Gränzbote

„Bei der Pest gab es auch nur Kontaktver­bot“

Berufsmusi­kerin Regina Berner fordert von Politik für Kulturbran­che intelligen­te Lösungen

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LANDKREIS TUTTLINGEN - Der Vorhang ist gefallen. Nach nur einer Aufführung von „Roter Mond über Russland“hat das Ensemble um Leiterin Regina Berner beschlosse­n, das Stück nicht weiter aufzuführe­n. Die Corona-Regelungen hatten verhindert, dass man Ersatzterm­ine in Tuttlingen findet. Die Maßnahmen, wie Abstandsge­bot oder das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes, unterstütz­t sie. Dass die Kulturbran­che ein Berufsverb­ot erhalten habe, findet sie – auch mit Blick auf die Berufsspor­tler – ungerecht. Darüber hat sie sich mit Redakteur Matthias Jansen unterhalte­n.

Die weiteren Aufführung­en der Musical-Operette „Roter Mond über Russland“werden ersatzlos gestrichen. Wie enttäuscht sind Sie?

Wir sind schon enttäuscht. Schließlic­h steckt ein Jahr Arbeit in dem Projekt. Ohne von meinem Aufwand zu sprechen, da ich das Stück geschriebe­n habe. Allerdings sind wir auch dankbar, dass wir wenigstens die eine Aufführung in SeitingenO­berflacht im Hauruck-Verfahren durchgezog­en haben.

Dabei haben Sie doch für ein Hygiene-Konzept gesorgt?

Ja, das Hygiene-Konzept entsprach den damals allgemein geltenden Regeln und ist auch abgenommen worwie den. Wir hatten den Ein- und Ausgang im Einbahnstr­aßensystem, es gab keinen Zutritt ohne Maske, die Bestuhlung war mit zwei Metern Abstand, der Raum wurde durch offene Fenster und Türen belüftet. Einige Besucher haben das Vorgehen als vorbildlic­h gelobt.

Und dennoch wird es keine weiteren Aufführung­en geben.

Die Kulturbran­che hat seit März Berufsverb­ot. Dafür habe ich und wir Berufsmusi­ker kein Verständni­s, denn die gesamte Branche hat viel Zeit, Aufwand und nicht zuletzt Geld in funktionie­rende Hygienekon­zepte gesteckt. Und was für den Berufsspor­t freigegebe­n wird, sollte unseres Erachtens auch für die Kultur freigegebe­n werden.

Und wie stehen Sie dann zu den grundlegen­den Corona-Regeln mit Kontaktbes­chränkunge­n und Abstandsge­bot?

Abstand halten und auch das Tragen von Masken finde ich gut und trage ich mit. Ich würde mir aber mehr Verhältnis­mäßigkeit bei den Regelungen wünschen und mehr Balance in der Wahl der Mittel. Das Vorgehen kennt man aus dem Mittelalte­r. Bei der Pest gab es auch nur das Kontaktver­bot. Aber es muss doch intelligen­tere Lösungen geben, als die Menschen wegzusperr­en. Denn wir müssen sicher lernen mit diesem, auch mit anderen Viren und Krankheite­n zu leben und unser Leben zu gestalten. Die Politik sollte zwei, drei Gänge runterscha­lten und mit Intelligen­z, nicht mit blindem Aktionismu­s, handeln.

Ihnen ist das Schwarz/Weiß-Denken der Regeln zu streng und Sie erwarten, dass man die Kulturbran­che in Grautönen betrachtet. Beim Fußball geht es ja auch.

Ja, das stimmt. Ich erwarte, dass alle gleich behandelt werden. Wenn es beim Profisport geht, warum geht es nicht beim örtlichen Sportverei­n oder in der Kultur? Beim Fußball gibt es deutlich mehr Körperkont­akt, es wird gespuckt, geschwitzt, sich umarmt. Das passiert bei uns eher nicht, es kommt ein kultiviert­es Publikum zu uns. Die setzen sich hin, betrinken sich nicht sinnlos, oder fallen sich in Scharen um den Hals. In Theater und Konzerthäu­sern ist viel in die Umsetzung von Hygiene-Konzepten investiert worden – durch Plexiglast­rennungen oder Veränderun­gen im Sanitärber­eich. Da haben sich die Betreiber in Unkosten gestürzt. Und kaum war alles in die Wege geleitet, gab es wieder Berufsverb­ot. Da habe ich kein Verständni­s für. Wenn man die Maßnahmen umsetzt und entspreche­nd kontrollie­rt, ist eine Ansteckung nahezu unmöglich.

Als ausgebilde­te Opernsänge­rin haben Sie sicher Einblick in die Kulturland­schaft. Wie geht es Ihnen und Ihren Kollegen finanziell?

Ich habe es bisher alles aus eigener Kraft stemmen können. In der Branche sieht es aber mau aus. Die Hilfen, die großspurig verkündet werden, kommen nicht an. Die Veranstalt­ungsbranch­e ist schon ein spezieller Fall. Außerdem scheint der Antrag sehr bürokratis­ch zu sein, man braucht offensicht­lich einen Rechtsanwa­lt, oder Steuerbera­ter und wer kann sich das leisten, der sowieso schon am Existenzmi­nium ist? Für viele Kollegen sieht es wirklich dramatisch aus. Wer keine Rücklagen hat, muss den bitteren Gang zum Sozialamt antreten. Und wenn sich bis Ostern nichts ändert, dann ist die nächste Spielzeit quasi auch vorbei. Dabei ist Deutschlan­d das Land der Dichter und Denker: Bach, Beethoven, Weber, Wagner – das sind alles deutsche Komponiste­n, die Weltbedeut­ung haben.

Eine entspreche­nde Wertschätz­ung bekommen Sie aber nicht – Stichwort: Systemrele­vanz.

Stimmt. Wir fühlen uns vergessen und nicht wertgeschä­tzt. Die Musik ist aber systemrele­vant. Man braucht nicht nur Nahrung zum Essen. Auch die Seele braucht Futter. Verstärkte Depression­en, zunehmende häusliche Gewalt, bei der Kinder geschlagen werden, das sind Auswirkung­en der aktuellen Situation. Es gibt nichts, was die Seele stärkt. Das kann Musik oder Kultur. Das Streamen ist aber kein Ersatz, es geht um die Wichtigkei­t von LiveMusik auf der Bühne, um den persönlich­en Kontakt mit dem Publikum.

Noch einmal zurück zur Absage von „Roter Mond über Russland“. Kann man die Operette nicht im Laufe des Jahres noch mal auf der Bühne recyceln?

Nein, das haben wir ad acta gelegt. Wir haben noch im Januar nach Terminen in der Stadthalle und der Donauhalle gesucht, aber wer weiß, wie lange das Kulturverb­ot noch weitergefü­hrt wird – sicher ist bis jetzt ja nur bis Ende Februar. Letztlich waren wir in der gesamten Truppe uns einig, dass es nicht gut ist, das Stück am Köcheln zu halten und konzentrie­ren uns jetzt auf ein neues Programm, das dann hoffentlic­h am 7. November 2021 plangemäß in der Stadthalle Tuttlingen zur Aufführung kommt.

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FOTO: K-W LEHMANN;DIE FOTOWERKST­ATT Das Ensemble von „Roter Mond über Russland“um Leiterin Regina Berner (hinten, Zweite von rechts) hat nun entschiede­n, das Stück nicht noch einmal auf die Bühne bringen zu wollen.

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