Amazon-Gegner wollen rechtliche Aspekte ausloten
Ziel der BI und Anwohner bleibt Verhinderung des Verteilzentrums - Verdi sorgt sich um Arbeitsplätze im Handel
TROSSINGEN - Den Amazon-Plänen in Trossingen weht weiter scharfer Wind entgegen. Anwohner der Kirchhalde und die BI Schura protestieren gegen ein Verteilzentrum im Gebiet Greut und kündigen an, sich anwaltlich beraten zu lassen, wie dieses eventuell zu verhindern sein könnte. Neben der Bürgerinitiative meldet sich auch die Gewerkschaft Verdi kritisch zu Wort.
Der Frust darüber, in der Bürgerfrageviertelstunde vom 25. Januar keine Antworten erhalten zu haben, ist bei den Amazon-Gegnern immer noch groß. Ebenso der Ärger, dass Stadt und Gemeinderat die Amazon-Ansiedlung hinter verschlossenen Türen abgewickelt und den Bürgern vollendete Tatsachen vorgesetzt haben. „Der einzige Grund für die Nichtöffentlichkeit war es, die Bürger auszuschließen“, ist Günther Kapphan überzeugt. „Wäre das, wie die Räte sagen, eine gute Sache für Trossingen, hätten sie den Verkauf doch öffentlich diskutieren können.“
Für Kapphan liegen die Abläufe des Grundstücksverkaufs überhaupt im Argen. Für ihn ist klar: Die ganze Amazon-Geschichte sei von Rat und Stadt bewusst verschleiert worden. Die BI Schura hat sich bereits an die Rechtsaufsicht des Landkreises Tuttlingen gewandt und gefragt, wie sich die nicht-öffentlichen Verhandlungen mit dem Öffentlichkeitsgebot der Gemeindeordnung vereinbaren lassen. Laut Paragraf 35 der Gemeindeordnung müssen nicht-öffentlich gefasste Entschlüsse auch in der nächsten öffentlichen Sitzung im Wortlaut bekannt gegeben werden, „soweit nicht das öffentliche Wohl oder berechtigte Interessen Einzelner entgegenstehen“. Laut Bürgermeisterin Susanne Irion wurde der Vertrag im Oktober notariell beurkundet. Bekannt gegeben wurde dies in der Gemeinderatssitzung am 14. Dezember. Bis dahin hatten seit Anfang November bereits mehrere Gemeinderatssitzungen stattgefunden.
„Wir werden uns in vielen einzelnen Richtungen anwaltlich beraten lassen“, kündigt Kapphan an. „Zum Einen werden wir versuchen, in die Vergermeister träge Einsicht zu nehmen und zu schauen, wie das Verteilzentrum vielleicht verhindert werden kann. Eine weitere Frage ist die baurechtliche.“
Er wundert sich auch, ob eine Fläche wie das Gebiet Greut, die als Waldund Aufforstungsfläche vorgesehen gewesen sei, überhaupt Gewerbegebiet sein könne. Der Gemeinderat hatte Greut (neben weiteren Flächen) in seiner Junisitzung 2020 als Gewerbegebiet in den Flächennutzungsplan aufgenommen, mit dem Hinweis auf eine Kaufanfrage. Bereits vor der Sommerpause 2020 gab es nach Angaben der Stadt dann auch erste Diskussionen zu einer Amazon-Ansiedlung unter dem ehemaligen Bürgermeister Clemens Maier.
Wieviel Hoffnung die Bürgerinitiative hat, das Verteilzentrum zu verhindern? „Schwierig“, sagt Kapphan. „Aber wir werden es versuchen.“Von Bürgermeisterin Irion erhoffe er sich dabei „nicht mehr viel“, meint Solleder. „Ich werte ihre Aussagen (in unserem Interview vom 6. Januar, Anm. d. Red.) so, dass sie sich nicht mit dem Gemeinderat anlegen möchte.“Die BI werde schauen, wie sie in der Hinsicht Druck von außen aufbauen könne.
Kapphan und Solleder stören sich auch am Verhalten der Gemeinderäte. „Da herrscht Funkstille“, sagen sie auf E-Mails gebe es keine Antwort. „So geht man doch mit den Bürgern nicht um. Die Gemeinderäte sind von uns Bürgern gewählt!“Über Politikverdrossenheit brauche man sich da nicht zu wundern, so Solleder. Die habe er auch bei vielen Leuten in Unterhaltungen zum Thema rausgehört. Aber auch die Äußerung von Tuttlingens Landrat Stefan Bär bei der Verpflichtung Susanne Irions, dass heutzutage viele Menschen laute Forderungen äußern, sich aber selbst wenig engagieren würden (siehe Bericht vom 2. Februar), hat Günther Kapphan verletzt, der sich jahrelang aktiv unter anderem bei den Bläserbuben und der Trossinger CDU engagiert hat. „Das Schlimme ist: Bär sieht die Fakten zum Thema nicht, macht sich nicht schlau.“
Den gleichen Vorwurf macht er auch dem Gemeinderat: „Dieser hat sich in keinster Weise über die Folgen der Ansieldung informiert und Bür
Maier hatte wohl nur den Verkaufspreis des Grundstücks im Sinn“, sagt Kapphan. Man müsse schon sehr blauäugig sein, Prognosen zu glauben, dass nur fünf Prozent des Amazon-Verkehrs durch die Stadt ginge. „Nur ein Beispiel: Fahrer, die auf der A81 Richtung Süden fahren müssen, fahren doch sicher den kürzeren Weg durch die Stadt zur Autobahnauffahrt Tuningen“, vermutet er. Zum Thema Steuern verweist Kapphan auf einen Beitrag der ARD vom 2. September 2020 zum Thema (https:// www.daserste.de/information/wirtschaft-boerse/plusminus/sendung/ ndr/amazon-internethaendler-steuern-100.html).
Dass die Anwohner Einfluss nehmen können, in welcher Form das Amazon-Verteilzentrum entsteht, glauben Kapphan und Solleder nicht: „Wir bezweifeln, dass sie sich in die Bauplanung reden lassen.“
Rund 1050 Unterschriften gegen das Verteilzentrum haben die Trossinger Amazon-Gegner inzwischen gesammelt. „Dass es so viele werden, hätten wir nicht gedacht“, freut sich Andreas Solleder. „Ich hätte eher mit um die 600 gerechnet.“Sie sollen in den nächsten Tagen an die Bürgermeisterin übergeben werden; dann soll auch ein Gespräch stattfinden.
Unter den Unterzeichnern seien auch mehrere Trossinger, die eventuell Nachteile zu befürchten hätten, wenn sie sich gegen Amazon positionieren, so Solleder. „Viele Unterschriften haben wir aus diesem Grund aber auch nicht bekommen, zum Beispiel von Mitgliedern des Gewerbevereins.“Vom Gewerbeverein und den Einzelhändlern sei er „maßlos enttäuscht“, so Kapphan. Er hätte sich eine deutliche Positionierung gegen Amazon gewünscht.
Verdi meldet sich zu Wort
Auch die Gewerkschaft Verdi hat sich inzwischen klar zu einer Amazon-Ansiedlung in Trossingen positioniert. „Seit vielen Jahren streitet Verdi mit Versandhandelsunternehmen wie Amazon oder Zalando über die Arbeitsbedingungen an den jeweiligen Versandstandorten. Nach dem Geltungsbereich für Tarifverträge müssten nach der Rechtsauffassung der Gewerkschaft die Bedingungen des Einzel
– und Versandhandels gelten“, so der im Bezirk Südbaden Schwarzwald zuständige Fachbereichssekretär Markus Klemt in einer Pressemitteilung. „Beide Handelsriesen bezeichnen sich jedoch als Logistiker und bezahlen damit ihre Beschäftigten wesentlich schlechter als unter anderem die Konkurrenz im örtlichen Handel vor Ort in Trossingen und der näheren Umgebung.“
In Trossingen und Umgebung seien die namhaften Anbieter der Lebensmittelkonzerne wie Edeka, Netto, Rewe/Penny, Aldi, Lidl und Kaufland allesamt an den Tarifvertrag des badenwürttembergischen Einzelhandels gebunden. „Andere orientieren sich wenigstens an diesen Werten, um entsprechend motiviertes und qualifiziertes Personal anwerben zu können“, schreibt Verdi weiter. „Alle diese auch für die Kommunen bezüglich des Steueraufkommens wertvollen Arbeitsplätze geraten durch die zunehmende Konkurrenz von Amazon unter massiven Druck.“
Mit Ausnahme der Lagerleitung und einiger Teamleiter sei für die meisten Arbeitsplätze im Verteilzentrum
wenig Qualifikation erforderlich. „Die Arbeitsplätze sind überwiegend zunächst befristet, Leiharbeit und niedrige Entlohnung prägen das Einkommensniveau; Tarifflucht, Dumpinglöhne und Überwachung der Beschäftigten sind bei Verdi Beispiele für die Auseinandersetzungen an mehreren Amazon-Standorten“, heißt es in der Pressemitteilung weiter.
Betriebsräte könnten nur sehr erschwert gegründet werden, weil sich erfahrungsgemäß die Belegschaften aus unterschiedlichen Herkunftsländern zusammensetzen. In diesen könnten das deutsche Betriebsverfassungsgesetz und die damit verbundenen Rechte auf Mitbestimmung nur mit erheblichem Aufwand vermittelt werden. „In anderen von Verdi betreuten Lagerstandorten der Internethändler arbeiten beispielsweise Menschen aus über 70 Nationen“, so Klemt. Für diese Beschäftigten müsse entsprechend der niedrigen Einkommen ein angemessenes Angebot an bezahlbarem Wohnraum angeboten werden. Auch für die Kinder aus unterschiedlichen Kulturkreisen gelte es wohl, ausreichende Betreuungsplätze in Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen zu schaffen.
Verdi zitiert wie auch die Trossinger Amazon-Gegner hierbei auf das Beispiel in Bad Oldesloe in SchleswigHolstein. Dort müssten zahlreichen Beschäftigten Grundsicherung bezahlt werden und die Ausgaben für den sozialen Wohnungsbau aufgestockt werden. Laut Bad Oldesloes Bürgermeister Jörg Lembke ist die Amazon-Ansiedlung für Bad Oldesloe ein Minusgeschäft. „Dass eine für die Stadt Trossingen derart zukunftsweisende Entscheidung in nicht öffentlicher Sitzung behandelt wurde, stößt bei der Gewerkschaft auf großes Unverständnis“, schreibt Verdi. „Was muss in einem demokratisch gewählten Gremium hier gegenüber der Bürgerschaft verborgen bleiben?“, kritisiert der Sekretär. „Es werden schließlich Gemeinderäte als Interessensvertreter gewählt und nicht als Geheimräte.“Er ermuntert die Kritiker und Gegner der Ansiedlung von Amazon in Trossingen, ihren Widerstand aufrecht zu erhalten.