Zu schnell in der „Todeskurve von Aitrang“
Bei einem tragischen Bahnunglück im Ostallgäu starben vor 50 Jahren 28 Menschen – Augenzeugen beschäftigt der Unfall bis heute
Beschädigte Eisenbahnwaggons, die wie Spielzeug vom Bahndamm heruntergerutscht und auf einem Acker umgekippt sind. Feuerwehrleute, die in den Trümmern nach Überlebenden suchen. Schwere Kräne, die die Wracks anheben: Bilder und Filme, die nach dem Zugunglück am 9. Februar 1971 in der Nähe von Aitrang im Allgäu entstanden, haben von ihrem Schrecken nichts verloren. 28 Menschen starben an jenem Tag, als der Trans-Europ-Express „Bavaria“bei Tempo 132 in einer Kurve entgleiste, in der eine Höchstgeschwindigkeit von 80 Kilometern pro Stunde zugelassen war. 50 Jahre und unzählige Untersuchungen später ist noch immer unklar, warum sich die Tragödie an jenem Tag ereignete. Immer wieder stellt sich die Frage: Warum hat der aus Lindau stammende Lokführer nicht rechtzeitig gebremst? Menschliches Versagen? Ein technischer Defekt? Der eigentliche Grund wurde nie endgültig ermittelt.
Als der Lokführer den rot-cremefarben lackierten TEE an diesem Dienstag um 17.48 Uhr planmäßig aus dem Münchner Hauptbahnhof fährt, scheint alles in Ordnung zu sein. 53 Fahrgäste sind an Bord. Hinzukommen der Maschinist sowie der deutsche Zugbegleiter und das Personal im Speisewagen. In jenen Jahren wächst Europa zusammen, grenzüberschreitende, schnelle Luxuszüge sind Vehikel für diese politische und gesellschaftliche Entwicklung. Über Lindau soll der „Bavaria“nach Zürich rollen und dort um 21.55 Uhr ankommen.
Eine knappe Stunde später, um 18.44 Uhr, ist es bereits dunkel. Im Ostallgäu ist leichter Nebel aufgezogen. Die Anwohner von Aitrang (Landkreis Ostallgäu) zwischen Kaufbeuren und Kempten schrecken auf, als der vierteilige dieselelektrische Triebwagen, eine schweizerisch-holländische Konstruktion aus der Mitte der 1950er-Jahre, viel zu schnell den Bahnhof der 2000-Seelen-Gemeinde passiert. In der sich anschließenden engen Rechtskurve am Katzenberg, die in den Medien später nur „Todeskurve von Aitrang“genannt wird, geschieht das Unglück: Der Steuerwagen bricht nach links aus, holpert über das Gegengleis und kippt dann auf dem fast fünf Meter hohen Bahndamm um. Drei Zugglieder verkeilen sich ineinander. Der vierte Zugteil, die schiebende Lok, bleibt umgestürzt auf dem Gegengleis liegen.
Knapp fünf Minuten später prallt ein dreiteiliger Schienenbus, dessen Fahrer durch die Kurve und den Nebel in der Sicht behindert ist, trotz ausgelöster Notbremse auf die TEELok. Dabei werden der Lokführer und ein weiterer Fahrgast im Schienenbus
getötet. Sechs weitere werden verletzt.
26 Menschen sterben im TEE. Die Rettungskräfte bringen 42 Schwerverletzte ins Krankenhaus. Die hohe Zahl der Opfer erklärt sich auch daraus, dass die Fenster des TEE-Triebzuges anders als heute gefährlich splitterten. Ferner war das Mobiliar des Speisewagens nicht fest mit dem Fußboden verankert und Spiegel waren aus normalem Glas.
Eines der Opfer dieses seit zehn Jahren schwersten Unglückes der Deutschen Bundesbahn ist der 57 Jahre alte Hauptlokführer. Er ist ein erfahrener Mitarbeiter der Bahn, der die Strecke kennt und sie seit 20 Jahren befährt. Seit sechs Jahren steuert er jeden sechsten Tag den TEE „Bavaria“. Er weiß: Hinter dem Ausfahrtssignal Aitrang beginnt die Rechtskurve. In der Höhe des Bahnsteigs von Aitrang muss er mit dem Bremsen beginnen. Spätestens. Und der Lokführer bremst auch: Der Fahrdienstleiter in Aitrang bemerkt am Maschinenwagen bei der Vorbeifahrt Funken von den anschlagenden Bremsklötzen.
Doch warum ist der Zug immer noch so schnell, dass er in der Kurve entgleist? Die Spekulation, der Lokführer habe die Orientierung verloren, ist abwegig. Die Wochenzeitung
„Die Zeit“recherchiert damals ausgiebig: „Die Sicht war ausreichend, er sah also die vier Signale vor der Unglücksstelle: Vorsignal Einfahrt, Hauptsignal Einfahrt, Vorsignal Ausfahrt, Hauptsignal Ausfahrt. Zwischen Vor- und Hauptsignal liegen je tausend Meter, also 2000 Meter Strecke, bei 130 Kilometer pro Stunde knapp eine Minute Fahrzeit – zu lang, um zu träumen, und wenn, dann hätte den erfahrenen Bundesbahner das Geschaukel auf den Weichen von Aitrang aufgeweckt.“Dass der Mann auf der Lok einen Herzinfarkt erlitten haben könnte, schließen die Ermittler nach der Obduktion aus. Unbestätigt bleibt auch die Vermutung, dass die Bremsleitungen des Zuges defekt oder eingefroren waren.
Eduard Nieberle ist in seinem Elternhaus, 200 Meter neben der Unglücksstelle, und arbeitet in der Werkstatt, als der Zug entgleist. „Ich hörte einen dumpfen, lauten Knall, das war der Zusammenstoß mit dem Schienenbus“, erinnert er sich heute. Nieberle, damals 18, ist einer der Ersten, die Tote bergen und Überlebende ins Nachbarhaus bringen, wo ein erstes Notlazarett entsteht. „Zeit zu überlegen hat man da nicht“, sagt er. Die Toten werden in eine alte Turnhalle gebracht. Man versucht, sie zu identifizieren. Später übernehmen Soldaten das Bergen der Leichen.
Die Lage vor Ort ist schrecklich. Das wird klar, als Feuerwehrleute aus Marktoberdorf und Kaufbeuren die Einsatzstelle mit Notstromaggregaten ausleuchten. Tote liegen draußen und in den Trümmern, viele sind übel zugerichtet, erinnert sich der damalige Einsatzleiter des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK), Erwin Stockmaier aus Marktoberdorf. „Um Verletzte zu finden und zu priorisieren, sind ein Aitranger Arzt und ich durch die Waggons mit all den Leichen gekrochen.“Bei der Erinnerung kommen dem 78-Jährigen die Tränen. „Es war, als ob eine Bombe eingeschlagen hat.“
In den ersten Minuten sind mehr Helfer zur Stelle als nötig. Sie können, wie der junge Nieberle merkt, dennoch nicht jedem helfen. „Ein Lokführer war am Bein so eingeklemmt, dass wir ihn nicht herausbrachten. Er war aber bei Bewusstsein.“Die Erinnerung daran und an all’ die Leichen geht Nieberle, heute 68, noch immer nah. „Die Bilder bekommt man nicht aus dem Kopf“, sagt er und weint. Auch BRK-Mann Stockmaier schluckt. „Es dauerte lang, bis wir den Lokführer herausgeschnitten hatten.“Zwar lebt er da noch, stirbt aber in der Klinik. Stockmaier erzählt auch, wie Einsatzkräfte die Trümmer am Ende noch mit einem Kranwagen der Bundeswehr nach Überlebenden durchforsten. „Leider fanden sie nur noch Tote.“
Nach dem Unglück war die Öffentlichkeit schockiert. Bis dato hatte die Bundesbahn selbstbewusst geworben: „Fahr’ sicher mit der DB“. Die Bahner konnten sich auf Zahlen berufen: In der damaligen Bundesrepublik wurden bei einer statistischen Transportleistung von einer Milliarde Kilometern auf den Straßen 20, im Luftverkehr sechs und bei der Bahn zwei Verkehrsteilnehmer getötet. Allein im Jahr 1970 starben 19 000 Bundesbürger durch Autounfälle auf verstopften Straßen. 530 000 wurden verletzt.
Im Jahr 1971 aber wurde die Bahn Opfer der eigenen Werbung: Nach dem Zugunglück bei Aitrang im Februar entgleiste am 18. Mai bei Illertissen (Landkreis Neu-Ulm) ein Schnellzug auf einem Schienenbruch. Die Opfer: sechs Tote, 27 Verletzte. Nur neun Tage später stießen auf einer eingleisigen Nebenstrecke bei Radevormwald im Bergischen Land ein Schienenbus und ein Güterzug frontal zusammen. Dabei kamen 45 Menschen, darunter 40 Schulkinder,
ums Leben, 26 wurden verletzt. Der Grund: kein Zugfunk. Im Juli entgleiste ein Schnellzug bei Rheinweiler im Markgräflerland, weil Reparaturarbeiten schlampig ausgeführt worden waren: 23 Tote und 120 Verletzte sind zu beklagen.
In den Medien begann eine ausführliche Diskussion um die Sicherheit bei der Bahn. „Warum nur ein Lokführer? Warum nicht zwei?“fragte „Die Zeit“. „Bild“polemisierte: „Bremst die Bundesbahn.“„Sicherheit zuerst“, forderte die „FAZ“. „Die Sicherheit fährt hinterher“, monierte die „Süddeutsche Zeitung“.
Vier Jahre passierten keine schweren Unglücke, bis am 8. Juni 1975 auf der Strecke von München nach Lenggries in Bayern zwei Eilzüge frontal zusammenstießen. 41 Menschen wurden getötet, 122 verletzt. Und auch nach Beginn der Hochgeschwindigkeitsära kam es zu Unfällen: Am 3. Juni 1998 entgleiste beim bisher schwersten Zugunglück der neu gegründeten Deutschen Bahn AG wegen eines gebrochenen Radreifens der ICE „Wilhelm Conrad Röntgen“im niedersächsischen Eschede und zerschellte an einer Brücke. Dabei kamen 101 Menschen ums Leben, über 100 wurden zum Teil schwer verletzt.