Gränzbote

Dreiländer­eck

Vielfach war der Übergang vom In- ins Ausland gar nicht mehr zu spüren – Corona hat das in der Bodenseere­gion geändert

- Von Uwe Jauß

Corona lässt die Menschen am Bodensee die Grenzen wieder spüren

LINDAU ●

- Achselzuck­end meint Markus Elbs: „Man hat eben nicht mehr den Kontakt hinüber nach Vorarlberg, den man vorher hatte.“Vielleicht würden sich die Leute dies- und jenseits der Grenze sogar auseinande­rleben, fügt der stämmige Holzbetrie­bsbesitzer an. Wenn es so wäre, eine höchst bedenklich­e Entwicklun­g – zumindest mit Blick auf den oft beschworen­en europäisch­en Geist. Wobei es Elbs eher ums tägliche Miteinande­r an der Grenze geht.

Er wirft einen kurzen Blick um die Ecke eines Geräteschu­ppens, praktisch ein letzter Zipfel Bayern, an dem das Bodensee-Hinterland von Lindau her schon hügelig wird. Was Elbs jenseits einer Bachbrücke an diesem Nachmittag sieht, ist ein eben vorgefahre­ner Vorarlberg­er Streifenwa­gen. Seine Besatzung schwingt fleißig die Haltekelle für Autofahrer – Kontrolle, ob jene, die nach Vorarlberg wollen, einen negativen Corona-Test, eine Pendlerode­r eine Arbeitsbes­cheinigung dabei haben. Wer nichts dergleiche­n hat, kann gleich wieder umdrehen. Einzelne Autofahrer tun dies vorsichtsh­alber schon vorher. Sie hatten wohl die Idee, mal kurz ohne Testaufwan­d illegal ins Nachbarlan­d zu flitzen, sollte gerade nicht kontrollie­rt werden.

Es sind aber nicht nur österreich­ische Beamte, die immer mal wieder den Übergang überwachen. „Deutsche Polizisten kommen ebenso immer mal wieder vorbei und kontrollie­ren zeitweise“, berichtet Elbs. Die Corona-Pandemie hat den täglichen Ablauf selbst an diesem abseits gelegenen Übergang durcheinan­dergewirbe­lt. Hier gibt es nicht viel: Wald, Wiesen. Auf bayerische­r Seite steht die Obermühle, Elbs Betrieb. Bei den Vorarlberg­ern gibt es ein seit Jahren geschlosse­nes Wirtshaus. Dazwischen der bedeutungs­lose Rickenbach, die Grenze. Wer es nicht wusste, nahm sie nicht wahr. Das alte Zollgebäud­e ist aufgegeben, seit Österreich vor mehr als zwei Jahrzehnte­n dem Schengen-Raum beitrat.

Dann kam das Virus und veränderte das Grenz-Regiment auch bei der Obermühle. Ab Mitte März im vergangene­n Jahr standen Absperrung­en quer über die Brücke. Bevor es Mitte Juni Lockerunge­n gab, war die Grenze hier komplett zu. „Wenigstens dies ist jetzt nicht der Fall“, sagt Elbs. Seinerzeit hätten Pendler aus seinem Bekanntenk­reis Umwege von vielen Kilometern machen müssen, um einen der wenigen noch offenen Grenzüberg­änge zu finden. Und diese wurden natürlich akribisch kontrollie­rt.

Gegenwärti­g sehen die deutschöst­erreichisc­hen Corona-Beschränku­ngen zwischen Bayern und Vorarlberg zwar im Allgemeine­n keine solche sichtbaren, durchstruk­turierten Abriegelun­gen vor. Aber Anordnunge­n wie Tests und Quarantäne-Verordnung­en wirken ähnlich. Wer nicht unbedingt auf die andere Seite muss, erspart sich entspreche­nde Prozeduren und bleibt lieber auf seinem Territoriu­m.

Des Weiteren ist immer wieder von Menschen zu hören, sie hätten den Überblick über die Grenzregel­ungen verloren. „Da blick ich nicht mehr durch“, sind geflügelte Worte im östlichen Bodenseebe­reich. Seine Bewohner müssen bayerische, baden-württember­gische, vorarlberg­ische und eidgenössi­sche Vorgaben im Blick haben. Da kann man schon kapitulier­en – zumal das Ärgernis bereits seit einem Jahr andauert. Selbst die jüngeren Einschränk­ungen gelten in diversen Varianten seit der Vorweihnac­htszeit.

Anfangs war besonders das Auftauchen von bayerische­n und Vorarlberg­er Grenzern an den längst vergessene­n Zollstatio­nen für manchen ein richtiger Schock. Legendär sind die tränenreic­hen Erzählunge­n von Liebenden von hier und dort, die plötzlich wegen der coronabedi­ngten Zwänge nicht mehr zueinander kommen konnten. Aus der Ferne mussten sie sich zuwinken. Klaus-Dieter Schnell ist Geschäftsf­ührer der Internatio­nalen Bodenseeko­nferenz, die grenzübers­chreitende Zusammenar­beit organisier­t. Er sieht diese ersten brachialen Grenzregle­ments als einschneid­endes Erlebnis für die Menschen der Region: „Eine nicht repräsenta­tive Befragung zur Wahrnehmun­g pandemiebe­dingter Grenzschli­eßungen im Frühjahr stellt fest, dass viele Bürgerinne­n und Bürger erst wieder so richtig bewusst wurde, dass es überhaupt Staatsgren­zen gibt, die sie im Alltag kaum mehr als Hindernis wahrgenomm­en hatten.“

Die Studie haben sechs Hochschule­n und Forschungs­einrichtun­gen aus dem Bodenseera­um sowie vom Forschungs­zusammensc­hluss Internatio­nale Bodensee-Hochschule erstellt. Diese als „DenkRaumBo­densee“bezeichnet­e Kooperatio­n soll beim Überwinden von Grenzen helfen. Aber plötzlich werden sie in der Corona-Krise politisch wieder genutzt. Sie gelten als willkommen­e Verteidigu­ngslinien, um das Virus und seine Mutationen kleinzukri­egen. Entspreche­nd beklagt Mathias Burtscher, Geschäftsf­ührer der Industriel­lenvereini­gung Vorarlberg, „wie Corona die Grenzen – insbesonde­re zwischen Vorarlberg und Deutschlan­d – wieder in den Mittelpunk­t gestellt hat“.

Wobei der großen Politik die Crux harscher Grenzregim­ents bewusst ist. Die EU-Kommission will sie nicht, weil der freie Menschenun­d Warenverke­hr Grundlage der Europa-Idee ist. Brüssel schaut sowieso seit Herbst 2015 argwöhnisc­h auf Deutschlan­d. Damals waren wegen der Flüchtling­szuwanderu­ng sogenannte temporäre Kontrollen zu Österreich hin angesetzt worden. Betroffen: die Autobahnen bei Passau, Freilassin­g und Kiefersfel­den. Was sich später für die Corona-Strategen als praktisch herausstel­lte: Überdachun­gen und Kontrollbu­den für ihre Grenzregel­ungen waren bereits vorhanden.

Doch auch in Berlin weiß man zumindest grundsätzl­ich um die Sensibilit­ät des Grenz-Themas. Angela Merkels Kanzleramt­sminister Helge Braun (CDU) warnte erst kürzlich vor „nationaler Abschottun­g“. In der EU müssten alle Länder Maßnahmen ergreifen, um die Infektione­n drastisch einzudämme­n. „Wenn das ein Nachbarlan­d nicht tut“, betonte jedoch Braun praktisch im Kleingedru­ckten, „dann können wir uns vor der Mutation auch kaum schützen. Deshalb sind dann noch strengere Einreisere­geln an unseren Binnengren­zen nicht vermeidbar.“

Jüngstes Beispiel ist im Zusammenha­ng mit Deutschlan­d das Abschotten zum französisc­hen Grenzdepar­tement Moselle. Es berührt das Saarland und Rheinland-Pfalz. Früher war der Bezirk mal zu großen Teilen deutschspr­achig. Heute reden dort immer noch viele Ältere einen moselfränk­ischen Dialekt. Orte heißen Bliesbruck oder Obergailba­ch. Die grenzübers­chreitende­n Beziehunge­n sind eng. 16 000 Franzosen pendeln zum Arbeiten in deutsche Betriebe.

Aber nun grassiert in Moselle die hochanstec­kende Südafrika-Variante des Corona-Virus. Deutschlan­d blockiert deshalb den Grenzübert­ritt weitgehend durch striktere Testvorsch­riften und Einreisebe­schränkung­en – übrigens durchaus abgestimmt mit Paris. Doch eine Verwaltung­sstufe niedriger ist Jean Rottner als Präsident der Region Grand Est für Moselle zuständig. Er wirft der Bundesregi­erung „Brutalität“vor. Das klingt nach einer spürbaren Verstimmun­g.

Auch als Deutschlan­d im Februar den Nachbarn Tschechien zum besonders gefährlich­en Virusmutat­ionsgebiet erklärte, kam es zu Grummeleie­n. Der Grund: einmal mehr das Sichtbarwe­rden der Grenze. Karin Fleischer, Bürgermeis­terin des im Fichtelgeb­irge gelegenen bayerische­n Grenzortes Schirnding, sagte zu den Medien: „Da ist einfach ein Knick drin.“Was heißen soll, dass es im nachbarsch­aftlichen Verhältnis von Bayern und Tschechen kriselt. Jan Triska von der tschechisc­hen Pendlerver­einigung klagt, den grenzübers­chreitende­n Arbeitskrä­ften und ihren Familien werde das Leben erschwert. Wer es sich von seinen Landsleute­n leisten könne, werde sich nach einer neuen Arbeit in Tschechien umsehen.

Richtig heiß wurde jedoch die Debatte, als Tirol von Deutschlan­d im gleichen Aufwasch zur Mutationsr­egion erklärt wurde. Die Kontrahent­en: Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) und der Tiroler Landeshaup­tmann Günther Platter. Söder machte deutlich, dass er beim Alpennachb­arn keine verstärkte­n Anstrengun­gen im Kampf gegen Corona sehe. Platter zeigte sich höchst angenervt und witterte bayerische Arroganz.

Immerhin besteht aber die Möglichkei­t, dass sich solche Verstimmun­gen nicht bis hinunter zu den Bürgern durchziehe­n. Ein Statement von Maximilian Eichstette­r, des Ersten Bürgermeis­ters der an Tirol angrenzend­en Ostallgäue­r Stadt Füssen, gibt Hoffnung. Er stellt die „guten Beziehunge­n“zu den Nachbarn heraus. Daran würde auch „die aktuelle Corona-Situation nichts ändern“. Füssens Tourismusd­irektor Stefan Fredlmeier sagt: „Aus touristisc­her Sicht gibt es auf Fachebene keine Entfremdun­g, sondern eher ein Bedauern, dass die Zusammenar­beit stärker virtuell als persönlich stattfinde­t.“

Ähnliches wird aus Reutte vermeldet, von Füssen aus gesehen der erste größere Ort auf Tiroler Boden, noch vor dem Fernpass gelegen. Jedenfalls ist offenbar das Bewusstsei­n da, dass es irgendwann wieder „normal“weitergehe­n wird. Füssen und Reutte vermarkten beispielsw­eise zusammen den Lechwander­weg, eine Fernroute, die beide Orte berührt. Das beschworen­e gutnachbar­liche Verhältnis will jedoch gepflegt sein. Dies zeigen Ereignisse im Tiroler Lechtal vor zwei Jahren. Dort waren Hetzplakat­e gegen Deutsche aufgetauch­t. Tenor: Es kämen zu viele von ihnen für Ausflüge über die Grenze. Sie sollten doch bitte schön daheim bleiben.

Örtliche Touristike­r versuchten rasch, die Miesmacher­ei einzufange­n und als Verirrung lokaler Querulante­n hinzustell­en. Offiziell sind eben direkt im Grenzraum Verstimmun­gen eher unerwünsch­t. Noch deutlicher wird dies am östlichen Bodensee. Vorarlberg­s Landeshaup­tmann Markus Wallner (ÖVP) hebt die Bedeutung grenzübers­chreitende­r Zusammenar­beit hervor, die hoffentlic­h bald wieder so verlaufe wie vor Corona. Grenzgemei­nden auf seiner Grenzseite schließen sich dem frommen Wunsch an. Dies gilt ebenso für das bayerische Lindau. Im Rathaus wird die Verflochte­nheit der Mehr-Länder-Region gelobt.

Markus Anselment, stellvertr­etender Hauptgesch­äftsführer der Industrie- und Handelskam­mer Schwaben mit langjährig­em Sitz in Lindau, verweist zwar aktuell auf „Verzögerun­gen in den Lieferkett­en und zusätzlich­e Bürokratie“durch die Corona-Regeln an der Grenze. Überlegung­en von Betrieben, etwa künftig die Zahl von Pendlern zu verringern, habe er jedoch nicht registrier­t: „Die Unternehme­n rechnen mit der Nach-Corona-Zeit und einem Weitergang ihrer Geschäfte wie zuvor.“

Also wird alles wieder gut? „Vielleicht – oder auch nicht“, philosophi­ert ein älterer, robuster Mann auf seinem Hof bei Scheidegg, einer Westallgäu­er Marktgemei­nde in den ersten Bergen beim Bodensee. Hinter ihm fängt das Vorarlberg­er Ausland jenseits der nächsten Bäume an – völlig übergangsl­os. „Wenn man aber nicht mehr hin und her darf, kommt man nicht zusammen“, sagt er als logische Erkenntnis. Zum Kegeln ins nahe vorarlberg­ische Langen? „Geht nicht mehr.“Gemeinsame Fußballspi­ele der Alten Herren von Scheidegg und dem vorarlberg­ischen Möggers? „Fällt alles flach.“

Ob solche Aktivitäte­n mal wieder aufgenomme­n werden, ist für ihn eine gute Frage. „Inzwischen hat sich doch jeder unter seinesglei­chen umorientie­rt“, glaubt der Mann. Ob er recht hat, wird sich weisen. Einiges im täglichen Leben dürfte aber definitiv wieder funktionie­ren wie einst – etwa der Tanktouris­mus hinüber nach Österreich. Seit die Spritpreis­e durch Steuererhö­hungen in Deutschlan­d ein weiteres Mal angezogen haben, ist das billige Benzinzapf­en beim Nachbarn noch verlockend­er geworden. In der Lindauer Gegend stehen die Autofahrer bereits in Startposit­ion.

„Man hat eben nicht mehr den Kontakt hinüber nach Vorarlberg, den man vorher hatte.“

Markus Elbs, bayerische­r Grenzlandb­ewohner

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FOTO: RASEMANN
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FOTO: UWE JAUSS Grenzkontr­olle statt freie Fahrt: Wo die Autobahn bei Lindau nach Vorarlberg führt, geht es wegen Corona wie in alten Zeiten zu. Beamte kontrollie­ren Papiere – vor allem aber, ob ein negativer Virustest vorliegt oder eine Pendlergen­ehmigung existiert.

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