Jugendkriminalität steigt durch Corona
Gewalttaten durch Jugendliche erschüttern derzeit die Region – Eine Folge der Corona-Krise, davon ist der Kriminologe Dirk Baier überzeugt, der einen anhaltenden Effekt befürchtet und an die Wirksamkeit auch von harten Sanktionen erinnert
RAVENSBURG (dg) - Die CoronaKrise wird langfristig zu einer höheren Jugendkriminalität führen, davon ist der Kriminologe Dirk Baier überzeugt. Der „Schwäbischen Zeitung“sagte der Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Züricher Hochschule für angewandte Wissenschaften: „Für die nächsten drei Jahre mache ich mir da Sorgen.“Zuletzt war es in Oberschwaben zu zwei Tötungsdelikten durch Messerattacken von Jugendlichen gekommen.
RAVENSBURG
- Ein Polizeihubschrauber kreist über der Gemeinde Berg (Landkreis Ravensburg), am Boden durchkämmen Einheiten die Wohngebiete, sie suchen den mutmaßlichen Täter nach einem Tankstellenüberfall. Den sie schließlich auch fassen. Sein Alter: 14 Jahre. Nur wenige Kilometer entfernt in Weingarten ist die Kripo in diesen Tagen mit einem anderen Fall beschäftigt: Ein 37-jähriger Mann wird in einem Studentenwohnheim durch mehrere Messerstiche getötet, bei der Auseinandersetzung soll es um Drogen gegangen sein. Unter Tatverdacht: ein 17-jähriger Jugendlicher. Und vergangene Woche wird eine 62-jährige Frau tot am Ravensburger Bahnhof aufgefunden, ebenfalls durch Messerstiche gestorben. Die Polizei nimmt eine Tatverdächtige fest, die es offenbar auf die Handtasche der Frau abgesehen hatte. Ihr Alter: 15 Jahre, sie war schon vorher mehrfach polizeiauffällig. Darüber hinaus zeugen andere Polizeimeldungen von Scharmützeln, Schlägereien und aggressivem Auftreten Jugendlicher. In München etwa verletzt ein 16-Jähriger vier Polizisten so schwer, dass sie in einem Krankenhaus behandelt werden müssen.
Auch Professor Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, beobachtet sowohl in der Schweiz wie in Deutschland eine Häufung von Gewalttaten durch Jugendliche. Dirk Grupe sprach mit dem renommierten Fachmann darüber, welche Rolle bei dieser Entwicklung die Pandemie spielt, mit welchen langfristigen Folgen die Gesellschaft rechnen muss und ob bei Jugendgewalt verstärkt ein Migrationshintergrund zum Vorschein kommt.
Herr Baier, Gewalttaten durch Jugendliche häufen sich in jüngster Zeit. Zufall oder eine Folge der Pandemie?
Bei diesem Gewaltphänomen – auch bei Ihnen vor Ort – fällt schon auf, dass die Täter eher Menschen sind, die nicht viel haben, die ein Stück weit auf eine Verliererstraße geraten sind. Durch Corona sind solche Leute noch hoffnungsloser geworden, weil es mit der Ausbildung nicht klappt oder der Übergang ins Berufsleben nicht gelingt. Die sind draußen unterwegs, es werden Alkohol und andere Drogen konsumiert, dann kommt es relativ schnell zur Eskalation.
Insofern erhöht die Pandemie den Druck auf diese Klientel?
Genau. Die haben sowieso viel Druck, konnten aber in den vergangenen Jahren durch eine relativ gute Wirtschaftslage eine gewisse Perspektive entwickeln, die sie jetzt nicht mehr haben. Wirtschaftsbereiche, etwa in der Hotellerie oder im Gaststättenbereich, die offen sind auch für nicht so gute Schüler, fallen jetzt weg. Das erzeugt Druck.
Jugendliche leiden ohnehin sehr stark unter der Pandemie ...
... richtig, Corona ist insbesondere ein kritisches Ereignis für junge Menschen. Jugendliche sind auch eine Art Fieberthermometer der Gesellschaft. Die kriegen Dinge zuerst mit, reagieren schnell und unverblümt darauf, auch weil es an Selbstkontrolle mangelt. Wenn etwas in der Gesellschaft nicht stimmt, merkt man das bei Jugendlichen als Erstes. Das ist jetzt der Fall.
Corona ist irgendwann vorbei, zieht aber womöglich eine Wirtschaftskrise nach sich. Könnte dadurch der Druck, von dem Sie sprechen, anhaltend sein?
Da bin ich leider gar nicht optimistisch. Man merkt ja jetzt schon, dass wir in diese Wirtschaftskrise kommen. Ich bin der Meinung: Wenn Corona vorbei ist und die Auswirkungen sichtbar werden, wird die Jugendkriminalität zunehmen. Für die nächsten drei Jahre mache ich mir da Sorgen. Es ist jetzt schon feststellbar, dass die Jugend immer unruhiger wird. Sie bleibt nicht zu Hause, schon gar nicht die, die nicht viel zu Hause hat. Wo es im Elternhaus vielleicht nicht stimmt, wo die Räumlichkeiten nicht passen, die werden nach draußen geworfen. Dann entstehen diese Phänomene, die wir jetzt haben. Und das wird noch weiter zunehmen.
Ist es richtig, dass Jugendgewalt ohnehin bereits steigt?
Ja, es gärt sowieso in der Jugend. Das gilt für die Schweiz genauso wie für Deutschland, wo die Jugendgewalt in den vergangenen fünf Jahren um ein Viertel zugenommen hat.
Gibt es dafür eine Erklärung?
Die Jugend lässt sich von gesellschaftlichen und auch politischen Veränderungen beeinflussen. Donald Trump ist da ein gutes Beispiel, mit seinem aggressiven Männlichkeitsgehabe beeinflusst er auch junge Männer in der Schweiz und in Deutschland. Mit seiner Rhetorik ist er für den einfachen Mann eine Identifikationsfigur, an die sie sich festkrallen und die sie nachahmen. Die sie ein Stück weit ermächtigt, aggressiv aufzutreten und den Macho raushängen zu lassen. Mit Corona kommt nun eine Art Beschleuniger dazu. Besonders für die Gruppen, die sowieso gefährdet sind.
Lässt sich beziffern, wie groß die besonders stark betroffene Klientel ist?
Wenn wir von schwerer Jugendkriminalität sprechen, von Raub, Körperverletzung oder Vergewaltigung, ist das eine kleine Minderheit. Das sind Jugendliche, bei denen diese Taten zur Biografie, zur eigenen Identität gehören. Und die sind jetzt natürlich noch gefährdeter.
Eine entsprechende Biografie hat auch die 15-Jährige, die in Ravensburg am Bahnhof eine Frau erstochen haben soll. Wie hoch ist bei Gewaltakten der Anteil junger Täterinnen?
Etwa jede sechste Gewalttat in Deutschland wird von weiblichen Jugendlichen ausgeführt. Dieser Anteil ist seit vielen Jahren konstant, das heißt, weibliche Jugendliche waren und sind deutlich weniger gewalttätig als männliche Jugendliche. Schwere Gewalttaten wie Mord oder Raub werden von weiblichen Jugendlichen noch seltener begangen, etwa jede zehnte Tat. Wenn weibliche Jugendliche Gewalt begehen, dann hat das häufiger als bei Jungen damit zu tun, dass sie negative Erfahrungen in der Familie gemacht haben, also Gewalt durch die Eltern stattfand oder andere Formen der Traumatisierung vorlagen.
Sind diese Leute, unabhängig vom Geschlecht, schon ein Stück weit verloren für die Gesellschaft?
Ich bringe da immer einen Grundoptimismus mit. Es ist nie zu spät, mit jungen Menschen zu arbeiten, ihnen eine Perspektive zu geben. Jeder kann wieder auf den richtigen Weg geleitet werden. Da kann es auch durchaus mal sinnvoll sein, einen jungen Menschen in den Strafvollzug zu geben.
Aber heißt es nicht immer: Prävention statt Repression?
Beides ist wichtig. Prävention ist immer besser für eine Gesellschaft, weil dadurch Opfer vermieden werden. Es braucht aber auch Repression. Wenn Jugendliche etwas begangen haben, sind Sanktionen wichtig. Das muss nicht immer Polizei oder Gericht sein, das können oft auch Schulen bereinigen. Es ist aber wichtig, dass eine Reaktion erfolgt, wenn Jugendliche Grenzen überschreiten. Repression kann dann Prävention sein. Das Falscheste aber wäre, die Dinge einfach zu ignorieren.
Werden Jugendlichen zu selten diese Grenzen aufgezeigt?
In den Familien passiert das teilweise zu wenig. Da sind dann andere Akteure gefordert, die Schulen, Trainer im Verein oder die Polizei. Das sollte schon bei verbalen Entgleisungen anfangen, dass man interveniert, bei Herabsetzungen, bei Homophobie oder Fremdenfeindlichkeit. Wenn Jugendliche einen klaren Rahmen kennen, wird es unwahrscheinlicher, dass sie über die Stränge schlagen.
Sie haben den Strafvollzug erwähnt. Ist das nicht eine Sanktion, die die Betroffenen stigmatisiert und ihren weiteren Lebensweg erschwert?
Strafvollzug ist die allerletzte Maßnahme für Jugendliche. Nimmt man die 14- bis 17-Jährigen, sitzen in Deutschland gerade 500 im Strafvollzug. Wer dahin kommt, hat bereits eine kriminelle Karriere hinter sich oder eine sehr schwere Tat begangen. Dass Menschen durch den Strafvollzug, wie Sie sagen, etikettiert werden und Nachteile erfahren, das stimmt, das wissen wir aus Studien. Das heißt aber nicht, dass alle 500 dadurch Nachteile haben. Für manche Leute, auch das wissen wir, kann das genau der Wendepunkt in ihrem Leben sein. Nicht jede harte Sanktion ist schädlich für junge Menschen.
Strafvollzug als eine Art Aufweckeffekt?
Genau. Auch das beobachten wir, wenn ein Intensivtäter berichtet, wie ihn jemand, etwa ein Werkmeister, entfacht hat und er so wieder auf den rechten Weg gekommen ist. Manchmal kann der Strafvollzug gut sein für junge Menschen.
Geht es um gewalttätige Jugendliche, ist oft von einem Migrationshintergrund die Rede. Inwieweit trifft das in der Realität zu?
Im Gewaltbereich gibt es tatsächlich eine höhere Belastung von einzelnen Gruppen; bei türkischen Jugendlichen, bei Jugendlichen aus dem ehemaligen Jugoslawien, bei nordafrikanischen Jugendlichen – das ist einfach Fakt. Aber wir sollten nicht stehen bleiben bei diesem Fakt.
Wie meinen Sie das?
Diese Diagnose zu stellen und nicht drum herumzureden, ist wichtig. Aber wir sollten auch schauen, was dahintersteckt. Dass diese jungen Menschen gewalttätiger sind, hat damit zu tun, dass sie schon früh in ihrem Leben mit Gewalt konfrontiert wurden. Dass diese Erfahrungen Männlichkeitsbilder in ihnen erzeugen. Wenn der Vater prügelt, ist das ein Machobild, das sie nachahmen, und dann selber prügeln. Wenn man einen Deutschen so erzieht, wird er genauso gewalttätig. Der Migrationshintergrund bei Gewalttaten ist also wie ein Spiegel, der uns hingehalten wird: Es klappt noch nicht mit der Integration.