684 Gramm Leben
Der kleine Simon kam an Weihnachten durch einen Notkaiserschnitt drei Monate zu früh zur Welt – Die Geschichte einer nervenaufreibenden Geburt
- Auf dem Foto ist das Baby kaum zu erkennen. Es verschwindet im Inkubator, umgangssprachlich auch Brutkasten genannt. Kabel und Schläuche ragen heraus, an Monitoren blinken bunte Lichter. Eine Karte mit „Hello World“hängt an der Plastikscheibe. Dahinter, zwischen Kissen und Stofftüchern: ein kleiner Kopf. Simon kam an Weihnachten auf die Welt, 32 Zentimeter groß, 684 Gramm leicht. Seine Mutter Laura S. (Name von der Redaktion geändert) litt an einer Schwangerschaftsvergiftung, die ihr eigenes Leben und das ihres Babys gefährdete. Ein plötzlicher Kaiserschnitt im Corona-Lockdown: Die 27-Jährige und ihr Freund erlebten eine nervenaufreibende Geburt.
Küssen konnten die jungen Eltern ihren Sohn bis heute nicht. Auf der Intensivstation im Universitätsklinikum in Augsburg tragen Laura und ihr Freund FFP2-Masken, die sie auch im Zimmer nicht abnehmen dürfen. Die Großeltern des Babys kennen Simon bisher nur von Fotos.
„Wir fiebern auf die Zeit, wenn er nach Hause darf. Wenn wir endlich zusammen auf unserer Couch kuscheln, meine Eltern ihn sehen können und er einfach daheim ist“, sagt Laura. Simon wiegt sechs Wochen nach seiner Geburt etwa 1100 Gramm. Er ist ein Frühchen, also ein Baby, das zu früh zur Welt gekommen ist – und ohne medizinische Hilfe vielleicht nicht mehr leben würde.
Werdende Eltern haben in der Regel klare Vorstellungen von der Schwangerschaft. Neun Monate Vorfreude, vielleicht verspürt die Schwangere Übelkeit am Morgen, hat schwere Beine und Dehnungsstreifen am wachsenden Bauch. Irgendwann setzen die ersehnten Wehen ein und wenige Stunden später hält das Paar glücklich das Baby im Arm, das aus vollen Lungen schreit.
Dann sind da die Fälle, in denen alles anders läuft: Lebensgefahr, Notkaiserschnitt, Frühgeburt. Und die jungen Eltern stehen vor einem Plastikkasten, in dem ihr Kind mit Maschinen beatmet wird. Kommt ein Baby vor der 37. Schwangerschaftswoche
auf die Welt, gilt es als frühgeboren. Die Ursachen sind vielfältig: Alkohol oder Drogen während der Schwangerschaft, innere Fehlbildungen oder Krankheiten wie das HELLP-Syndrom. Im Universitätsklinikum behandeln die Ärzte im Jahr etwa 70 Frühchen unter 1500 Gramm auf der Intensivstation, insgesamt werden etwa 600 Früh- und Neugeborene aufgenommen.
Winzige Finger, dünne Arme: Auf Fotos wird deutlich, wie klein das Baby ist. Seine Hand ist etwa so groß wie der Daumen seines Vaters. Laura und ihr Freund dürfen rund um die Uhr zu ihrem Kind. Trotz Corona gebe es keine großen Einschränkungen für das Paar.
Die Eltern genießen vor allem das gemeinsame „Känguruhen“. Dabei liegt das Baby auf dem nackten Oberkörper seiner Mutter oder seines Vaters. Wie bei einem Kängurujungen in seinem Beutel profitieren Frühchen von der Nähe, der Körperwärme, dem Herzschlag. Mehr noch: Der nahe Kontakt stärkt die Bindung zwischen Eltern und Kind. Laura sagt: „Wenn Simon mit uns kuschelt, wird er ganz ruhig und entspannt sich. Das gibt mir Kraft.“
Bis zum ursprünglich errechneten Geburtstermin müssen Frühchen im Krankenhaus bleiben, bei Simon ist das bis März. Es gibt noch Risiken für das Baby, das nach wie vor auf maschinelle Unterstützung beim Atmen angewiesen ist, aber nicht mehr voll beatmet wird. „Wenn er das nicht mehr braucht, darf er auf die Frühchenstation“, sagt Laura. „Dann müssen wir schauen, wie er sich entwickelt und wie er zunimmt.“
Im Dezember deutete noch wenig auf die abrupte Wendung in Lauras Schwangerschaft hin. „Ab und zu ging es mir nicht gut.“Ihr Blutdruck war konstant zu hoch, nach Gesprächen mit ihrer Hebamme vereinbarte sie einen Termin mit ihrem Frauenarzt.
Zu dieser Zeit bemerkte sie Wassereinlagerungen in ihrem Körper, auch im Gesicht: „Ich war total aufgedunsen.“Der Frauenarzt schickte sie kurz vor Weihnachten schließlich in das Uniklinikum Augsburg, um die Werte abklären zu lassen, die teilweise bei 170 zu 120 lagen. Bei gesunden Menschen beträgt der Blutdruck durchschnittlich 120 zu 80. Zwei bis drei Tage sollte sie im Krankenhaus bleiben.
„Ich dachte mir nichts dabei und habe gehofft, dass ich vor Weihnachten wieder rauskomme“, erinnert sich Laura. In ihrem Urin wurde jedoch Eiweiß gefunden, ein Hinweis auf eine Schwangerschaftsvergiftung. Weihnachten verbrachte sie mit ihrem Freund, der ihr einen kleinen Christbaum ins Zimmer schmuggelte und wegen der Corona-Regeln des Krankenhauses nur zwei Stunden bei ihr bleiben durfte. Am nächsten Tag verabredete sich das Paar für 14 Uhr. Ihr Freund kam pünktlich ins Krankenhaus – und fand ein leeres Zimmer vor.
Über Nacht hatte sich Lauras Zustand verschlechtert. Sie litt unter Oberbauchschmerzen und innerer Unruhe, übergab sich mehrmals: „Ich habe die ganze Nacht nach den Schwestern geklingelt.“Ihre Blutwerte seien jedoch in Ordnung gewesen. Bei dem Ultraschall sagte ihr der Arzt, dass „es sich nicht mehr um Wochen, sondern nur noch um Tage handelt“, bis das Kind geholt werden müsse.
Ein Bluttest kurze Zeit später offenbarte die lebensbedrohliche Schwangerschaftsvergiftung der 27-Jährigen. Laura litt unter einer schweren Form davon, dem HELLPSyndrom. Bei der Krankheit sind die Gefäße, die das Baby versorgen, verengt. Eine Intensiv-Krankenpflegerin wird später erklären: „Der Körper der Mutter fährt den eigenen Blutdruck hoch, um das Kind zu versorgen. Gewissermaßen entscheidet sich der Körper für das Baby und vergisst sich selbst.“Im schlimmsten Fall sterben beide daran. Die einzige Behandlung ist eine Entbindung. Beim Ultraschall ließ sich das ungefähre Gewicht des Babys abschätzen: 700 Gramm.
Ihr Freund wurde sofort in den Kreißsaal geschickt – und nach einem Namen für das Kind gefragt. „Wir hatten uns noch gar keinen überlegt“, sagt Laura. Nach dem Notkaiserschnitt musste die 27-Jährige einen Tag auf der Intensivstation bleiben. Ihr Kind sah sie erst am nächsten Abend. 684 Gramm schwer, 32 Zentimeter groß, voll beatmet.
Als Krankenschwestern die junge Mutter im Bett zu ihrem Kind fuhren, war Laura überwältigt. „Ich habe erst mal Rotz und Wasser geheult.“Zwei Tage später durfte sie Simon zum ersten Mal in den Arm nehmen. Ihre Stimme klingt belegt, wenn sie davon erzählt: „Ich war so voll mit Emotionen, das kann man gar nicht fassen.“
Der spontane Kaiserschnitt überrumpelte das junge Paar. Heute lacht Laura, wenn sie darüber redet, wie wenig sie und ihr Freund auf das Baby vorbereitet waren. „Wir sind schwuppdiwupp Eltern geworden.“ Nach fünf Tagen im Krankenhaus durfte sie zwar nach Hause, doch es dauerte Wochen, bis sie sich von den Auswirkungen des HELLP-Syndroms erholt hatte. Ob sie sich vor einer zweiten Risikoschwangerschaft fürchtet? „Es kommt selten vor, dass sich das noch mal so entwickelt. Ich habe keine Angst davor.“Im Moment zählt für das Paar Simons Gesundheit.
Wilfried Schenk ist Oberarzt am Universitätsklinikum Augsburg. Er leitet die pädiatrische Intensivmedizin und die Neonatologie, die sich mit der Behandlung von frühgeborenen Babys beschäftigt. Im Jahr nimmt seine Station etwa 70 Neugeborene auf, die unter 1500 Gramm wiegen. Bei Frühchen wie Simon, der in der 28. Woche zur Welt kam, stünden die Überlebenschancen mit bis zu 98 Prozent sehr gut. Das HELLP-Syndrom wirke sich jedoch auf die Entwicklung des Babys aus. Durch die schlechte Versorgung kann es zu Verzögerungen im Wachstum kommen. Kinder, die in der 28. Woche entbunden werden, wiegen im Regelfall etwa 1100 Gramm. Simon wog 684.
Beim HELLPSyndrom könne sich die Situation in wenigen Stunden akut entwickeln. „Das kann auch mitten in der Nacht sein und das Kind muss entbunden werden, sonst ist die Mutter in Gefahr.“In Deutschland gelten alle Babys, die vor der 37. Schwangerschaftswoche auf die Welt kommen, als frühgeboren. Die kleinsten Kinder werden etwa in der 22. Schwangerschaftswoche entbunden – mit entsprechend geringen Überlebenschancen. Ab der 24. Woche stehen sie besser.
Bei allen Frühchen gebe es eine Reihe an Komplikationen, wie Schenk verdeutlicht. Viele bräuchten eine Beatmung oder Atemunterstützung, manche hätten Probleme mit den Augen oder dem MagenDarm-System, alle seien infektionsanfällig. Wie sich die Babys entwickeln, sei nur schwer abzusehen. Etwa bei einem Drittel bildeten sich schwerere oder leichtere Auffälligkeiten, die mit der Frühgeburt zusammenhängen. Doch in seiner Zeit als Frühgeborenenmediziner haben Schenk einige Kinder überrascht: „Manchmal haben sich unreife und kleine Babys als unglaublich widerstandsfähig erwiesen.“
Ihr frühgeborenes Kind zu sehen, erschrecke viele Eltern beim ersten Mal. Wenn sie schwanger sind, hätten sie nicht das Bild von so einem zerbrechlichen Menschen vor Augen, sondern von einem kleinen Wonneproppen, sagt Schenk. „Dieses Bild wird im Augenblick einer Frühgeburt zerstört.“Ein Team von Psychologen und Seelsorgern stehe bereit, um Eltern zu begleiten.
Frühgeburtlichkeit könne durch Krankheiten wie das HELLP-Syndrom ausgelöst werden, aber auch durch Ursachen von außen, von der Mutter oder vom Baby selbst. „Das ist nicht wie ein Verkehrsunfall“, sagt Schenk.
Die erste, bei Frühchen oft kritische Woche nach der Geburt überstand Simon ohne Schwierigkeiten. Wenn die Eltern mit ihrem kleinen Sohn kuscheln, öffnet er mittlerweile die Augen, erzählt Laura. „Er guckt neugierig und quengelt auch, wenn ihm etwas nicht passt.“
Alle zwei Stunden bekommt Simon Muttermilch über eine Magensonde. Diese pumpt Laura jeden Tag ab, alle zwei Stunden. Sie ist froh über die Möglichkeit: „Das sind die einzigen Dinge, die ich ihm im Moment geben kann. Milch und meine Nähe.“
Die Ärzte und Pflegekräfte im Krankenhaus kümmerten sich gut um ihr Baby, sagt Laura. An Neujahr schenkte ihr das Team der Intensivstation ein Bild mit dem winzigen Fußabdruck von Simon, neben seinem Inkubator kleben mehrere „Meilensteine“. Auf einer Karte steht: „Ab heute muss ich nicht mehr beatmet werden.“Darüber schwebt ein grüner Ballon mit der Aufschrift „1015 Gramm“.
Die kleinen Schritte zählen.
„Wenn Simon mit uns kuschelt, wird er ganz ruhig und entspannt sich. Das gibt mir Kraft.“
Laura S. und ihr Freund genießen diese Momente