Walter Haller hat ein ganzes Jahrhundert erlebt
Der Aldinger ist am 10. Februar 1921 geboren – Und nimmt das Leben, wie es ist
ALDINGEN - Wer sein Foto vom 10. Februar 2001 anschaut, meint, einen 60-Jährigen vor sich zu haben. Er ist sich nicht nur in dieser Hinsicht treu geblieben: Heute sieht Walter Haller aus wie 80. Dabei ist er hundert Jahre alt. Und zum Essen gibt es Flädlessuppe – die hat er sich gewünscht.
Was wohl der Grund ist, dass er so außergewöhnlich alt geworden ist und das bei klarem Verstand und ordentlicher Gesundheit? „Ich muss halt aufpassen, dass ich das Schnaufen nicht vergesse“, lacht er. - Selbstverständlich spricht Haller Aldingerisch. Die humorvolle Antwort ist vielleicht ein ziemlicher Teil der Antwort: Die Menschen und das Leben so zu nehmen, wie sie sind, nicht zuviel zu grübeln und schon gar nicht zu hadern.
Dabei gibt es viele Einschnitte in diesem langen Leben. Nicht nur, dass die goldenen 20er in der kleinen Gemeinde keineswegs golden waren, sondern eher hart. Der Vater verlor 1929 seine Arbeit in der Fabrik. Die Familie – es gab auch die deutlich ältere Schwester und den älteren Bruder – lebte von der kleinen Landwirtschaft in dem damals noch allein stehenden Haus in der oberen Felbenstraße, dort wo heute der Kindergarten Hand in Hand steht. Es wurde gespart, genau überlegt, welche Lampe mit Strom eingeschaltet wurde, gekocht und geheizt wurde mit einem Holzofen, die Kinderzimmer waren auch im Winter nicht beheizt. Das war so üblich in dieser Zeit. „Ja nu“, sagt Haller zu den vielen Fragen der Reporterin, und meint: „So war es eben“. Und er sagt das keineswegs resigniert.
Sieben Jahre ging Haller in die Volksschule, arbeitete 1934 bis 1936 in der Kettenfabrik. Alle drei Kinder mussten mithelfen, der Lohn wurde selbstverständlich zuhause abgegeben. Von 1936 bis 1938 machte Haller eine Friseurlehre in Tuttlingen, arbeitete bis 1940 als Geselle in Geisingen und wurde dann in den Arbeitsdienst ins Elsass bei Colmar eingezogen. An diese Zeit hat er keine schlechte Erinnerung. Alle waren gleich jung, die Kameradschaft und das Essen gut und Arbeit war er ja gewohnt: Gefechtsstände abbauen musste er. Aber dann musste er nach einer kurzen Infanterie-Ausbildung („Wir haben mit dem Spaten exerziert“) und einer Sanitäterausbildung nach Russland. Allerdings als Sanitäter und Friseur. Einmal wurde er am Bein von einem Granatsplitter verletzt. Bei dem Angriff sind zwei Kameraden
gestorben. Dieser mörderische Krieg kostete auch Bruder Emil das Leben. Er fiel 1942 im Kaukasus.
Walter Haller musste noch lange warten, bis er zurück in sein geliebtes Aldingen durfte: Bis 1949 war er in Gefangenschaft in einem 5000Mann-Lager bei Moskau, musste in einer Zementfabrik arbeiten, später in einem kleinen Lager von 500 Mann im Hausbau. „Wir waren der Situation ausgesetzt, hatten nichts zu sagen, waren rechtlos“, sagt er. „Ja nu“, so war es. Am 9. November 1949 – das Datum weiß er auch heute ganz genau – kehrte er heim.
Seine Freundin hatte einen anderen Mann, seine Freunde waren alle schon verheiratet und hatten kleine
Kinder: Der Krieg hatte Haller die besten Jugendjahre genommen vom 19. bis zum 28. Lebensjahr. Aber er war alles andere als gebrochen, machte in Lübeck die Meisterschule und eröffnete 1950 seinen Herrensalon in der Trossinger Straße. 1952 stieß Anni Müller dazu, sie war Damenfriseurin – und die beiden wurden ein Paar und heirateten 1953. Das ganze Leben arbeiteten sie zusammen. Sohn Manfred ist heute 65 und eng mit dem Vater verbunden.
Was für ein Vater der Jubilar war? „Ein gütiger, netter Vater, der mich fast nie geschimpft hat. Und bei den wenigen Malen, da hatte ich es auch verdient“, sagt Manfred Haller. „Ich hatte mit beiden Eltern Glück.“Und der Vater? Das wichtigste in den 100 Jahren sei das Familienleben, sagt er.
1987 übergaben die Hallers ihr Friseurgeschäft an Karl Eugen Glück, später wechselte der Salon an Daniel Steinleitner. Der Garten war in der Rente das Refugium, und natürlich die Vereine Aldingens, DRK, Albverein und andere. Wandern, Menschen treffen, sich engagieren und sogar Akkordeon neu lernen, das war Hallers Rentnerleben. Man spürt, wie sehr er sich für seine Gemeinde und die Menschen interessiert. Fragt auch nach den Nachkommen der Nachkommen der Nachkommen seiner Generation, interessiert sich für Kommunalpolitik. Eigentlich hätte am Mittwoch ein großes Fest gefeiert werden sollen, aber Corona macht es unmöglich. Seit knapp zwei Jahren lebt Haller, seine Anni ist 2016 gestorben, im Seniorenzentrum im Brühl. Die derzeitige Corona-Isolation ist schwer. „Ja nu“, sagt Haller, so ist es eben.
Er hat sich auf jeden Fall impfen lassen, das war für ihn keine Frage. Und wenn er das Schnaufen nicht vergisst, dann wird im Sommer vielleicht nachgefeiert.