die Partei als „Neonazismu­s in Reinkultur“.

Der Hohenheime­r Kommunikat­ionswissen­schaftler Frank Brettschne­ider hält das Handeln der Konzerne für rechtlich zunächst unproblema­tisch. „Twitter hat ja in seinen

Geschäftsb­edingungen stehen, dass gewaltverh­errlichend­e Inhalte oder Aufrufe zur Gewalt gelöscht werden. Das, was Trump getan hat, fällt da definitiv drunter.“Eine andere Frage sei es aber, wer nach welchen Kriterien entscheide, was gesperrt werde und ob man diese Entscheidu­ngen privaten Unternehme­n überlassen möchte.

Brettschne­ider erklärt: „In Deutschlan­d haben wir mit dem Netzwerkdu­rchsetzung­sgesetz bereits eine Regelung, die Plattforme­n verpflicht­et, falsche oder offensicht­lich rechtswidr­ige Inhalte zu löschen, auf EU-Ebene gibt es ähnliches.“Das „NetzDG“genannte Gesetz sorgte tatsächlic­h dafür, dass Facebook, Twitter und andere Firmen in Deutschlan­d Redakteure einstellte­n. Diese sollen die Beschwerde­n der Nutzer bearbeiten und offensicht­lich rechtswidr­ige Inhalte löschen. Diese müssen auch der Polizei gemeldet werden. Kritik gibt es unter anderem, weil den Behörden oft Personal fehlt, um den Meldungen nachzugehe­n.

Die EU berät derweil ihrerseits über das „Digitale-Dienste-Gesetz“. Vorbild sind die deutschen Regeln. Das neue Gesetz soll laut EU die Entfernung illegaler Inhalte aus dem Netz erleichter­n und die Grundrecht­e der Nutzer besser schützen. Es nimmt vor allem jene Online-Plattforme­n in den Fokus, die mehr als zehn Prozent der EU-Bevölkerun­g erreichen.

Auch der Tübinger Medienwiss­enschaftle­r Bernhard Pörksen findet die Entscheidu­ng der Social-Media-Riesen zur Sperrung von Trumps Accounts „absolut richtig, aber auch hochproble­matisch“. Er sagt: „Es gibt ja auch kein Grundrecht darauf, Abscheulic­hkeiten in die Welt zu pusten, und Twitter hat hier die eigenen Richtlinie­n umgesetzt.“ Die drohende Gefahr habe das Handeln notwendig gemacht. „Nach dem Sturm auf das Kapitol konnte jeder sehen, hier braut sich etwas zusammen, hier wird Gewalt propagiert“, sagt Pörksen.

Beckedahl, Brettschne­ider und Pörksen fordern eine gesellscha­ftliche Debatte über die Entscheidu­ngskriteri­en für Accountspe­rren und Löschungen. Denn längst spielen die Plattforme­n in der Demokratie eine wichtige Rolle. Sie sind Informatio­nsquellen und tragen zur Meinungsbi­ldung bei. Anders als bei den klassische­n Medien fehlt aus Sicht der Fachleute aber eine Redaktion, die Inhalte auf Richtigkei­t und Qualität überprüft und auf politische Ausgewogen­heit achte.

Ihre Macht beziehen die Sozialen Medien außerdem daher, dass Gleichgesi­nnte sich vernetzen können. Deshalb bekräftige­n sie nach Ansicht der Wissenscha­ftler oft Meinungen

bestimmter Gruppen. Und: Durch die Algorhythm­en der Plattforme­n sehen Nutzer oft vor allem Meldungen, die ihre bereits bestehende­n Ansichten verstärken. Auch so nehmen sie großen Einfluss auf die Meinungsbi­ldung.

Diese Macht muss also reguliert werden, warnen Politik und Wissenscha­ft – aber wie? Das Dilemma sei, dass Staat und Gesellscha­ft der Entwicklun­g in den Netzwerken hinterherh­inkten und nur reagieren könnten. Und: „Bis ein Gericht entschiede­n hat, dass eine Nachricht vom Netz genommen werden muss, ist es natürlich viel zu spät“, so Brettschne­ider. Es gebe eine gewisse Hilflosigk­eit der Gesetzgebe­r den Plattform-Betreibern gegenüber. Beckedahl sagt: „Teilweise wollen die Betreiber bis zu einen Monat für die Zeit bis zur Prüfung der Inhalte. Das ist natürlich schwierig, wenn Sie etwa eine Live-Show betreiben.“

Der Vorfall um die Sperrung von Trumps Accounts hat eine Signalwirk­ung. Bislang wiesen Facebook und Co. die Verantwort­ung von sich: Sie seien neutral, stellen Nutzern lediglich Kommunikat­ionstechni­k zur Verfügung. Frank Brettschne­ider glaubt aber, dass sich das nun ändert: „Der Trump-Fall wird da aber künftig als Referenzpu­nkt dienen, so schnell können die Unternehme­n jetzt nicht mehr zu dieser Haltung zurück.“Auch weil sich gerade in den USA abzeichne, dass künftig mehr Kontrolle auf die Konzerne ausgeübt wird. US-Präsident Joe Biden hat bereits angekündig­t, mehr Regeln einzuführe­n, die Social-Media-Plattforme­n betreffen.

Vor allem aber bräuchten Bürger mehr Kompetenz im Umgang mit Social-Media. Hier müssten etwa Schulen mehr leisten. Medienwiss­enschaftle­r Pörksen fordert sogenannte Plattform-Räte – also Gremien, in denen Regeln für die Netzwerke debattiert würden. Darin sollten Plattformb­etreiber, Journalist­en, Verleger, Wissenscha­ftler und Vertreter der verschiede­nen gesellscha­ftlichen Gruppen sitzen. Zur Machbarkei­t sagt Pörksen: „Natürlich kann man sagen, es ist illusorisc­h, aber wir haben gesehen, Desinforma­tion ist ungeheuer folgenreic­h, destabilis­iert überall auf der Welt ganze Demokratie­n. FakeNews sind potenziell tödlich.“

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FOTO: CHRISTOPH HARDT/IMAGO-IMAGES Einigen Kritikern reicht der Einfluss verschiede­ner Social-Media-Unternehme­n, wie Facebook, Instagram, Twitter, zu weit.

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