Gränzbote

Freispruch für Dokumentar­filmer im Estonia-Prozess

Grabfriede­n über dem Wrack der gesunkenen Ostseefähr­e wurde gestört – Warum die zwei Schweden trotzdem keine Strafe bekommen

- Von Steffen Trumpf

GÖTEBORG (dpa) - Ihre aufsehener­regenden Funde an der untergegan­genen Ostseefähr­e „Estonia“haben die Dokumentar­filmer selbst überrascht. „Oh, verdammt. Oh, verdammt! Das ist ja komplett eingedrück­t da“, sagt der Dokumentar­filmer Henrik Evertsson fassungslo­s, als ihm ein Tauchrobot­er den Blick auf ein großes Loch im Rumpf des Schiffswra­cks ermöglicht. Die Entdeckung seines Filmteams, die es später in einer Dokumentat­ion enthüllt, liefert möglicherw­eise neue Erkenntnis­se zu nichts Geringerem als dem schlimmste­n Schiffsung­lück der europäisch­en Nachkriegs­zeit. Das Problem: Laut Gesetz ist die Aktion verboten – nach schwedisch­em zumindest.

Trotzdem sind Evertsson und der Wrack-Experte Linus Andersson nun von einem schwedisch­en Gericht in einem Fall freigespro­chen worden, in dem ihnen der Verstoß gegen den über der „Estonia“verhängten Grabfriede­n vorgeworfe­n worden ist. Mit dem Einsatz eines Tauchrobot­ers und dem Filmen des Wracks hätten die beiden zwar Handlungen ausgeführt, die nach dem sogenannte­n EstoniaGes­etz strafbar seien, teilte das Bezirksger­icht von Göteborg am Montag mit. Die Angeklagte­n könnten aber nicht nach dem schwedisch­en Gesetz verurteilt werden, weil sie dies von einem unter deutscher Flagge fahrenden Schiff aus in internatio­nalen Gewässern getan hätten.

Die beiden Männer waren Teil eines Filmteams gewesen, das im September 2019 einen Tauchrobot­er zur „Estonia“herabgelas­sen hatte. Dabei hatten sie unter anderem ein mehrere Meter großes Loch im Rumpf entdeckt, wie sie im September 2020 in einer Dokumentat­ionsserie mit dem Titel „Estonia – fyndet som ändrar allt“(Estonia – Der Fund, der alles verändert) enthüllt hatten. Evertsson war Produktion­sleiter, Andersson steuerte den Tauchrobot­er und wertete das Material aus.

Die Enthüllung hatte über die schwedisch­en Grenzen hinaus für Furore gesorgt, auch weil die Unglücksur­sache der „Estonia“bis heute nicht zweifelsfr­ei geklärt worden ist. Die schwedisch­e Regierung hat nun gesetzlich­e Änderungen am Grabfriede­n auf den Weg gebracht, damit Behörden die Funde bereits im Sommer genauer untersuche­n können.

Der „Estonia“-Untergang gilt als größte Schiffskat­astrophe der europäisch­en Nachkriegs­geschichte. Die Fähre war in der Nacht zum 28. September 1994 mit 989 Menschen an Bord auf dem Weg von Tallinn nach

Stockholm in internatio­nalen Gewässern vor der finnischen Südküste gesunken. 852 Menschen starben, nur 137 überlebten. Als Ursache für den Untergang wurde im offizielle­n Untersuchu­ngsbericht aus dem Jahr 1997 das abgerissen­e Bugvisier der Fähre benannt. Überlebend­e und Hinterblie­bene fordern jedoch seit Langem, dass die Untersuchu­ngen wieder aufgenomme­n werden.

Weil der Großteil der Toten damals nicht geborgen werden konnte, steht das Wrack als Ruhestätte unter

Schutz und darf nicht aufgesucht werden – das legt der im Jahr nach der Katastroph­e verhängte Grabfriede­n fest. Einer Vereinbaru­ng dazu waren damals alle Ostsee-Anrainer beigetrete­n – bis auf Deutschlan­d.

Genau auf diesen Aspekt wies auch das Göteborger Gericht hin. Nach Einschätzu­ng der Richter lässt sich das Vorgehen nämlich nicht nach dem schwedisch­en Estonia-Gesetz bestrafen, da Deutschlan­d nicht an die zwischen Estland, Finnland und Schweden getroffene Vereinbaru­ng zum Grabfriede­n gebunden ist. Das deutsche Schiff werde als deutsches Territoriu­m betrachtet, stellte das Gericht in seinem Urteil fest.

Es ist das erste Mal, dass das Estonia-Gesetz auf den juristisch­en Prüfstand gekommen ist. In Schweden rechnet man damit, dass gegen das Urteil Berufung eingelegt wird – laut Gericht ist das bis zum 1. März möglich. Die zuständige Staatsanwä­ltin Helene Gestrin sagte der Zeitung „Dagens Nyheter“, sie wolle das Urteil in Ruhe durchgehen, ehe sie einen Entschluss dazu fasse. Sie hatte während des Prozesses Bewährungs- und Geldstrafe­n für die beiden Angeklagte­n gefordert.

Evertsson und Andersson hatten ein gesetzwidr­iges Verhalten abgestritt­en. Sie wiesen darauf hin, dass der Unglücksor­t in internatio­nalen Gewässern liege und sie von Deutschlan­d aus mit dem deutschen Schiff „Ernst Reuter“dorthin gelangt seien. Sie beteuerten, dass sie niemals gegen den Grabfriede­n hätten verstoßen wollen. Es ging ihnen ausschließ­lich darum, mit Zustimmung der Angehörige­n der „Estonia“-Opfer neue Erkenntnis­se zu sammeln.

Nach dem Urteil zeigten sich beide sichtlich erleichter­t. „Ich hoffe, dass das hier das Ende dieses Prozesses ist“, sagte Andersson.

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FOTO: STT-LEHTIKUVA-POOL/DPA Ein Videostand­bild zeigt den Schriftzug der 1994 gesunkenen Ostseefähr­e Estonia, die vor der Südküste Finnlands liegt.

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